Saša Stanišic spielt in seinen kaleidoskopisch angeordneten Erzählungen das Leben auf Probe durch und beweist, dass die Literatur ein Ort des Utopischen ist. Wie kaum ein anderer versteht er es, über die existenziellen Fragen des Lebens nachzudenken und dabei seinen Leser:innen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.
Wenn die Literatur eine Aufgabe hat, dann die, Ordnung in die verwirrende Wirklichkeit des Daseins zu bringen. Immer wieder scheitert sie aber an dieser Aufgabe, weil sie zu verklausuliert, zu erratisch, zu eindimensional oder zu anspruchsvoll ist. Dabei könnte es so einfach sein, denkt man sich, wenn man sich durch Saša Stanišics Werk blättert und feststellt, mit wie viel Leichtigkeit und Finesse er darin seine Figuren die großen Fragen des Lebens debattieren lässt.
In seinem neuen Werk »Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne« beginnt dieser fantastische Zauber schon in der ersten Erzählung. Darin spielen vier Jugendliche mit dem Gedanken, dass ein Proberaum für das Leben etwas irrsinnig praktisches wäre, nicht nur, weil man dort zehn Minuten seiner eigenen Zukunft aus- oder anprobieren könnte, sondern auch, weil man dann wüsste, ob es sich lohnt, sich für diese Zukunft ins Zeug zu legen. Und wer sich nicht ins Zeug legen muss, sondern hundertdreißigtausend Mark auf den Tresen legen kann, der kann diese Zukunft auch direkt einloggen und wird irgendwann garantiert exakt diese zehn Minuten erleben.
Es ist ein utopischer Gedanke, den Fatih, Piero, Nico und Saša da an einem heißen Sommernachmittag in einem dieser betonverbauten Viertel für die Abgehängten und Abgeschriebenen der bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft wälzen. Die Erzählung führt – unverkennbar Mark-iert – in die neunziger Jahre, in die späte Jugend des 1978 geborenen in Višegrad geborenen Autors, der 1992 mit seinen Eltern vor dem bosnischen Bürgerkrieg nach Deutschland geflohen ist. In Heidelberg fand er ein neues Zuhause und zur Faszination am Erzählen. Wer daran den größten Anteil hat, ob die Aral-Crew mit ihren übertriebenen Geschichten, die grünäugige Rieke, die mürrische Sachbearbeiterin in der Ausländerbehörde oder doch Stanišic selbst, kann man in seinem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman »Herkunft« nachlesen.
Tatsache ist, dass der in Hamburg lebende Stanišic einer der größten Erzähler ist, die dieses Land hat. Mit feinem Humor bringt dieser »Jugo-Schriftsteller«, der alles aufschreibt, damit nichts verloren geht, wie es in einem älteren Text über sein Alter Ego heißt, das Welttheater auf die Bühne der Literatur. Er erzählt vom Großen und dem Kleinen, vom Einzelnen und dem Ganzen. Politik und Schicksal, Gesellschaft und Individuum, Leben und Welt führt er zusammen und zeigt dabei, wie alles mit allem verbunden ist.
In seinem neuen Werk geht es immer wieder im die Frage, was wäre, wenn das Leben ein anderes wäre. Da ist etwa Georg Horvath, ein vierzigjähriger Justiziar, der seine liebe Not mit seinem Sohn Paul hat, weil der besser im Piraten-Memory ist als sein alter Herr. Der versucht deshalb eines abends, das Piraten-Memory heimlich zu entsorgen, doch da kommt ihm Frau Schüle aus dem zweiten Stock in die Quere, die aus dem Fenster rauch-hustet. Und weil Paul so gut mit diesem ächzenden Kohlekraftwerk kann, bricht Georg Horvath seinen Entsorgungsversuch beschämt ab. Die Leichtigkeit, mit der Stanišic diese Posse erzählt und zugleich mit Fragen des Umweltschutzes, der Spielsucht und den Selbstzweifeln übereifriger Eltern verknüpft, ist famos.
