Die Longlist für den Deutschen Buchpreis ist da und zum zwanzigjährigen Jubiläum präsentiert sie sich in einem Kleid, als wären die letzten zwei Jahrzehnte unverändert am Buchmarkt vorbeigegangen. Die Konzern- und Großverlage dominieren, die unabhängigen Verlage kämpfen um Sichtbarkeit.
Selten war die Hotlist, bei der »das wichtigste, beste, schönste Buch« aus einem Indie-Verlag per Publikumsvoting gekürt wird, so relevant wie in diesem Jahr. Denn gerade einmal zwei Titel aus Indie-Verlagen haben es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 (dbp24) geschafft. Der Konzernverlag Rowohlt hat sich hingegen gleich mit vier Titeln unter den nominell besten zwanzig Büchern des Jahres einschreiben können. Zwei davon sind beim Imprint Rowohlt Hundert Augen erschienen, der auf Bücher setzt, »die nicht auf Vorbilder schielen, die sich nicht um vorgefundene Definitionen von Literatur kümmern«. Nun gut, welcher Verlag würde Gegenteiliges von sich behaupten.
Der ebenso nüchterne wie ernüchternde Blick auf die Buchpreis-Longlist offenbart vier Titel vom Rowohlt Verlag, drei von Klett-Cotta, je zwei aus den Häusern Hanser, Suhrkamp, C.H.Beck und S. Fischer sowie einen Titel von Piper, Kiepenheuer & Witsch und Diogenes. Lediglich zwei von zwanzig Titeln (!) kommen aus einem Indie-Verlag, »Toni & Toni« von Max Oravin und »Findet Mich« von Doris Wirth. Der verdienstvolle Grazer Literaturverlag DROSCHL und der Geparden Verlag aus Zürich können sich hier zurecht freuen.
In Zeiten, in denen die Bibliodiversität in Gefahr gerät, ist diese Longlist ein Fanal. Diejenigen Verlage und Akteur:innen, die seit Jahrzehnten mit ihren Autor:innen den literarischen Raum mutig weiten, die neuen Stimmen und Perspektiven Raum geben und mit ungewöhnlichen Buchprojekten abseits des Mainstreams existenzielle Risiken eingehen, werden diese Longlist nachvollziehbar als Hohn für ihr Engagement betrachten.
Dass es anders geht, bewies die Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse unter Insa Wilke. In den drei Jahren ihres Vorsitzes ist knapp die Hälfte der 45 nominierten Titel in einem Indie-Verlag erschienen, von den neun vergebenen Preisen gingen sieben an einen Indie-Verlag. Man kann sich kaum vorstellen, dass deren Arbeit in diesem Jahr so viel schlechter gewesen sein soll.
Die Jury für den dbp24 muss sich deshalb fragen lassen, ob sie bei ihrer Lektüre die Indies aus den Augen verloren hat. Autor:innen wie Domenico Müllensiefen, Joshua Groß, Anne Weber, Zara Zerbe, Katharina Winkler, Matthias Gruber, Michel Decar, Slata Roschal oder Dilek Güngör hätten mit ihren aktuellen Romanen die Aufmerksamkeit verdient, allein die bekommen sie nun nicht.
Die Jury wird sich darauf zurückziehen, dass es nicht ihre Aufgabe sei, Geschenke zu machen. Das ist gleichermaßen richtig und falsch. Richtig, weil kein Verlag, auch kein Indie, als Wild-Card-Kandidat auf der Liste sein will. Falsch, weil es außer Acht lässt, dass jede Preisliste im Rahmen der Preiswürdigkeit durch Zugeständnisse und Kompromisse kuratiert ist. Die Zugeständnisse gegenüber den preiswürdigen Titeln der Indies sind ganz offenbar sehr klein ausgefallen.
Allein der Konzernverlag Rowohlt, bei dem schon der Buchpreis-Roman 2023, Tonio Schachingers Internats- und Gamerroman »Echtzeitalter« erschien, wurde doppelt so häufig nominiert wie alle Indies zusammen. Das kann man nur mit Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen. Man kann nur mutmaßen, aber offenbar konnte sich hier eine versierte Indie-Kennerin wie Magda Birkmann, die als Buchhändlerin im Indie-Bookstore Ocelot in Berlin arbeitet, nicht durchsetzen.
Richard Stoiber, Verleger im MÄRZ Verlag, kommentierte sarkastisch, dass er sich freue, »dass mit Droschl und dem Geparden Verlag immerhin zwei Verlage mit einem Jahresumsatz von weniger als 50 Mio. mit ihren Büchern für den Deutschen Buchpreis nominiert sind«. Der frühere Verleger des Secession Verlag für Literatur Joachim von Zepelin fragte unverblümt, »für wen das peinlicher ist, die diesjährige Jury des Deutschen Buchpreises oder für die kleinen unabhängigen Verlage in Deutschland, von denen es kein einziger Titel auf die Longlist gebracht hat.«
Nur einige preiswürdige Indie-Romane
Nichtsdestotrotz gibt diese Liste auch Anlass zur Freude. Etwa, dass mit Zora del Buono endlich eine der besten, viel zu lange übersehenen Gegenwartsautor:innen eine Bühne bekommt. Oder dass Clemens Meyer mit seinem alles andere als einfach zu lesenden Großroman auf der Liste steht. Gleiches gilt für Ronya Othmann, die mit ihrem Roman über den Genozid an den Êziden den wohl aufwühlendsten Text des Jahres verfasst hat.
Mit Mithu Sanyal, Iris Wolff und Martina Hefter haben es gleich drei Publikumslieblinge auf die Liste geschafft. Insgesamt stehen dreizehn Autorinnen und sieben Autoren auf der Liste, weibliche Perspektiven haben also die Hoheit. Auch das wird sicherlich von vielen begrüßt. Es bleibt abzuwarten, ob das auf der Shortlist, die am 17. September bekannt gegeben wird, ähnlich sein wird.
Und doch bleibt mit dem Blick auf das große Ganze der fade Beigeschmack, dass diese Longlist die deutsche Buchkultur in keiner Weise repräsentiert. Zum zwanzigjährigen Jubiläum wird der Deutsche Buchpreis seiner Verantwortung, die Vielfalt der deutschsprachigen Buchlandschaft zu spiegeln, nicht gerecht. Die Freude über den besten Roman des Jahres, der am 14. Oktober vor dem Start der Frankfurter Buchmesse auf Tonio Schachingers »Echtzeitalter« folgen wird, ist so schon jetzt getrübt, ganz egal, welcher Roman ihn am Ende erhält.
[…] Literaturkritiker und Freitag-Autor Thomas Hummitzsch urteilte auf Intellectures, die Longlist habe einen faden Beigeschmack, wobei man die beiden Worte vielleicht trennen muss – sie wirkt einerseits uninspiriert, […]