»Formuliermonstrum, Idyllen- und Formatsprenger, Weltschmerzpfleger, Kosmosträumer, Dichter, Denker, Geist« – mit diesen Worten beginnt Ulrich Holbein das Kapitel zu Jean Paul in seinem 2008 erschienenen »Narratorium«. Diese Worte umschreiben aufs Trefflichste einen der großen Unbekannten der deutschen Literatur, der vor 250 Jahren in Wunsiedel das Licht der Welt erblickte.
Jean Paul, geboren als Johann Paul Friedrich Richter, einer der Erfolgsautoren seiner Zeit, sein Roman Hesperus der größte Verkaufserfolg seit Goethes Werther. Einige seiner Wortschöpfungen haben dauerhaft Eingang in den deutschen Sprachschatz gefunden, auch wenn nur Wenigen bekannt sein dürfte, dass Worte wie Angsthase, Weltschmerz oder Schmutzfink auf diesen Solitär der deutschen Literaturlandschaft zurückgehen. Bereits als Kind begann Johann Paul Friedrich Richter aus losen Blättern Bücher zusammenzuheften und sie zu beschreiben, sodass er sich eine eigene kleine Bibliothek bastelte – für eine richtige fehlte es an Geld. So wie seine vielleicht bekannteste Figur, das Schulmeisterlein Wutz, das sich anhand der Buchtitel im Messekatalog seine eigenen »Räuber« und eine »Kritik der reinen Vernunft« schreibt, war auch der kleine Lehrersohn buchbesessen. Weil ihm Latein, Hebräisch und Griechisch nicht ausreichten, erfand er ein eigenes Alphabet und startete den Versuch, jedes einzelne Bibelwort sprachwissenschaftlich zu erklären. Später wird er sich in seinen literarischen Werken der Stringenz in der Erzählung verweigern, Handlung verläuft bei Jean Paul nicht von A nach B, sondern mit unzähligen Umwegen und Einschüben, Reflexionen und Erläuterungen, die vom Hundertsten ins Tausendste reichen.
Schon vielen seiner Zeitgenossen galten die Werke des Sprachbesessenen als artifiziell, schwer lesbar. Schiller fand ihn fremd, »wie einer, der aus dem Mond gefallen«. Dabei strotzen seine umfangreichen Schriften vor kühnen Einfällen, gewagten Konstruktionen und intertextuellen Bezügen. So ist Jean Paul ein postmoderner Autor, der von anderen gern mit Arno Schmidt oder Thomas Pynchon in eine Reihe gestellt wird – mit Autoren also, die vielfach ungelesen im Regal stehen.
Sein Ruhm überdauerte seine Lebzeiten auch kaum, bereits in seinen letzten Lebensjahren begann er zu verblassen. Lange Zeit fast völlig vergessen, wurde er im 20. Jahrhundert von Stefan George wiederentdeckt, aber auch diese Renaissance war nicht von Dauer.
Zum 250. Geburtstag des Dichters, der Leser wollte, »die keinen Dämon und nichts fürchten«, wie Rolf Vollmann in Die wunderbaren Falschmünzer schrieb, versuchen zahlreiche neue und wieder aufgelegte Titel, daran ein wenig zu ändern.
Die Biographien – ein Überblick
Fast vierzig Jahre ist sie alt, die Jean-Paul-Biographie von Günter de Bruyn Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter, die als überarbeitete und erweiterte Neuauflage erhältlich ist. Da findet sich nichts Angestaubtes, de Bruyn erweist sich (einmal mehr) als großer Erzähler, der dem Leser einen leichten und doch ausnehmend fundierten Zugriff auf Leben und Werk des in ärmsten Verhältnissen Geborenen, lange Zeit materiell stark Eingeschränkten, der als Student aus Leipzig vor seinen Gläubigern fliehen musste. De Bruyn breitet das Leben und die Entwicklung des Autors Johann Paul Friedrich Richters, der sich später dem von ihm geschätzten Jean-Jacques Rousseau zu Ehren Jean Paul nannte, in einem erzählerischen Duktus chronologisch aus. Dabei zeichnet er den Dichter als liebenswerten Zeitgenossen, der insbesondere auf Frauen anziehend wirkte. Frauen waren Pauls treueste Leser. Sein Leben aber widmet Jean Paul dem Lesen und Schreiben, sogar im Gehen konnte er schreiben, dokumentierten Zeitgenossen. Leben ist gleich schreiben, für Jean Paul lassen sich beide Begriffe nicht voneinander trennen.
