Literatur, Roman

Von Pionierinnen, Widerständlerinnen und anderen Heldinnen

© Thomas Hummitzsch

Was werden Frauen heute nicht alles für Rollen zugeschrieben? Die karrierebewusste Hausfrau mit Sexappeal ist längst ironische Trope. Daher sollen hier einige Romane vorgestellt werden, in denen anders auf Frauen und die Welt, in der sie leben, geschaut wird.

Massimo Cuomos Roman »Wohnung Nummer acht« liest sich wie die italienische Version des Films »Die fabelhafte Welt der Amelie«. Der syntaktisch einfache, aber mitreißende Rhythmus dieser Geschichte der Bewohner eines Hauses in einem Vorort von Mestre erinnert an die erzählerischen Passagen des Films.

Massimo Cuomo: Wohnung Nummer acht. Aus dem Italienischen von Carmen Brenig. Gepardenverlag 2024. 180 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen https://www.gepardenverlag.ch/b%C3%BCcher/
Massimo Cuomo: Wohnung Nummer acht. Aus dem Italienischen von Carmen Brenig. Gepardenverlag 2024. 180 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen.

Sieben Familien und Paare leben in dem Haus, sie bilden ein Querschnitt der Gesellschaft. Alt und jung, wohlgenährt und magersüchtig, frisch verliebt und kreuzunglücklich – alles kommt hier zusammen. Massimo Cuomo führt hinter die Fassaden und zugezogenen Fenster hinein in die Köpfe und Herzen seiner Figuren, von denen manche am Türspion das Leben der anderen neidisch verfolgen. In den heimlichen Sehnsüchten und Wünschen, Gelüsten und Begehren der Busettos und Chinellatos, der Menegozzos und Ruzzenes tritt Skurriles und Absurdes, Abseitiges und Gewaltiges, Schönes und Normales zutage.

Es ist keine göttliche, aber eine menschliche Komödie, die sich hier auf wenig Raum vollzieht. Dabei verschieben sich konstant die Kräfteverhältnisse zwischen den Figuren, deren Neben-, Über-, Unter- und Miteinander sich zum Ende zur Tragödie ausweitet. Die Übersetzung von Carmen greift den Rhythmus und Sound, den das Original mitbringt, mitreißend in der Syntax auf. Dieses schmale und mit viel Liebe gestaltete Buch ist ein literarisches Kleinod und bietet Lesevergnügen par excellence.


Agri Ismaīl erzählt in seinem Debütroman die Geschichte einer kurdischen Familie, die nach der iranischen Revolution in den Irak und von dort später nach London flieht. Neben der Geschichte des kommunistischen Vaters und seiner traditionellen Frau geht es vor allem um ihre Kinder Siver, Mohammed und Laika, die alle über Umwege in den Abgrund des Kapitalismus stürzen.

Agri Ismaīl: Der Wert der Welt. Aus dem Englischen von Robin Detje. Rowohlt Verlag 2024. 464 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen https://www.rowohlt.de/buch/agri-ismail-der-wert-der-welt-9783498003524
Agri Ismaīl: Der Wert der Welt. Aus dem Englischen von Robin Detje. Rowohlt Verlag 2024. 464 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen.

Siver etwa wird mit ihrem arabischen Mann nach Bagdad gehen, wo dessen Unternehmen einen wesentlichen Beitrag zum Wiederaufbau des Landes leisen soll. Das geht nicht lange gut. Nach der Trennung setzt sie sich mit dem gemeinsamen Kind nach Dubai ab und versucht, auf eigene Faust im monetären Mekka des Mittleren Ostens über die Runden zu kommen. Ihr Bruder Mohammed wird in London eine islamische Kreditkarte entwickeln und Karriere im Finanzbusiness machen, während ihre Schwester Laika in Manhattan an Algorithmen tüftelt, die das System aus den Angeln heben sollen.

In »Der Wert der Welt« geht es um den Kapitalismus und wie er Menschen korrumpiert. Der in Kurdistan geborene Autor setzt auf klassische Mittel wie Suspense und Cliffhanger sowie einen Plott, der in kluger Weise Kultur und Kapitalismus zusammenführt. Sein Debüt ist ein echter Pageturner, der das Schicksal von Immigrant:innen noch einmal ganz anders angeht. Robin Detje, der 2014 mit seiner überwältigenden Übersetzung von William T. Vollmanns »Europa Central« den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen hat, hat diese Geschichte tadellos übertragen.


