Erzählungen, Literatur, Roman

Han Kangs Prosa ist intensiv und poetisch

Han Kang Ill. Niklas Elmehed | © Nobel Prize Outreach

Die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang wird mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet, weil sie in ihrem Werk »die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens aufzeigt«. Damit geht der Preis zum ersten Mal überhaupt nach Südkorea. Die Autorin des Weltbestsellers »Die Vegetarierin« ist die achtzehnte Frau, die den Preis erhält.

Als erste südkoreanische Schriftstellerin erhält Han Kang den Nobelpreis für Literatur. Sie erhält den bedeutendsten Literaturpreis der Welt für ihre »intensive poetische Prosa, die sich mit historischen Traumata auseinandersetzt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens aufzeigt«, wie es in der Begründung der Schwedischen Akademie heißt.

Kang folgt damit dem norwegischen Autor Jon Fosse, der im vergangenen Jahr den Preis erhielt. Als achtzehnte Frau unter den 121 ausgezeichneten Schriftsteller:innen folgt sie Autorinnen wie Annie Ernaux, Louise Glück, Olga Tokarczuk oder Swetlana Alexijewitsch. Nach den Japanern Yasunari Kawabata (1968) und Kenzaburō Ōe (1994), dem Chinesen Mo Yan (2012) und dem in Japan geborenen Briten Katzuhiro Ishiguro ist sie erst die fünfte Preisträger:in, die auf dem asiatischen Kontinent geboren ist.

Die 53-jährige Han Kang schreibt seit über 30 Jahren Prosa. Dass ihr facettenreiches Werk auch hierzulande bekannt ist, ist im Wesentlichen der akribischen Übersetzungsarbeit von Ki-Hyang Lee zu verdanken. Ausgangspunkt der eindrucksvollen Karriere der in Seoul lebenden Schriftstellerin sind eine Handvoll Gedichte und Kurzgeschichten. Ihre literarische Karriere begann 1993 mit der Veröffentlichung von fünf Gedichten in der koreanischen Zeitschrift »Literatur und Gesellschaft«. Ein Jahr später wurde sie für ihre Kurzgeschichte »Bulgeun dat« (dt. »Rotes Segel«) erstmalig mit einem Literaturpreis ausgezeichnet. 1995 erschien ihr erster Erzählband »Yeosu-ui Sarang« (dt. »Liebe in Yeosu«), auf den zahlreiche weitere folgten.

Mit der Kurzgeschichte »Die Früchte meiner Frau«, 2005 in der inzwischen vergriffenen Anthologie »Koreanische Erzählungen« erschienen, macht Han Kang hierzulande erstmals literarisch auf sich auferksam. In ihrer Heimat ist sie da schon eine etablierte Autorin. Ihr weltweit erfolgreichstes Buch »Die Vegetarierin« erschien bereits zwei Jahre in Südkorea, es brauchte fast zehn Jahre, bis es dieser umwerfende Roman in den Westen schaffte. 2016 wurde die englische Übersetzung von Deborah Smith mit dem Booker International Prize ausgezeichnet. Die Auszeichnung der Übersetzung lief nicht ohne Nebengeräusche ab, in der New York Review of Books echauffierte sich Tim Parks über sprachliche und stilistische Unstimmigkeiten (einen vertieften Einblick in die Debatte und Vergleiche mit der deutschen Übersetzung liefert Julia Rosche bei Tralalit). Dem Erfolg des Romans konnte das kein Abbruch tun.

Der Weltbestseller von Han Kang

In diesem kafkaesken Roman erzählt sie die Geschichte der jungen Hausfrau Yeong-hye, die nach einem Traum plötzlich aufhört, Fleisch zu essen. In der südkoreanischen Gesellschaft ist das schon ein Affront, der die junge Frau zu einer Fremden im eigenen Land macht. Doch die stört sich nicht daran, sondern geht noch weiter. In dem Begehr, sich vom Menschen in eine Pflanze zu verwandeln, beginnt sie, sich auf der Straße zu entblößen. Das kleinbürgerliche Leben der Hausfrau und ihrem Mann, der die Geschichte erzählt, läuft völlig aus dem Ruder, während Yeong-hye Stück für Stück die Welt verlässt. Kang berührt in dem Roman so viele grundsätzlichen Themen, dass sie eine riesige internationale Leserschaft fand, womit sie nie gerechnet hat, wie sie im Booker Prize-Interview einräumte.

