Die globale Linke hat nur noch wenig für das einstige linke Vorzeigeprojekt Israel übrig. Der Gegenwartskritiker Jens Balzer ist sich sicher, dass sich die radikalen Teile der postkolonialen und queerfeministischen Kreise in den binären Weltbildern verrannt haben, gegen die sie einst angetreten sind.
Es waren und sind grausame Bilder, die seit einem Jahr aus dem Nahen Osten kommen. Dem skrupellosen Morden der Hamas folgte ein Militäreinsatz, der jegliche Verhältnismäßigkeit verloren hat; wenngleich man berechtigt die Frage stellen könnte, wo genau man hier ein Maß anlegen sollte. Aber wer ein Herz in seiner Brust trägt, dem ist es am 7. Oktober 2023 und – angesichts des Leids der jüdischen Opfer und Geiseln sowie ihrer Angehörigen einerseits und der palästinensischen Opger in der Zivilbevölkerung und ihrer Angehörigen andererseits – an jedem Tag danach gebrochen.
Umso verstörender ist es, zu beobachten, dass sich die global organisierte Linke, die moralische Argumente nicht scheut, in dem Konflikt in einer Art positioniert, dass man sich die Augen reiben muss. Da gelten Terrororganisationen wie die Hamas oder die Hisbollah vielerorts als antikoloniale Befreiungsbewegung und die so genannte Achse des Bösen wird als emanzipative Kraft in einem Kampf Gut gegen Böse gefeiert.
Wie sich die postkoloniale und queerfeministische Linke in solche teils israelfeindlichen, teils antisemitischen Tropen verlieben und wie sie diese wieder loswerden könnte, zeigt der Publizist Jens Balzer in seinem dichten Essay »After Woke« auf. Ausgangspunkt seiner Inventur der linken Bewegung war eben jener Beifall, den der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 in diesen Kreisen erhielt. Dass ausgerechnet die fundamentalistische Hamas, die homosexuelle Menschen und Frauen gewaltsam unterdrückt sowie Andersdenkende und Regimegegner öffentlich hinrichtet, von der postkolonialen und queerfeministischen Bubble bejubelt wurden, ist für Balzer eine «moralische Bankrotterklärung» für die selbsternannten Verfechter der politischen Emanzipation.
Die so genannte woke Bewegung habe sich in einer Ideologie verrannt, schreibt Balzer, in der die Achtsamkeit für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen abgelöst worden ist von einer blindwütigen Glaubenslehre, die die Welt in dämonische Unterdrücker und tapfere Unterdrückte, in fremde Kolonialisten und authentische Indigene unterteilt. In diesem binären Schema werde längst auch der Nahostkonflikt verhandelt.
»Der Kampf der Palästinenser*innen gegen den israelischen Staat wird so zu einem exemplarischen, symbolisch hoch aufgeladenen Kampf eines indigenen, «authentischen», «unentfremdeten» Volks gegen eine unauthentische, von der Natur entfremdete kolonialistische Macht umgedeutet.«
Ähnlich hatte das die israelische Soziologin Eva Illouz im Gespräch mit dem Freitag gesagt. Der Diskurs über Israel und und das Verhältnis zwischen Israelis und den Palästinensern sei nach dem 7. Oktobers »noch viel extremer. Weil das Massaker am 7. Oktober so grauenhaft war, sieht ein Teil der progressiven Linken darin einen Beweis, dass das Leiden der Palästinenser*innen zuvor im gleichen Maße grauenhaft war. Dieser Diskurs spielt sich in einer moralischen und begrifflichen Welt ab, in der Israel a priori schuld ist. Es gibt da nicht einmal die Bereitschaft, die Lage im Detail zu verstehen. Denn Israel wird als koloniale Macht und die Palästinenser werden als indigene Bevölkerung gesehen, und weil die Indigenen – in diesem Weltbild – als moralisch höhergestellt gelten, ist das moralisch gesehen kein krieg, der gewonnen werden kann.«
Jens Balzer und die Pop-Geschichte
In dieser dogmatischen Auslegung sei etwas verlorengegangen, dass für Balzer die begrüßenswerten Aspekte des linkspolitischen Engagements auszeichnet: »die Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstreflexion, zur Selbstbefragung darauf, ob der eigene Blick auf die Welt diese in ihrer Komplexität zu erfassen vermag oder ob man nicht an manchen Stellen selber wieder auf das einfache Schema aus Schwarz und Weiß verfällt, das man doch eigentlich angetreten war zu überwinden.«
Den meisten ist Jens Balzer als Analytiker der Pop-Geschichte und ihrer kulturellen Phänomene bekannt. Dabei hat er sich längst auch einen Namen als ebenso wacher wie umsichtiger Gegenwartskritiker gemacht. Seine Kritik »After Woke« ist ein Jahr nach dem Überfall der Hamas das Buch der Stunde, weil es die selbstgerechte Attitüde der linksextremen Pro-Palästina-Protestler entlarvt. Dabei dämonisiert Balzer keineswegs eine pro-palästinensische Haltung, ganz im Gegenteil. Er zeigt sich keineswegs empathielos den palästinensischen Schmerzen gegenüber, für Menschlichkeit brauche es nur auch den empathischen Blick auf die andere Seite und deren Komplexität.