Weit weniger als de Bruyns Werk ist deshalb Helmut Pfotenhauers Jean Paul. Das Leben als Schreiben eine klassische Biographie. Der Würzburger Professor der Germanistik sieht sie denn auch als Ergänzung zu de Bruyn. Hier stehen die Schriften des Schreibwütigen im Mittelpunkt, anhand derer ein komplexes Lebensbild anhand von Exzerpten, Briefen, Essay, Romanen und Erzählungen sowie dem Einfluss fremder Texte konzipiert wird. Bereits mit 15 Jahren beginnt Jean Paul, Gelesenes zu exzerpieren, wenige Jahre später sind diese Schriften auf 3.000 Seiten angewachsen. Bis zum Ende seines Lebens wird eine schier unglaubliche Anzahl an Texten entstehen. Rund 12.000 Seiten umfasst sein gedrucktes Werk, hinzu kommen 40.000 Seiten Schriften aus dem Nachlass sowie 12.000 Seiten Exzerpte. Pfotenhauer interessieren weniger die »äußeren Ereignisse seines Lebens und die Chronologie ihrer Abfolge […], sondern die Stationen des Schreibens, dessen Impulse, dessen Krisen, Umbrüche und Durchbrüche«, aus einer Lebensbeschreibung wird hier das Leben als anschwellender Textkorpus geschrieben. Was sehr akademisch klingt, ist souverän geschrieben, trotz (oder gerade wegen) überbordender Details mit Vergnügen zu lesen.
Überhaupt ist die sprachliche Ausformung der hier vorgestellten Jean-Paul-Biographien erfreulich zu nennen, so auch bei Beatrix Langners Biografie Jean Paul. Meister der zweiten Welt, die inhaltlich zwischen de Bruyn und Pfotenhauer anzusiedeln ist. Wo sich Pfotenhauer auf das Textwerk konzentriert und de Bruyn auf die Lebensumstände, entwirft die promovierte Germanistin ein Tableau der zeitgenössischen Einflüsse aus Politik, Kultur und Gesellschaft, die sich in Jean Pauls Arbeit niederschlugen. Aufklärung und Französische Revolution, deutsche Kleinstaaterei und die Mühen des gesellschaftlichen und materiellen Aufstiegs prägten das Schreiben, wirkten in das Werk hinein. Langner zeigt diesen Widerhall beispielhaft auf. Meister der zweiten Welt wächst dabei von einer Biographie zu einem zeitgeschichtlichen Abriss über sich hinaus.
Bereits im letzten Jahr erschien Michael Zarembas Jean Paul. Dichter und Philosoph, eine kompakte, stringente Biographie, die neben de Bruyns Buch als Einstieg in Leben und Werk dienen kann. Zaremba ordnet seine Jean-Paul-Biographie in seine Reihe von Biographien über Herder und Wieland ein, die »Aufklärer der anti-kantianischen Fraktion« und stellt Jean Paul in seinem Selbstverständnis als komischen und philosophischen Autor dar.
Jean Paul war zeitlebens »auf Achse«, in der Jugend oft zu Fuß, später in der Kutsche. Mit dem Reiten konnte sich Jean Paul nie anfreunden, nur einmal, auf dem Weg zum Konsistorium in Bayreuth, wo er die Erlaubnis bekommen wollte, sein Studium im Ausland, in Leipzig, aufzunehmen, bestieg der angehende Student ein Pferd, da die Vorschriften besagten, dass der Weg zum Konsistorium reitend zurückzulegen sei. Der Ritt gestaltete sich beschwerlich, das Pferd war störrisch, und Jean Paul hatte danach für immer die Schnauze voll.
In einem schön gestalteten, schmalen Band legt Dieter Richter mit Jean Paul. Eine Reise-Biographie eine Gegenüberstellung seiner Reisestationen mit Auszügen aus seinem Werk sowie Briefen vor, in denen Jean Paul seine Erlebnisse und Eindrücke verarbeitet. Dabei lassen sich rund 75 Reisen finden, erstaunlich dabei, dass er sich nie wirklich weit von seiner Heimat entfernte. Viel weiter als bis Berlin kam er nicht, und so sind auch seine Beschreibungen Italiens im Titan Phantasielandschaften, denen der real reisende Leser dennoch folgen konnte.
