Anthologie, Sachbuch

Herzhafte Buchstabensuppe

© Thomas Hummitzsch

Ulrich Holbeins Kompendium »Jenseits im Nahbereich« versammelt Texte aus dem Leben eines Viellesers – Vom Aufsatz über Serienkiller in und außerhalb der Literatur über Erkundungen von Künstler:innengärten bis hin zur Kritik unentdeckter Wortschätze.

Wohin mit all dem Lesestoff – physisch wie intellektuell? Diese Frage stellen sich Vielleser immer Mal wieder im Leben. Ein Klassiker, auf den professionelle Leseratten gern zurückgreifen ist die Textsammlung. Bei wenigen bietet sich das derart an wie bei Ulrich Holbein, einem notorischen Vielschreiber, der sich mit seinem vielseitigen publizistischen Werk ein ganz eigenes sprachliches Universum geschaffen hat.

Ulrich Holbein: Jenseits im Nahbereich. Leserausch zwischen Märchenbuch und Weltroman. PalmArtPress 2024. 400 Seiten. 30,- Euro. Hier bestellen https://www.palmartpress.com/p/jenseits-im-nahbereich
Ulrich Holbein: Jenseits im Nahbereich. Leserausch zwischen Märchenbuch und Weltroman. PalmArtPress 2024. 400 Seiten. 30,- Euro. Hier bestellen.

Diese in seinem aktuellen Band versammelten Notizen, Kritiken, Rezensionen, Kommentare und Szeneberichte eines manischen Viellesers versprechen einen »Leserausch zwischen Märchenbuch und Weltroman«. Das gilt zumindest für Buchmenschen und Lesewütige, die sich hier vom anything goes eines Leserebellen anstecken, inspirieren, irritieren und bestätigen lassen können.

Holbein, geboren 1953, ist selbst in der an Eigenbrötler:innen nicht armen Literaturszene ein bunter Vogel. Als »ganz und gar eigenwilliger Autor und eine einzigartige Erscheinung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« wurde ihm schon vor Jahren eine eigene Ausgabe von text+kritik gewidmet. Kolleg:innen bezeichnen ihn schon mal als »Einsiedler im prallen Leben« und »Zuspätromantiker«. Sein Lebensmittelpunkt ist im hessischen Knüllwald im Knüllgebirge – und man fragt sich, ob es einen passenderen Ort für diesen Vielleser gäbe, der alles andere als zimperlich mit der Weltliteratur umgeht.

Hans-Edwin Friedrich (Hg.): TEXT+KRITIK Heft 205. Ulrich Holbein. edition text+kritik 2015. 101 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen https://www.etk-muenchen.de/search/Details.aspx?ISBN=9783869163963
Hans-Edwin Friedrich (Hg.): TEXT+KRITIK Heft 205. Ulrich Holbein. edition text+kritik 2015. 101 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen.

Zumindest metaphorisch hat er so manche Seiten in seinem Leben zerknüllt, seine mal bissigen, mal sanften, dann wieder staunenden und verwunderten Texte nehmen die Literatur und alles, was im weitesten Sinne dazu gehört, gleichermaßen ernst wie aufs Korn. Das ist unheimlich unterhaltsam, immer wieder lehrreich, meist klug und inspirierend, manchmal aber auch ziemlich abgehoben und befremdlich.

Holbein hat seine Lebens- und Lesezeit auch Genres gewidmet hat, die man kaum literarisch nennen würde. Ob Bedienungsanleitungen oder Werbeheftchen, Holbein war keine Publikation zu trivial, um sich ihren sprachlichen Eigenheiten zu widmen. Seine Phänomenologie des Lesens führt über Mordkarussells und Flugsimulatoren aus dem Mumintal auf den Zauberberg und in eine Welt »Jenseits von Google«. Sie handelt von Dichterfürsten und Trickbetrügern, von biblischen Texten und Volksmärchen, Kunstbildbänden und Künstler:innen-Gärten.

Holbein ist auch ein Meister der Gegenüberstellung. Er misst Macho Hemingway an Memme Proust oder Fürst Myschkin an Prinz Hamlet, konfrontiert Gesäß und Gesicht, Humor und Höhepunkt sowie Diesseits und Jenseits. Nicht zuletzt erkundet er den Zauber von Soziolekten und jagt den »letzten Wundertieren, die noch alles wussten« nach.

Man fühlt sich prächtig unterhalten, wenn er von seinem Besuch der Frankfurter Buchmesse 1976 erzählt oder die Poesie der Wissenschaft der Sprachkunst der Lyrik wortgewandt vorzieht. Man liest mit Interesse seine kritischen Analysen der Crime-Literatur der 1990er Jahre – von Thomas Brasch über Franzobel bis zu Bret Easton Ellis und Thomas Harris – oder fühlt sich ertappt, wenn er von seinem Regal mit »Dringend zu lesenden Büchern« schreibt, dessen fünf Meter nie kürzer werden.

Ob Hoch- oder Trivialliteratur, Transzendenz oder True Crime – nur allzu gern löffelt man mit Holbein die herzhafte Buchstabensuppe aus, die er hier anrührt. Einziges Manko: Diesem ebenso zeitlosen wie aus der Zeit gefallenen Kompendium publizierter Texte fehlt ein Überbau, der diese mitunter störrischen, zuweilen auch nerdig-männlichen Kommentare in die Gegenwart holt.

Man sollte also nicht alles für bare Münze nehmen, was man hier liest. Die Freiheit aber, mit der sich Holbein der Weltliteratur bedient und widmet, sowie die rebellische Freude, mit der er närrisch das Hochgeistige vom Sockel holt und das Triviale überhöht, sollte man sich selbst bewahren. Sie sind das beste Rüstzeug, um durch die Bücher- und Debattenwälder der Gegenwart zu tanzen.