»Vor dem Morgengrauen« ist der letzte vollendete Roman der türkischen Schriftstellerin Sevgi Soysal und ist, wie Emine Sevgi Özdamar in ihrem Nachwort zeigt, ein Klassiker der politischen Literatur in der türkischen Diaspora. Die Handlung fängt 24 Stunden im Leben einer Handvoll Figuren ein, die nach dem Militärputsch in der Türkei 1971 in der Millionenstadt Adana bei einer Razzia verhaftet werden. Eine davon ist die junge Oya, deren Perspektive zum Dreh- und Angelpunkt des Romans wird.

Sevgi Soysal: Vor dem Morgengrauen. Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantas. Schöffling Verlag 2025. 288 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen https://www.schoeffling.de/produkt/vor-dem-morgengrauen/
Sevgi Soysal: Vor dem Morgengrauen. Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantas. Schöffling Verlag 2025. 288 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen.

Soysal, die die türkischen Gefängnisse nach dem Militärputsch selbst kennenlernen musste, geht es in ihrem Roman in erster Linie nicht um eine Ausstellung der faschistischen Machtspielchen von Polizei und Militärs. Für die hat sie nicht mehr als Halb- und Nebensätze übrig, zu offensichtlich sind deren Mechanismen. Es geht ihr um die Menschen in Haft und das Gedankenkarussell, dass sich unter Isolation, Gewalt und Oppression einstellt. Wer hat hier wen ans Messer geliefert? Wofür wurden sie verraten? Und wie widersteht man dem Impuls, nachzugeben? Um diese und ähnliche Fragen kreisen die inneren Monologe der Inhaftierten.

Isoliert schaut die Autorin ihren Figuren tief in die Seele, wo sich Schuldgefühle und Überzeugungen, Ängste und Trotz zu einem inneren Widerstand formen, der angesichts der angedrohten und ausgeübten Gewalt nicht unerschütterlich ist. Auch die Polizisten bleiben nicht einfach nur Schablonen des Bösen, der Roman geht möglichen Handlungsmotiven auf den Grund. Judith Braselmann-Aslantas deutscher Text bedient sich für die Figurensprache und die Gegenüberstellung von Gesagtem und Gedachtem souverän der sprachlichen Register. Ihre Übersetzung sorgt für eine Spannung, die unter die Haut geht.


Die italienische Autorin Melania G. Mazzucco gilt als große Meisterin des historischen Romans und als solcher kommt auch ihre Geschichte von Plautilla Bricci daher. Die Architektin hat im 17. Jahrhundert als eine der ersten Frauen nicht nur als Malerin in der italienischen Hauptstadt Rom auf sich aufmerksam gemacht – einige ihrer Werke kann man heute noch besichtigen –, sondern sich auch als erste Frau überhaupt in die architektonische Geschichte Roms eingeschrieben. Die von ihr gefertigte Villa Benedetta wurde bei der französischen Belagerung stark beschädigt, später wurde sie abgerissen. Zeichnungen und eine Bleiplatte mit der alles entscheidenden Inschrift belegen aber ihre Existenz.

Melania G. Mazzucco: Die Villa der Architektin. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag 2024. 463 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen https://www.folioverlag.com/Die-Villa-der-Architektin/9783852569017
Melania G. Mazzucco: Die Villa der Architektin. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag 2024. 463 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen.

Mit dem Einsetzen dieser Platte in die Fundamente eröffnet dieser bildgewaltige Roman, der die Biografie von Plautilla Bricci mit allen Hürden und Hindernissen eindrucksvoll nachzeichnet. Dabei kippt die historische Erzählung allerdings immer mal wieder in eine Art enzyklopädische Nacherzählung (kunst-)historischer Fakten. Da werden Namen von Kardinälen, Bauherren und Meistern geradezu enzyklopädisch aufgeführt sowie ihre jeweiligen Abhängigkeiten, Loyalitäten und Feindschaften nacherzählt. An diesen Stellen fragt man sich, ob Mazzucco, die für das Buch in ihrer Heimat den Silvia-Dell’Orso-Preis für das beste populärwissenschaftliche Buch erhielt, nicht besser eine echte Biografie der Roman-Biografie vorgezogen hätte.