Auch das Meer hat Jean Paul nie gesehen, »Berge, Bücher und bitteres braunes Bier« waren die drei Bs, »die er zum Leben brauchte«. Die Dauer seines Aufenthaltes richtete sich durchaus danach, ob das von ihm geliebte Bayreuther Bier erhältlich war. So fand er in Berlin zwar »Weiber die Menge«, ohne sein Bier und die Berge erschien es ihm aber als dauerhafter Wohnsitz ungeeignet. Auch in Meiningen hielt er es nicht lange aus, obwohl er sich alle paar Wochen frisches Bier aus Bayreuth liefern ließ und seine Frau Karoline anmerkte, »bei der Einfahrt eines Bierfasses läuft er seliger umher als beim Eintritt eines Kindes in die Welt.« »Füglich«, so schreibt Zaremba, »könnte man seine Schriften auch als eine Flaschenpost betrachten«, da Jean Paul dem Leser Alkohol zum »vertieften Lese-Genuss seiner Texte empfiehlt«, und sich nur von alkoholisierten Rezensenten gerecht beurteilt fühlte.
Natürlich führte ihn sein Weg auch nach Weimar, er traf dort natürlich auf Goethe. Freunde wurden beide nicht, kalt wirkte Goethe auf Jean Paul, »einen Chinesen in Rom« nannte Goethe Jean Paul. Ein Chinese in Rom. Jean Paul und Goethe: ein untendenziöses Doppelportrait heißt dann auch die wohl schillerndste Neuerscheinung im Jubiläumsjahr. Ihr Autor, Ulrich Holbein, gehört zu den größten deutschen Sprachkünstlern, unendlich belesen und sich jeglicher Kategorisierung entziehend. Jean Paul und Holbein sind Brüder im Geiste. So ist denn auch nicht überraschend, wem seine Sympathien in dieser vor doppelbödiger Sprachkomik sprühenden Biographie der beiden Antipoden gehören. »Goethe wurde – dank Goethe-Lobby und Goethe-Mafia – fast so weltberühmt wie Jesus, The Beatles, Osama, Obama oder Lady Gaga. Jean Paul muß im Google aus Jean-Paul-Belmondo-Gewimmel hervorgefizzelt werden und hat zu erdulden, daß Hochkulturträgerinnen, denen man dringend was über Jean Paul erzählen möchte, irritiert zurückfragen: ‘Sartre?’« So ist Holbeins Buch ein krönender Schlusspunkt im großen Biographienstapel.
Annäherungen an das Werk
Wie nun aber nähert man sich dem Eigentlichen, dem Werk Jean Pauls, das – so viel Ehrlichkeit muss sein – den Leser herausfordert? Vielleicht in kleineren Häppchen. Gelegenheit dazu liefert der von Thomas Wirtz und Kurt Wölfel herausgegebene, als Erfolgsausgabe in der Anderen Bibliothek neu aufgelegte Band Ideen-Gewimmel, der kurze Texte und Gedanken aus dem unveröffentlichten Nachlass Jean Pauls versammelt. Ob über Autoren, »Er schrieb über 30 erste Bände, weil niemand die 2ten wollte.«, das Trinken, »Die Nüchternheit des Morgens ist nur eine negative Trunkenheit.« oder das Wetter, »Der deutsche Mai ist ein Hin- und Herwurf zwischen Nordpol und dem innern Afrika« – man schlage an beliebiger Stelle auf und beginne zu lesen und einzutauchen in die Paul’sche Gedankenwelt. Kurt Wölfel ist auch Herausgeber von Jean Paul. Das große Lesebuch, in dem exemplarische Texte und Romananfänge versammelt sind.
Und nochmals Ulrich Holbein, der zusammen mit Ralf Simon das auch optisch und haptisch ansprechende Weltall im Krähwinkel. Ein Jean-Paul-Lesebuch herausgegeben hat. Die Auswahl der Textstellen will die Ansicht der Jean-Paul-Forschung widerlegen, die besagt, »der Autor könne alles, außer eine Geschichte zu erzählen«, so Ralf Simon im Vorwort. Für Simon und Holbein ist Jean Paul »ein Meister der literarischen Szene ebenso wie der erzählerischen Durchführung. Allerdings: Sein narrativer Atem hält vielleicht fünf oder sechs Seiten durch«, unter dieser Prämisse sind die versammelten Texte ausgewählt.
Nach der Lektüre von Biographien und Auswahlbänden fühlt sich der eine oder andere Leser sicher bereit, den Kosmos von Jean Paul zu entdecken. Sein Vorwort beendet Ralf Simon mit den Worten »So lese man dann.« Auf ans Werk!
[…] Marcel Duchamp, Man Ray und Cy Twombly, aus den Untiefen der Literatur befördert sie unter anderem Jean Paul, Kurt Schwitters, Sarah Kirsch und Marcel Beyer an die Oberfläche. Mit ihnen tritt sie noch einmal […]