Anderthalb Jahre nach dem 7. Oktober ist noch immer kein Ende des Gazakriegs in Sicht. Die ungebremste Gewalt wirft abgründige Fragen auf: nach der langen Vorgeschichte des Konflikts. Aber auch nach der Rolle des Westens. Neue Sachbücher, die ich für das Schweizer Republik-Magazin gelesen habe, richten den Blick darauf.
Der Satz »Haben wir aus dem Holocaust nichts gelernt« kann in Deutschland strafbar sein. Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten hat im April eine Studierende, die bei einer Demonstration gegen den Krieg in Gaza ein Schild mit dieser Aufschrift hochgehalten hat, wegen Verharmlosung des Holocaust zu einer Geldstrafe von 1.600 Euro verurteilt (Az. 227Cs 1077/24). Der deutsch-jüdische Journalist Ronen Steinke machte auf das noch nicht rechtskräftige Urteil aufmerksam. Aufgrund des »offenkundigen Ungleichgewichts« zwischen »Ausmaß und Folgen der Unterdrückung« von Juden im Holocaust und palästinensischer Menschen im Gazastreifen würde eine Verwendung des inkriminierten Satzes im Kontext des Gaza-Krieges die Botschaft aussenden, dass der Holocaust nicht so schlimm gewesen wäre, so die Anklage.
Neben dem Urteil als solches hallt vor allem die Formulierung »nicht so schlimm« nach. Hier wird juristisch ein Wettbewerb ausgerufen, welche Hölle auf Erden die schlimmere ist. Die Annahme, dass der inkriminierte Satz einen Vergleich aufmache, haben Anklage und Richter ebenfalls exklusiv. Wie auch die Weigerung, in dem Vorgehen der israelischen Regierung ein genozidales Vorgehen zu erkennen.
Dabei liegen die Fakten auf dem Tisch. Dem Massaker vom 7. Oktober 2023, bei dem palästinensische Terroristen in Israel mehr als 1.200 jüdische Kibbuzim auf denkbar grausamste Weise ermordet und über 250 Menschen entführt haben, stehen inzwischen über 50.000 getötete Palästinenser:innen im Gaza-Streifen gegenüber, davon etwa 18.000 Kinder. Seit Beginn der israelischen Militäroffensive im Gazastreifen, der vorgeblich der Zerstörung der Hamas gilt, kam es wiederholt zur gewaltsamen Vertreibung von hunderttausenden Menschen sowie zur Blockade lebenswichtiger Hilfsgüter. Über 120 palästinensische Journalist:innen sind im Gaza-Krieg ums Leben gekommen, nahezu alle Krankenhäuser im Gazastreifen wurden zerstört oder mindestens schwer beschädigt. Lebensrettende Operationen und Amputationen müssen zum Teil ohne Narkose durchgeführt werden.
Aktuelle Bücher zum Nahost-Konflikt






Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag hat bereits im November 2024 Haftbefehle gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, den ehemaligen israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant erlassen. Ihnen werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen.
Seit dem Ende des letzten Waffenstillstands Anfang März haben Israels Streitkräfte erneut sämtliche Zugänge zum Gaza-Streifen gesperrt, so dass keinerlei Hilfsgüter in die nahezu vollkommen zerstörte Region geliefert werden können. Amnesty International sieht in der erneuten Abriegelung des Gazastreifens einen «weiteren Beweis für Israels völkermörderische Absichten». Zahlreiche UN-Hilfsorganisationen haben vor einer erneuten humanitären Krise gewarnt und die internationale Gemeinschaft aufgerufen, die Einhaltung der Grundprinzipien des Völkerrechts in Gaza zu gewährleisten. »Der Gazastreifen hat sich in ein Massengrab für Palästinenser*innen und jene, die ihnen helfen, verwandelt. Wir erleben in Echtzeit die Zerstörung und Vertreibung der gesamten Bevölkerung in Gaza«, sagte Mitte April die Nothilfekoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen in Gaza, Amande Bazerolle. Das Internationale Rote Kreuz warnte Anfang Mai vor dem völligen Zusammenbruch der humanitären Hilfe.
Inzwischen haben auch mehrere Staaten Konsequenzen angedroht, sollte Israel seinen Militäreinsatz nicht abbrechen und humanitäre Hilfe im notwendigen Umfang ins Land lassen. In der Europäischen Union wird die Aussetzung des Assoziierungsabkommens diskutiert.
Für das Schweizer Republik-Magazin habe ich in den letzten Wochen mehr als ein halbes Dutzend Bücher gelesen, die alle auf ihre Weise belegen, dass der Gaza-Krieg ohne Rückgriff auf die historischen Wurzeln weder zu verstehen noch einzuordnen ist. Die politischen Entwicklungen wirkten sich auch unmittelbar auf die Lektüre aus. Es war angesichts der schrecklichen Bilder aus der Region nicht immer einfach, sich sachlich und nüchtern mit diesem Konflikt auseinanderzusetzen.
Die Bücher von Muriel Asseburg, José Brunner, Omer Bartov, Oren Kessler, Pankaj Mishra und Omar El-Akkad setzen unterschiedliche Schwerpunkte. Omer Bartov und Oren Kessler tauchen tief in die Geschichte Palästinas ein und zeichnen die zionistische Ideologie vor und nach der Staatsgründung Israels vor dem Hintergrund des Holocaust nach. Muriel Asseburg und José Brunner gehen auf (gesellschafts-)politische, emotionale und psychologische Faktoren in diesem seit Jahrzehnten tobenden Konflikt ein. Pankaj Mishra und Omar El-Akkad schauen in ihren Streitschriften durch die postkoloniale Brille und fragen nach der Position der internationalen Gemeinschaft angesichts der andauernden Verletzung universeller Rechte. Mit Ausnahme von Oren Kessler vermessen alle Autor:innen in ihren Büchern das Spannungsfeld von Israelkritik und Antisemitismus.