Die titelgebende Erzählung hat einen realistischen Hintergrund, denn tatsächlich gibt es diese Geheim-Codes, mit denen sich Witwen und Witwer auf den Friedhöfen Signale zuwerfen, wenn sie die Lebenslust noch einmal packt. Die 80-jährige Gisela, genannt Gisel, weiß davon noch nichts, ihre Freundin Ulla wird es ihr erzählen. Und kaum wendet die Witwe ihrem Hermann den Rücken zu, um die Gießkanne mit der Öffnung nach vorne zu stellen, öffnet sich ihr noch einmal ein ganz neues Leben. Was Stanišic aus ihren Erinnerungen und Hoffnungen, aber auch aus der multikulturellen deutschen Gesellschaft hier macht, ist so traurig schön, dass man gar nicht aufhören möchte, dieser Geschichte zu folgen.
Stanišics Figuren haben im Grunde alle keinen Plan, was aber nicht heißt, dass sie kopflos durch die Welt gehen. Es ist vielmehr so, dass sie wie wir alle durch das Leben dilettieren und versuchen, das Beste daraus zu machen. Sie alle fragen sich, was sie mit den zehn Minuten anstellen würden, wenn mal jemand auf die Pausentaste des Lebens drücken würde. Jede der Geschichten ist anders und doch hängen sie alle irgendwie zusammen. Man blickt in diesen Band wie durch ein Kaleidoskop, mit jeder Erzählung dreht man ein wenig daran.
Dass dieses »was wäre wenn« gar nicht so einfach durchzuspielen ist, stellt man fest, wenn man sich selbst fragt, wie man diese zehn außerordentlichen Minuten nutzen wollen würde. Für die Ratlosigkeit, die dabei erst einmal eintritt, liefert Stanišic eine Erklärung mit: »Groß viel Erfahrung mit dem Stehenbleiben von Zeit hast du als Menschheit ja nicht.«
So simpel das klingt, so schwierig ist es, das zu Papier zu bringen. In einer immer komplexeren Welt die Dinge auf ihren Kern herunterzubrechen, ohne dabei die Menschlichkeit aus dem Blick zu verlieren, ist eines der großen Talente des Hamburgers. Einige andere nennt die Jury für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis, mit dem Stanišic – nach dem Deutschen Buchpreis für »Herkunft« und dem Preis der Leipziger Buchmesse für sein Uckermark-Epos »Vor dem Fest« – am 3. November ausgezeichnet wird.
»Die große Gabe von Saša Stanišic besteht darin, dass er das Existentielle und das vermeintlich Nebensächliche, das gesellschaftspolitisch Relevante und das Private auf gleiche Weise ernst nehmen und mit einem sehr eigenen Humor erzählen kann«, heißt es da. Famos ist dabei, wie er seinen Figuren eine unheimliche Authentizität verleiht, indem er mit leichten Verschiebungen im Slang, in Rhythmus und Syntax, deren Lebenswelten einfängt.
Von den vier Jungs aus prekären Verhältnissen über die türkische Reinigungskraft Dilek, die in einer Art alternativen Traumnovelle à l’Artur Schnitzler in die eigene Kindheit reist, bis hin zu den Georgs und Gisels dieser Republik – Stanišic bringt ihre Welten in Heidelberg, Kaleköy und Bremen mit den Mitteln der Literatur immer wieder zum Leuchten, »weil jeder, also fast jeder, zehn Minuten einer schönen Zukunft verdient hat«. Er lässt diese Utopie wahr werden, seine menschenfreundliche Literatur ist ein heilsames Pflaster auf die Wunden dieser rauen Zeit.
Dabei ist dieses Buch eine große Hommage an die Kraft des Erzählens, in dem nicht nur die Figuren, sondern auch der Autor selbst eine Heimat gefunden haben. Es sind eben nicht die Trabantenstädte des Prekariats, die Hoffnung geben, sondern die offenen Arme der Fantasie. Sie bieten die Geborgenheit und Schutz, die es braucht, um die Augen zu schließen und die Härten der Welt, und sei es nur für zehn Minuten, zu vergessen.
Die Welt müsse romantisiert werden, forderte Novalis einst. Saša Stanišics Werk sei »der berückende Beweis dafür, dass dieses Credo noch immer den Glutkern von Poesie ausmachen kann«, lobte die Jury für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis.