Philosophie, Sachbuch

Die Französische Theorie im Club Med

© Thomas Hummitzsch

Der Berliner Kulturwissenschaftler Onur Erdur untersucht in »Schule des Südens«, was es heißt, in Zeiten kolonialen Unrechts zu philosophieren. Dabei legt er die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie frei. Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk vermutet dort die Ursprünge »einer gefährlichen Idee«.

»Mitten in Paris«, schreibt der Politikwissenschaftler Yascha Mounk in seinem Buch »Im Zeitalter der Identität«, habe kurz nach dem Krieg eine Generation einflussreicher Intellektueller das Ende der »großen Erzählungen« ausgerufen. Gemeint sind Poststrukturalist:innen wie Michel Foucault und Jean-François Lyotard, wie Pierre Bourdieu oder Hélène Cixous. »Sie bestritten, dass es eine universelle Wahrheit gäbe; dass einige Werte anderen objektiv überlegen seien; und vor allem, dass ein echter Fortschritt hin zu einer besseren Gesellschaft möglich sei« – und damit zum »Aufstieg einer gefährlichen Idee« beigetragen, ist sich Mounk sicher.

Onur Erdur: Schule des Südens. Matthes & Seitz Berlin 2024. 335 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/schule-des-suedens.html
Onur Erdur: Schule des Südens. Matthes & Seitz Berlin 2024. 335 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen.

Der Vorwurf, die französische Theorie habe den zum Teil aufgeheizten und überdrehten identitätspolitischen Debatten heutiger Tage Vorschub geleistet, ist nicht neu. Und doch wünschte man Mounk und allen den anderen Ankläger:innen, sie hätten Onur Erdurs neues Buch über »die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie« gekannt, bevor sie zum Rundumschlag ausholten. In acht Porträts erschließt der in Berlin lehrende Kulturwissenschaftler eine neue Geografie des französischen Denkens, indem er das Verhältnis von Erfahrung und Theorie erkundet. Die Frage, wie sich menschliche Erfahrung so nah an das Geistig-Theoretische heranrücken lässt, »dass man das eine in das andere hinübergleiten sieht«, steht im Mittelpunkt der Untersuchung des Berliner Historikers und Kulturwissenschaftlers.

Die menschliche Erfahrung bezieht sich dabei auf den kolonialen Hintergrund, der viele französische Intellektuelle im 20. Jahrhundert miteinander verbindet. Mit Blick auf die großen Namen der französischen Theorie wurzelt diese nicht in Paris, sondern in Algier, Casablanca und Tunis, wie Erdur zeigt. Dass ihre berühmtesten Vertreter als Repräsentanten Frankreichs von den kolonialen Kräfteverhältnissen profitieren, indem sie Lehrstühle an den Universitäten in den französischen Kolonien bezogen und inmitten von Armut und Gewalt unter geradezu luxuriösen Verhältnissen lebten, beschreibt das »koloniale Dilemma«, das bei der Untersuchung der französischen Theorie – von der theoretischen Analyse bis hin zur anekdotischen Spurensuche in den Biografien ihrer Repräsentant:innen – kaum beachtet wird.

Yascha Mounk: Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Sabine Reinhardus. Verlag Klett-Cotta 2024. 512 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen https://www.klett-cotta.de/produkt/yascha-mounk-im-zeitalter-der-identitaet-9783608986990-t-8547#biographie
Yascha Mounk: Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Sabine Reinhardus. Verlag Klett-Cotta 2024. 512 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen.

Mutmaßlich ist bereits die Ignoranz der kolonialen Grundierung der französischen Philosophie und Soziologie Ausdruck kolonialer Gewalt, denn die Prägung durch Erfahrungen im kolonialen sowie im de- oder postkolonialen Kontext liegt im Grunde auf der Hand. Pierre Bourdieu und Jean-François Lyotard hielten sich bereits in den 50er Jahren in Algerien auf, ihr Denken und Schreiben stand immer unter dem Eindruck der Brutalität Frankreichs im Algerienkrieg. Den Erfinder der Dekonstruktion, Jacques Derrida und die Feministin Hélène Cixous, verbinden ihre algerisch-jüdischen Wurzeln sowie die daran gebundenen traumatischen Erfahrungen.