Denn die Verschiebung der Debatte in ein schlichtes Schwarz-Weiß-Schema macht blind – einerseits für die Komplexität der Lebenswelt im Nahen Osten und andererseits für die identitätspolitische Einschränkung des eigenen Blicks.
Wie schon der Kultursoziologe Bernd Stegemann in seinem Essay »Identitätspolitik« gezeigt hat, führt die identitätspolitische Analyse zu doppelten Standards, denen zufolge für das eigene (gute) Wir andere Regeln gelten als für das andere (böse) Wir.
»Das entscheidende Problem entsteht daraus, dass eine postkoloniale Gesellschaft den einen Gegner »Kolonialmacht« kennt, von dem sie sich sowohl militärisch als auch mental befreien will, während es in einer ausdifferenzierten Gesellschaft den einen Gegner nicht gibt, da viele Bruchlinien die Kämpfe um Anerkennung durchziehen. Wird der strategische Essentialismus hier eingesetzt, muss er seine Eindeutigkeit in einer Realität durchsetzen, in der es vielfältige Differenzen gibt. Die Pluralität der Identitäten führt zu einer Überaffirmation der eigenen Identität.«
Man könnte nun die postkoloniale und queerfeministische Linke abschreiben, aber genau das tut Balzer nicht. Mit Denker:innen wie Cornel West oder Stuart Hall macht er sich an eine Ehrenrettung der linken Ideen, weil er es immer noch richtig findet, »sein Verhalten, seine Sprache auf rassistische Stereotype zu überprüfen – auch wenn die Priester:innen des antirassistischen und postkolonialen Wahrheitsregimes sich gerade als Heuchler:innen, als Protagonist*innen eines selektiven Humanismus entlarvt haben«.
So wie Habermas »mit Heidegger gegen Heidigger« argumentierte, müsse man jetzt »die Wokeness gegen die Wokeness denken«, so Balzer. Man müsse die Verpanzerung in den fundamentalistischen Teilen der Linken aufbrechen und die Achtsamkeit zurück in die postkolonialen und queerfeministischen Debatten holen, fordert der Kulturkritiker. Die Kritik an den selbsternannten politischen, religiösen und ideologischen Autoritäten müsse auch für die aktivistischen, politischen, wissenschaftlichen und ideologischen Teile der Linken gelten, die die Wahrheit für sich gepachtet haben und sich in einem universellen Kampf von Gut gegen Böse wähnen. Die eigene Neigung zur Affirmation binärer Logiken sollte allen kritischen Geistern Anlass genug geben, die eigenen ideologischen Mauern im Kopf niederzureißen und sich anderen emanzipativen Perspektiven zu öffnen.
Man könnte auch mit Bezug auf einen älteren Essay von Balzer sagen, der globalen Linken täte eine »Ethik der Appropriation« gut, die sich auch für andere als die eigenen kulturellen Werte interessiert. Eine Ethik, »die das Fremde im Eigenen freudig umarmt – und der die Solidarität im Diversen wichtiger ist als der Kampf aller gegen alle.«
[…] Die Verpanzerung aufbrechen […]