Karin Fleischanderl, Trägerin des Österreichischen Staatspreises für literarisches Übersetzen, hat diesen Roman tadellos übersetzt. Der deutsche Text fängt die Zeit auch vom Vokabular her treffend ein, man kann erahnen, wie viel Zeit sie dabei in die Recherche zur Malerei und Architektur der Zeit gesteckt hat. Dass das Buch dennoch etwas mühsam zu lesen ist, liegt keineswegs an der Übertragung, sondern an der akribischen und manchmal etwas zu detailverliebten Nachzeichnung der barocken Verhältnisse im Rom des 17. Jahrhunderts.


Die irische Schriftstellerin Anne Enright zählt zu den bedeutendsten englischsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart, ihr erfolgreichster Roman »Das Familientreffen« erhielt unter anderem den Booker-Prize. In ihrem neuen Roman erzählt sie einmal mehr eine Familiengeschichte über drei Generationen.

Anne Enright: Vogelkind. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin Verlag 2025. 304 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen https://www.penguin.de/buecher/anne-enright-vogelkind/buch/9783328603320
Anne Enright: Vogelkind. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin Verlag 2025. 304 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen.

Phil McDaragh ist in seiner Heimatstadt Tullamore ein recht bekannter Dichter, wenngleich er Irland vor Jahren den Rücken gekehrt hat. Zurückgelassen hat er dabei auch seine Frau und seine beiden Töchter. Eine davon, Carmel, ist die Mutter von Enrights Heldin Nell, die als junge Frau sich selbst und ihren Platz im Leben sucht. Der lange Schatten ihres prominenten Großvaters und seines Werks spielen dabei eine zentrale Rolle.

Im Wesentlichen wird diese Familiengeschichte aus der Perspektive von Nell und ihrer Mutter Carmel erzählt. An einer stelle ergreift der alles überragende Dichter auch selbst das Wort, ansonsten sprechen seine Verse für ihn. Eva Bonné hat diesen Roman, der aufgrund seiner empathisch-feministischen Grundhaltung für den Womens Prize for Fiction 2024 nominiert war, mit Sensibilität für die unterschiedlichen Stimmen und Gefühlslagen übersetzt. So wird zwischen den Zeilen deutlich, wie sich familiäre Traumata durch die Generationen ziehen und welchen Trost die Poesie bietet.


Jennifer Downs Pageturner »Körper aus Licht« ist in Australien mit dem wichtigsten Literaturpreis ausgezeichnet worden. Diese Social Novel erinnert in ihren Grundzügen an Barbara Kingsolvers Pulitzerpreis-Roman »Demon Copperhead«. Down erzählt diese Geschichte aus dem sozialen Abseits allerdings aus weiblicher Perspektive.

Jennifer Down: Körper aus Licht. Aus dem Englischen von Claudia Voit. Claassen Verlag 2025. 544 Seiten. 24,99 Euro. Hier bestellen https://www.ullstein.de/werke/koerper-aus-licht/hardcover/9783550202490
Jennifer Down: Körper aus Licht. Aus dem Englischen von Claudia Voit. Claassen Verlag 2025. 544 Seiten. 24,99 Euro. Hier bestellen.

Ihre Hauptfigur Maggie wird schon als Kleinkind in Obhut gegeben. Ihr Weg führt von Heim zu Heim und Pflegefamilie zu Pflegefamilie. Missbrauch erlebt sie derart so früh, dass man schon auf den ersten 100 Seiten aufhört, zu zählen, der wievielte Mann sich an ihr vergeht. Das ist schwer zu ertragen, aber es gibt immer wieder fesselnde Momente der Fürsorge und Hoffnung. Doch immer wieder verhindern Schicksalsschläge das Entkommen aus dem Elend.

Das Schicksal dieser jungen Frau – Maggie erzählt das als erwachsene Frau im Rückblick – ist erschütternd, wer allerdings Kingsolvers Roman kennt, wird über so manche Wendung weniger überrascht sein. Claudia Voigt hat die schnörkellose Prosa von Down in ein fließendes Deutsch übertragen, das gleichermaßen Raum für Empathie und Empörung schafft.