Eher angenehme Erfahrungen machten Roland Barthes und Michael Foucault, die es in den ehemaligen französischen Protektoraten Marokko und Tunesien krachen ließen. Sie genossen ihre sexuelle und intellektuelle Freiheit, verfolgten erotische Abenteuer und entwickelten neue Ansätze und Ideen. Poststrukturalisten der zweiten Generation wie Étienne Balibar oder Jacques Rancière politisierten sich vor dem Hintergrund der Proteste gegen den Algerienkrieg und besuchten nach der Unabhängigkeit das Land, was sich in ihren Werken niederschlägt. Dass dieser offensichtliche koloniale Konnex in der Analyse der französischen Theorie bislang nur eine untergeordnete Rolle spielt, lässt selbst Rückschlüsse auf koloniales Gebaren zu.

Der 1984 im türkischen Diyarbakir geborene Kulturwissenschaftler Onur Erdur hat an der ETH Zürich über den Zusammenhang von Molekulargenetik und Poststrukturalismus im Frankreich der sechziger und siebziger Jahre promoviert, an der Humboldt-Universität in Berlin beschäftigt er sich u.a. mit der Geschichte der französischen Philosophie im 20. Jahrhundert sowie globalgeschichtlichen und postkolonialen Perspektiven. Der 41-Jährige steht also voll im Stoff, entsprechend packend liest sich auch seine »Schule des Südens«. Aufgrund seiner genauen Kenntnis der theoretischen und persönlichen Texte gelingt es ihm, historische Momente als individuelle Schlüsselereignisse und Erweckungsmomente zu identifizieren.

So erfahren wir hier, was es heißt, wenn der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Vordenker der französischen Soziologie, Pierre Bordieu, in einem seiner letzten Interviews einräumte, dass er in Algerien gelernt habe, »mich selbst zu akzeptieren«. In Algerien diente er erst als Soldat, dann erkundete er als Soziologe die Lebensverhältnisse in der algerischen Provinz und entwickelte dort sein Habitus-Konzept. »Algerien war zweifelsohne auch das Laboratorium für Bordieus Theorie der sozialen Welt«, ist sich Erdur sicher.

Ähnliches gilt für Jean-François Lyotard, der seinen Erfahrungen im algerischen Constantine sein politisches »Erwachen« verdankte: »Das ganze Alltagsleben fast aller Muslime wird von einer Handvoll Kolonisten übernommen und zermahlen; es ist eine totalitäre Gesellschaft, in der die Ausbeutung den Terror voraussetzt.« Seine Philosophie des inneren Widerspruchs ist Ausdruck der Erfahrung, die er als Repräsentant des kolonialen Frankreichs und als Unterstützer der algerischen Befreiungsbewegung gemacht hat.

Und so fliegt man vor dem Hintergrund der Dekolonialisierung des Südens durch Leben und Texte der französischen Theoriestars, bekommt die eindrückliche Kritik am Kolonialismus in Roland Barthes »Mythen des Alltags« entschlüsselt, setzt sich mit Foucaults ohrenbetäubendem Schweigen über den Kolonialismus auseinander und geht Derridas Aussage auf den Grund, dass »alles, was ich mache, schreibe und zu denken versuche, eine gewisse Affinität zur Postkolonialität« besitzt.

Deutlich wird dabei vor allem, wie die persönliche Zerrissenheit zwischen Herkunft und Identität, Erfahrung und Beobachtung, Habitus und Haltung nicht nur zu einem jahrzehntelangen Schweigen über das »koloniale Dilemma«, sondern auch zu einer Auflösung der Kategorien geführt hat. »Alles, was ich weiß, ist, dass die Welt mehr als eine Welt ist«, sagte die Feministin Hélène Cixous einmal in einem Interview. Onur Erdur legt in seinem ebenso klugen wie unterhaltendem Werk die Wurzeln von aktuellen Kampfbegriffen wie »Ethnopluralismus«, »Genderfluidität« und »Intersektionalität« frei und nimmt deren falschen Freunden den Wind aus den Segeln. Hier ist er differenzierter als Sascha Mounk, der in seinem Band argumentiert, dass die »woke Ideologie« den Universalismus verwerfe und das Ziel infrage stelle, für eine Gesellschaft einzutreten, in der alle gleich sind.

Ohne die koloniale Erfahrung, ist sich Erdur sicher, hätte es keine französische Theorie gegeben. Ihre Protagonisten »sind in die Schule des Südens gegangen, wurden sich selbst dabei fremd, ihrer Sprache und ihrer Nation, und haben dadurch ihre Philosophie und ihren Stil gefunden.« Solange rassistische, sexistische und (neo-)koloniale Strukturen wirken, werden ihre Positionen Fixpunkte eines kritischen Denkens bleiben.