Die deutsche Übersetzung dieses gleichermaßen faszinierenden wie verstörenden Werks von Ki-Hyang Lee erschien ebenfalls erst 2016 und schaffte es 2017 auf die Shortlist für den Internationalen Literaturpreis. Seit dem Erscheinen von »Die Vegetarierin« in der Übersetzung von Ki-Hyang Lee (die im Frühjahr für ihre Übersetzung des Erzählbandes »Der Fluch des Hasen« den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt) hat Han Kangs Prosa einen festen Platz in der hiesigen Literaturwelt. Vier weitere Romane sind danach erschienen.

Das Werk von Han Kang in deutscher Übersetzung

Das Zeugnis ablegendes Epos »Menschenwerk«, ebenfalls von Lee übersetzt, erzählt die Geschichte von einem Studentenaufstand, der 1980 in ihrer Geburtsstadt Gwangju brutal niedergeschlagen wurde. Man kann, nein, man muss diesen Roman auch als Appell gegen die Gewalt in der Welt lesen. Im Mittelpunkt steht nämlich nicht der Gewaltausbruch als solcher, sondern das, was er hinterlässt. Es geht um den dunklen Abgrund, in den alle schauen müssen, um die hässlichen Narben, die niemals verheilen, und die vergifteten Erinnerungen, die über jeder Gegenwart nach einer Eruption der Gewalt liegen.

In Südkorea waren die Ereignisse um das Massaker, mit dem der Aufstand gewaltsam beendet wurde, ein tabu, Han Kangs Vater soll aber Fotos davon aufbewahrt haben. Dem ZEIT-Journalisten Volker Weidermann erklärte die Südkoreanerin, dass der Anblick dieser Fotos eine Art Urszene für ihr Schreiben darstellte: »Ich erinnere mich genau an den Moment, als ich das entstellte Gesicht eines kleinen Mädchens sah. Es war durch ein Bajonett schlimm zugerichtet worden. In diesem Augenblick zerbrach etwas in mir, etwas Zartes, von dem ich gar nicht wusste, dass es da gewesen war.«

Den Frauen und ihrem Leid gilt daher ihr besonderes Interesse. »Ihre physische Empathie für die verletzlichen, oft weiblichen Leben ist spürbar und wird durch ihre metaphorisch aufgeladene Prosa noch verstärkt«, erklärte Anders Olsson aus der Jury für die Schwedische Akademie. Kangs Prosa ist den Traumata gewidmet, die insbesondere Frauen in der patriarchalen Gesellschaft Koreas erfahren. Dabei gelingt es ihr auf faszinierende, magisch-realistische Weise, die Wunden, Narben und Schmerzen ihrer Protagonistinnen in universelle Kontexte zu rücken, so dass sie in ihrer fatalen Wirkung verstörend vertraut erscheinen.

In dem Roman »Deine kalten Hände«, als einziger von Kyong-Hae Flügel übersetzt, geht es um die Einsamkeit, die der Verlust eines geliebten Menschen sowie die von ihm erzählenden Relikte verursachen. Der 2020 erschienene und von Lee übertragene Roman »Weiß« gilt als Kangs persönlichstes Buch. Es ist auch der letzte Roman, den sie verfasst hat, 2016 ist er im Original erschienen. Wenngleich Roman hier keine einfache Kategorie ist, in kurzen Notizen und Assoziationen wird hier vom Trauern und Erinnern erzählt. Der Schnee in einer europäischen Stadt löst dabei einen Gedankenstrom aus, der die Erzählerin zurück in ihre Kindheit führt, als ihre neugeborene Schwester in den Armen der Mutter starb. Im weißen Schnee tauchen plötzlich Erinnerungen an das Weiß der Muttermilch, der Windeln und der weißen Haut des kleinen Mädchens auf, dessen schmerzhafter Verlust sich in jede Zelle der Erzählerin eingebrannt hat. Dieses elegische Memoir wurde im britischen Guardian auch als »säkulares Gebetsbuch« bezeichnet.

