Literatur, Roman

Ein gigantischer Stolperstein

© Thomas Hummitzsch

Ronya Othmann hält in ihrem Prosawerk »Vierundsiebzig« die jahrhundertelange Entmenschlichung der êzîdischen Gemeinschaft fest. Ausgehend vom jüngsten Genozid durch den IS geht sie im Mittleren Osten, in der Geschichte ihres Volkes, der Familienbiografie, in deutschen Gerichten der Vernichtungswut auf den Grund, die das êzîdische Volk bis heute trifft. Ihr Buch ist ein Solitär in der Genozidliteratur, eines der wichtigsten Bücher des vergangenen Jahres.

»Der Genozid ist eine technische Sache, für die man technische Begriffe gefunden hat«, schreibt Ronya Othmann in ihrem Roman »Vierundsiebzig«, in dem sie in einem vielschichtigen Verfahren andere als die juristischen Worte für den Völkermord an den Êzîden sucht, zu deren Gemeinschaft sie sich zählt. 2023 hat der Bundestag den Genozid an dieser Gemeinschaft anerkannt, wirklich geändert an der Wahrnehmung und dem politischen Handeln dagegen hat das nicht.

Der Titel von Othmans Roman spielt auf die Ereignisse an, die sich nach dem 3. August 2014 in der Shingal-Region im Norden des Iraks zugetragen haben. Vor den Augen der Welt fielen Terroristen des Islamischen Staats in die Region ein, brachten die männlichen Mitglieder der Religionsgemeinschaft systematisch um und entführten êzîdische Frauen und Mädchen, die als Sex- und Haussklaven verkauft wurden. Es war in der Zählung der Êzîden der vierundsiebzigste Versuch, ihr Volk zu vernichten.

Ronya Othmann: Vierundsiebzig. Rowohlt Verlag 2024. 512 Seiten. 26,- Euro. Hier bestellen https://www.rowohlt.de/buch/ronya-othmann-vierundsiebzig-9783498003616
Ronya Othmann: Vierundsiebzig. Rowohlt Verlag 2024. 512 Seiten. 26,- Euro. Hier bestellen.

Die Literatur der in München geborenen Autorin ist eng mit dem Schicksal des êzîdischen Volkes verbunden, dem sie sich mutmaßlich stärker verbunden fühlt als ihr atheistischer Vater. In ihrem hochgelobten Debütroman »Die Sommer« erinnert sie sich an das kurdische Dorf ihrer Großeltern und erzählt vom Leben im Angesicht der Auslöschung.

Die hat sich sehr konkret in ihren Gedichtband »Die Verbrechen« gedrängt, in dem das Wüten des IS, aber auch die permanente politische Unterdrückung der êzîdischen Existenz zur Sprache kommt. »Alles kommt auf dich zurück, egal wie sehr du den Kopf einziehst«, heißt es dort. Ein Satz, der vielleicht erklärt, warum Othmann getrieben scheint, immer wieder über das êzîdische Schicksal zu schreiben. Warum sie in ihrer Prosa, in der Lyrik, aber auch in ihren journalistischen Texten immer wieder all jenen eine Stimme gibt, die nicht mehr sprechen können.

© Thomas Hummitzsch
Ronya Othmanns Schreiben kreist um das Schicksal der Êzîden | © Thomas Hummitzsch

»Vierundsiebzig« ist eine fulminante Spurensuche, mit der die 32-Jährige den 74. Ferman zu greifen versucht. Dafür legt sie ihr sicheres Leben in Leipzig mit all den ambivalenten Gefühlen offen, beschreibt die Eindrücke einer Reise in den Irak, die sie 2018 unternommen hat, berichtet vom Prozess gegen eine in den Völkermord verwickelte deutsche IS-Terroristin und versucht in historischen und aktuellen Blitzlichtern die permanente Bedrohung dieses Volkes einzufangen, dem sie sich so verbunden fühlt. Aus der Fülle dieses Materials webt sie einen epischen Teppich, den sie immer wieder auftrennt, um neues Wissen einzuarbeiten, um ihre Gedanken neu zu arrangieren und eine Form für diese Erzählung zu finden.

»Ich schreibe. Und später traue ich dem nicht mehr. Ich traue dem Wir nicht mehr, und ich traue dem Ich nicht mehr. Ich schreibe, und wenn ich etwas aufgeschrieben habe, denke ich, das ist die Wahrheit. Und dann lese ich es wieder und denke, man müsste es noch ein zweites Mal schreiben, und ich schreibe es ein zweites Mal und denke, so ist es richtig, und dann lese ich es, und nachdem ich es gelesen habe, denke ich, obwohl alles daran stimmt, ist es nicht die Wahrheit.«

Die Wahrheit – was ist das überhaupt angesichts einer Geschichte, die wie kaum eine anderen von Trauma und Vernichtung geprägt ist. Und wie kann man diese Wahrheit eigentlich festhalten in einer Welt, die von ihr nichts wissen will. Ist ein Roman da überhaupt die richtige Form? Wäre ein Sachbuch eine bessere? Oder bräuchte es nicht eine Art biblisches Epos, um diese immer wiederkehrende Vernichtungswut, der dieses Volk ausgesetzt ist, anklagend in den Himmel zu schreiben? Auch das sind Fragen, die beim Lesen dieses bedrückenden und erschütternden, durch die Welt und die Geschichte springenden Textes aufkommen.

