Literatur, Roman

Schädel, die am Meeresgrund verbleichen

Der österreichische Schriftsteller Franzobel verlässt mit »Das Floß der Medusa« seine Heimat. Eine gute Entscheidung, denn seine ansteckende Erzählung einer Seefahrt in den Untergang stand nicht nur völlig zurecht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, sondern ist nun mit dem Bayerischen Buchpreis 2017 ausgezeichnet worden.

»Ein Schiff ist entweder gesund oder krank. Dieses hier ist krank. Davy Jones reibt sich die Hände«, brummt sich der alte Seebär Hosea Thomas in den Bart, als die Medusa Anfang Juli 1816 noch weit von seinem Bestimmungsort Senegal entfernt ist. Tatsächlich wird das Boot dort nie ankommen, sondern es kommt es zu einer Katastrophe, die mit dem Gemälde des französischen Romantikers Théodore Géricault weltweit bekannt wurde. Der österreichische Autor Franz Stefan Griebl alias Franzobel hat aus diesem abenteuerlichen Stoff einen mitreißenden Roman gemacht.

Um den Ausgang macht sein allwissender Erzähler von Anfang an keinen Hehl. Schon auf den ersten Seiten erfahren die Leser von seinem allwissenden Erzähler, dass 147 Menschen tagelang auf einem Floß im Atlantik trieben und es im Kampf um Leben und Tod zu grausamen Exzessen gekommen sein muss, denn nur 15 Menschen haben das »Floß der Medusa« lebend verlassen.

Eine Geschichte über eine Schiffskatastrophe vor über 200 Jahren lässt vor dem Hintergrund des massenhaften Sterbens im Mittelmeer eine Erzählung befürchten, in der die Erzählung in der wohlmeinenden politischen Absicht versinkt. Dies ist hier aber mitnichten der Fall. Der Österreicher erzählt von diesem menschgemachten Drama mit sicherem Gespür für das Groteske und Absurde eng an den historischen Fakten entlang.

Zugleich schlägt Franzobels allwissender Erzähler immer wieder Brücken ins heute, aber eben nicht, um zu moralisieren, sondern um die Leser mit Augenzwinkern dort abzuholen, wo sie sind. Als unter den Passagieren etwa Begeisterung ob des Auftauchens von Haien aufkommt, bittet er um Verständnis, da die Gattung damals noch nicht »von Steven Spielberg gesellschaftlich devastiert« gewesen sei.

Cover-DasFlossderMedusa
Franzobel: Das Floß der Medusa. Zsolnay Verlag 2017. 590 Seiten, 26,- Euro. Hier bestellen

Die Handlung des Romans richtet sich an den Erlebnissen und Gedanken der verschiedenen Charaktere aus, die auf dem Schoner ihrem Schicksal entgegensegeln. Er stellt Figuren wie den Schiffsjungen Viktor Aisen in den Vordergrund, der erst in die Hände des brutalen Smutjes Gaines gerät, dann von dem Schiffsarzt, Forscher und Humanisten Dr. Savigny wieder aufgepäppelt wird, um schließlich Zeuge des brutalen Überlebenskampfes auf dem Floß der Medusa zu werden.

Oder die in Ihrem Stolz getroffenen Schiffsoffiziere Reynaud, Espiaux und Lapeyrère, denen die französische Seefahrtsbehörde mit dem zartbesaiteten Adelsmann Hugues de Chaumareys, dem selbstverliebten Hochstapler Antoine Richeford und dem künftigen Gouverneur Julien Schmaltz drei vollkommen inkompetente Stellvertreter des untergehenden Regimes vorgesetzt hat, die – wie soll es auch anders sein – das Schiff mit sicherer Hand in die Katastrophe steuern.

Es gibt außerdem christliche Missionare und jüdische Glückssucher sowie mit Reine und Arété Schmaltz sowie den Töchtern des Baumwollhändlers Charles Picard einige Frauen an Bord, die in ihrer anziehenden Empfindsamkeit zu wandelnden Vorboten des Unvermeidlichen werden, während Mama Medusa aus dem Off beständig flüstert: »Leichen, nichts als Leichen. Schädel, die am Meeresgrund verbleichen, Namen, zum aus Listen Streichen, Schicksale. Wollt ihr ihnen gleichen? Nein? Dann kehrt um, kehrt um, sonst könnt die Hand ihr ihnen reichen und Davy Jones erweichen. Seht die Zeichen, nichts als Zeichen.«

All diesen historischen, fantastischen und mythischen Figuren folgt die Erzählung wie eine Kamera, sie schweift von einer zur nächsten, verweilt für einen mehr oder weniger kurzen Augenblick in der Perspektive des einen Charakters, um sogleich den Blick der nächsten einzunehmen. So passiert ständig etwas in dieser Geschichte, die im Kern und mit zunehmender Handlung vom Verlust jeglicher Moral handelt. Denn: »Wo es kein Brot mehr gibt, gibt es kein Gesetz mehr.«

Franzobel gelingt es in beeindruckender Weise, die rauen Verhältnisse zur See in der Handlung, den tragenden Figuren und ihrer Sprache – geradezu physisch – zu verankern. Nicht versehentlich hat er sich gegen Daniel Kehlmanns historischen Roman Tyll als besserer Geschichtswälzer des Jahres durchgesetzt und es beim Deutschen Buchpreis nicht nur auf die Longlist, sondern sogar bis auf Shortlist geschafft. Dort noch leer ausgegangen ist Franzobel nun mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet worden.

Jurorin Thea Dorn, die mit Die Unglücksseligen im vergangenen Jahr selbst einen famosen Roman mit historischem Hintergrund vorgelegt hat, lobte Franzobels Roman, der »in großen Bildern, mit sagenhafter Konsequenz« erzähle, »wie ein Schiff, das sich ›Medusa‹ nennt, in Wahrheit aber ›unsere Gesellschaft‹ heißt, seinem Untergang in Dekadenz und Barbarei entgegensegelt.« In der Begründung der Jury heißt es außerdem: »Franzobel wagt in seinem Roman die radikale Grenzüberschreitung, sprachlich, erzählerisch, inhaltlich. Das Floß der Medusa konfrontiert uns virtuos mit unseren eigenen Abgründen«

Ob man diesen Sprung aus der Historie in die Gegenwart macht oder nicht, ist völlig unerheblich für die erzählerische Kraft dieses Romans. Es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass es einen so famosen Seefahrerroman seit Robert Louis Stevensons Schatzinsel nicht mehr gab.