Die deutschen Übersetzungen von Ki-Hyang Lee von Han Kangs Romanen »Die Vegetarierin« und »Griechischstunden« | © Thomas Hummitzsch
Die deutschen Übersetzungen von Ki-Hyang Lee von Han Kangs Romanen »Die Vegetarierin« und »Griechischstunden« | © Thomas Hummitzsch

Im Frühjahr ist Ki-Hyang Lees Übertragung des fünf Jahre älteren Romans »Griechischstunden« erschienen, eine Liebesgeschichte zwischen einer wenig erfolgreichen Schriftstellerin und ihrem Altgriechischlehrer. Das besondere an dieser Verbindung ist: er ist fast blind, sie hat ihre Sprache verloren, Kommunikation ist also schwierig. Die Anziehung zwischen beiden ist kaum auszumachen, langsam entfaltet sie sich und entwickelt in ihrer Stille ihre anziehende Kraft. »Griechischstunden« ist eine sanfte Meditation über Verlust, Intimität und die ultimativen Bedingungen der menschlichen Begegnung. Die Spannung, die gleichermaßen innerhalb und außerhalb der Worte und Blicke zwischen diesen beiden Menschen entsteht – er redet, sie betrachtet ihn dabei –, hat in ihrem vorsichtigen Tasten etwas unheimlich Konkretes, etwa wenn es da in der überaus gelungenen deutschen Übertragung heißt: »Mit geschlossenen Augen reibt er seine Wange an ihrer, auf der Suche nach der zartesten Stelle.«

Han Kang gehörte in den vergangenen Jahren immer zum erweiterten Kreis der favorisierten Nobelpreis-Kandidat:innen. Zu den hohen Favorit:innen gehörte sie nie. In diesem Jahr führten die Wettbüros die chinesische Schriftstellerin Can Xue, deren Romane hier von Karin Betz übersetzt werden, der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu, dessen Werk Ernest Wichner überträgt, sowie der argentinische Autor César Aira, dessen genreübergreifendes Werk in der Übersetzung von Klaus Laabs und Christian Hansen vorliegt, als aussichtsreichste Kandidat:innen.

Han Kangs gleichermaßen poetische wie experimentelle Prosa besticht in der Verbindung von Körper und Seele. Leben und Tod kommen hier in einer universellen Form zusammen und formen das, was die menschliche Existenz in ihrer Fragilität ausmacht. Dabei zeigt sich die Sprache selbst als empfindsam, zart und zerbrechlich. Dass diese auf die leisen Töne setzende Prosa in einer lärmenden Welt den Nobelpreis für Literatur erhält, kann nicht hoch genug geschätzt werden.

Nachtrag: Die Programmleiterin der Aufbau-Verlage Friederike Schilbach ergänzte am Abend: »Han Kang gelingt es, die gewaltigsten Themen durch ihre poetische Sprache erzählbar zu machen. Das Zärtliche verbindet sie mit dem Revolutionären und schafft so Literatur, die nur sie so schreiben kann.« Der Verlag kündigte in seiner Pressemeldung zudem an, dass in Kürze mit »Unmöglicher Abschied« ein neuer Roman von Han Kang erscheinen soll.

1 Kommentare

  1. […] Die 1967 in Seoul geborene Ki-Hyang Lee studierte Germanistik, Pädagogik und Japanologie in Seoul, Würzburg und München. Zu den zahlreichen Übersetzungen der in München lebenden Übersetzerin zählt u.a. das Werk der aktuellen Literaturnobelpreisträgerin Han Kang. […]

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