Von der Ich-Erzählerin selbst geht eine innere Unruhe, ein Unbehagen aus, die aus den manisch erstellten Listen ihrer Tätigkeiten, aus ihren Rechercheprotokollen und Beobachtungen, aus Notizen und Gesprächsfetzen drängt. Die Auseinandersetzung mit all dem Grauen, der kontinuierlichen Brutalität, die vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart des IS-Terrors reicht, ist eine erschöpfende und verstörende Arbeit. Und doch scheint dieses ständige Blicken in den Abgrund unausweichlich. Als würde das Umwälzen all des Schmerzes irgendwann zum Frieden führen, den man spürt, wenn sie die Landschaften beschreibt, die sie bereist – bei Reisen in den Irak und die Türkei, wo sie Verwandte oder Augenzeugen des letzten Vernichtungsversuchs durch den IS aufsucht.

Ronya Othmanns literarisches Werk

Zwei rote Fäden ziehen sich durch diese fulminante Erzählung. Zum einen ist es die sehr konkrete Blutspur durch die Geschichte der êzîdischen Gemeinschaft, die aus dem Mittleren Osten bis nach Deutschland führt, wo Othmann den Prozess gegen die IS-Terroristin Jennifer W. beobachtet, die gemeinsam mit ihrem irakischen Mann eine junge Frau als Haussklavin kaufte, missbrauchte und zwangsprostituierte. Das IS-Paar ließ die fünfjährige Tochter ihrer Sklavin in größter Hitze verdursten. Die Nachzeichnung der Bestialität und Unmenschlichkeit, die im Prozess zutage trat, macht einen noch beim Lesen fassungslos und wütend.

Zum anderen bilden der permanente Zweifel am Geschriebenen und Fixierten den zweiten roten Faden in diesem Roman. Grund dafür ist, dass die Erinnerungskultur der Êzîden eine mündliche ist. Die geschriebene Geschichte dieses Volkes muss erst noch erfunden, nein, erarbeitet werden und Othmanns Ich-Erzählerin ist sich ihrer Verantwortung dafür bewusst.

Der Vernichtungswut, mit der das êzîdische Volk seit Jahrhunderten in der Region konfrontiert ist, begegnet Othman mit einer Dokumentationswut. Sie notiert, schreibt, nimmt auf, fotografiert – immer wieder betont sie diese Handlungen während ihrer Recherche, ob in deutschen Bibliotheken oder vor Ort im Irak oder der Türkei. Sie besucht den Mossul-Damm, wo der sinkende Wasserstand ganze Dörfer freigibt und besucht die zerstörten Wohnhöhlen von Hasankeyf, der antiken türkischen Stadt, die 2020 trotz internationaler Proteste geflutet wurde.

In ihrem Gedichtband »die verbrechen« griff Othmann diesen Fall auf. Dort schrieb sie, dass sie aus einer Familie komme, »der die Erde wichtig war und dass nicht in einem romantischen oder patriotischen Sinne, sondern wichtig war, wie die Sonne wichtig war und dass Wasser wichtig war.« Und in diesem Wasser, aufgestaut von Mauern, die die deutsche Firmen errichtet haben, versanken ganze Ortschaften wie eben das alte Hasankeyf. In dem Gedicht »könntest du noch einmal zurückkehren, was würdest du mitnehmen« schreibt sie von der Unumkehrbarkeit dieser Barbarei und antwortet auf die Frage: »…die abgenutzte klinge der wohnungstür, das licht, das auf die wände fällt am nachmittag, den rauen putz der mauer, die frisch gestrichene hausfassade, das aufgeschlagene buch.«

»Was ich schreibe, hat keine Ordnung. Worte, die abbrechen, im Nichts verlaufen«, stellt die Ich-Erzählerin, am eigenen Sprechvermögen zweifelnd, an einer Stelle fest. Und doch türmt sich diese eloquente Sprachlosigkeit zu einem 500-seitigen Roman auf, der in all seiner fragmentarischen Gestalt das Schicksal der Êzîden spiegelt.

Die Wochenzeitung DIE ZEIT rief Othmanns beobachtende und dokumentierende Reportage zum »Standardwerk« über das Tränental eines Volkes aus. »Vierundsiebzig« ist aber mehr als das, es ist ein Denkmal an all die Toten, denen die Autorin, wann immer es möglich ist, ihren Namen und ihre Geschichte zurückgibt. Dem physischen Vernichtungsprozess, der auf das Auslöschen einer ganzen Kultur zielt, setzt sie ihre ganz eigene Form der Erinnerung entgegen. Dieser Roman ist ein Solitär in den langen Bücherreihen der Genozid-Literatur.

Dass Othmann für ihren Roman mit dem Düsseldorfer Literaturpreis ausgezeichnet wurde und in diesem Jahr noch den Erich-Loest-Preis erhält, ist eigentlich viel zu wenig für dieses Monument. Nachdem ich »Vierundsiebzig« schon auf der Liste für den Preis der Leipziger Buchmesse 2024 vermisst hatte, stand der Roman zumindest auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2024. Der war am Ende aber eintönig von der Debatte um Clemens Meyer und Martina Hefter geprägt. Einen Aufschrei, dass die FAZ-Kolumnistin leer ausgegangen ist, hat es nicht gegeben. Er wäre nicht unangebracht gewesen.

In seiner amorphen Form, schwankend zwischen Erinnerungsliteratur, Reisebericht, Gerichtsreportage, Autobiografie, Recherche und Geschichtsschreibung, bildet dieses dokumentarische Prosawerk einen gigantischen Stolperstein, der die traumatische Geschichte der êzîdischen Gemeinschaft nicht nur unvergesslich, sondern unauslöschlich festhält.