Die Frau eines Superhelden ist wohl eher nicht zu beneiden. Zumindest legt das Anna Burns rasanter Roman »Größtenteils heldenhaft« nahe, der von der amüsant verwickelten On-Off-Liebesbeziehung einer Femme Fatale und eines Superheld erzählt. In dieser Parallelwelt sind nicht nur schlimme Schurken unterwegs, sondern harmlose Tantchen entpuppen sich als skrupellose Mörderinnen.

Anna Burns: Größtenteils heldenhaft. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll. 128 Seiten. 20,- Euro. Hier bestellen https://www.klett-cotta.de/produkt/anna-burns-groesstenteils-heldenhaft-9783608502626-t-8786
Anna Burns: Größtenteils heldenhaft. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll. 128 Seiten. 20,- Euro. Hier bestellen.

Burns, die mit ihrem Roman »Milchmann« den Booker Prize gewann, erlaubt sich mit diesem schmalen Buch ein unterhaltsam-feministisches Spiel mit dem Genre der Superheldengeschichten. Ihre weibliche Superheldin verortet sie nah an der Gegenwart, Anspielungen an typische Frauenbilder sowie zu den laufenden Identitätsdebatten machen dies deutlich.

Und zugleich unterläuft sie gekonnt Erwartungen, indem sie diese Geschichte ironisch und grell überzeichnet. Burns’ Prosa ist visuell, rasant wechselt sie die Szenerien, die harten Schnitte erinnern an die Neunte Kunst. Anna-Nina Kroll hat das mit Mut zum Ungewöhnlichen übersetzt, etwa wenn die Protagonistin auf »aktenschrankartige Weise« underperformed. Burns Roman zeigt auf spielerische Weise, dass auch Superheld:innen Schwächen haben. Aber vielleicht entpuppt sich das am Ende als ihre größte Stärke.


Liest man die Kritiken der Erstübersetzung aus den sechziger Jahren, falle auf, »wie oberflächlich Autorin und Werk wahrgenommen werden«, schreibt Patricia Klobusiczky im Toledo-Talk zu ihrer Neuübersetzung von Anna Langfuß Roman »Gepäck aus Sand«. Dies hat auch dazu geführt, dass dieser Roman nahezu vergessen wurde.

Anna Langfuß: Gepäck aus Sand. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Die Andere Bibliothek 2024. 288 Seiten. 48,- Euro. Hier bestellen https://www.aufbau-verlage.de/die-andere-bibliothek/gepack-aus-sand/978-3-8477-0481-2
Anna Langfuß: Gepäck aus Sand. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Die Andere Bibliothek 2024. 288 Seiten. 48,- Euro. Hier bestellen.

Mit der Neuübersetzung dieses 1962 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Romans bekommt er nun eine zweite Chance. Man würde angesichts der Geschichte einer überlebenden polnischen Jüdin, die vor dem Antisemitismus der Nachkriegszeit nach Paris flieht und ihr Tasten durch die Welt nach dem Zivilisationsbruch des Holocaust beschreibt, heute von einem autofiktionalen Werk sprechen. Klobusiczky gibt nicht nur dieser verunsicherten und nach Rückhalt suchenden Stimme einen besonderen Ton zwischen Selbstbehauptung und Verunsicherung, sondern auch der Stadt, durch die sie sich bewegt, Atmosphäre.

Und zugleich bewegt sich der Text durch eine Welt, die sich für die Protagonistin surreal anfühlen musste. Der durch- und überlebte Horror kehrt in finsteren Träumen wieder, manchmal überfallen sie die Gespenster der Vergangenheit auch mitten am Tag. Da öffnet sich der Boden unter ihren Füßen und »ringsherum tanzen die Flammen« »Gepäck aus Sand« verweigert sich dem Realismus, tatsächlich in Raum und Zeit verorten lässt sich die Geschichte nicht. Aber das braucht es auch nicht angesichts dieser universellen Erzählung einer Frau, die sich fremd in einer Welt fühlt, die von der eigenen Schuld nichts wissen will.