Interviews & Porträts, Sachbuch

Schillernd und umstritten

Susan Sontag gilt bis heute als intellektuelle Ikone ihrer Zeit. In diesen Tagen wäre sie 90 Jahre alt geworden. Seit ihrem Tod haben zahlreiche Bücher von und über Sontag den Blick auf Leben und Werk der Essayistin geweitet.

»Ich möchte schreiben – ich möchte in einer intellektuellen Atmosphäre leben – ich möchte in einem kulturellen Zentrum leben, wo ich jede Menge Musik hören kann – all dies und noch viel mehr«, hält die am 16. Januar 1933 als Susan Lee Rosenblatt geborene Susan Sontag mit 16 Jahren in ihrem Tagebuch fest. Gerade hat sie ihr Elternhaus verlassen und ein Studium der Literatur, Theologie und Philosophie in den Blick genommen. In diesen Zeilen ruft sie das Programm aus, das sie zu der Intellektuellen ihrer Zeit machen sollte. Noch heute gilt sie neben Ayn Rand, Hannah Arendt und Joan Didion als eine der wichtigsten literarischen, politischen und feministischen Ikonen ihrer Generation. 

Weniger ihr literarisches Werk (trotz National Book Award für ihren historischen Roman »In Amerika«) als vielmehr ihre mit Aphorismen gesättigten Essays sind Grundlage ihres Rufs einflussreiche Intellektuelle. Allen voran ihre Nobilitierung der vermeintlich unintellektuellen Popkultur in »Anmerkungen zu ‚Camp‘«, ihre nüchternen Gedanken über »Krankheit als Metapher« oder die gesammelten Kulturkritiken in »Gegen Interpretation«. Wie keine andere hat Sontag den Blick auf die Welt geschärft und dabei verändert, wie wir das Leiden der anderen betrachten, über Fotografie sprechen oder auf die Herausforderungen unserer Zeit schauen. Amerikanischen Leser:innen hat sie in den USA wenig bekannte europäische Autoren wie Antonin Artaud, Walter Benjamin, Elias Canetti oder W.G. Sebald nahegebracht. Als sie 2003 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche erhielt, wurde ihre große analytische Schärfe betont, mit der »seit den sechziger Jahren die Ausprägungen der dynamischen Alltagskultur und ihre Bedeutung für unsere Vorstellung von Modernität und Freiheit beschrieben« hat.

Daniel Schreiber: Susan Sontag. Geist und Glamour. Aufbau Verlag 2007. 342 Seiten. 18 Euro. Hier bestellen.

Seit ihrem Tod am 28. Dezember 2004 sind in regelmäßigen Abständen Bücher erschienen, die sich in erster Linie dem Leben der intellektuellen Säulenheiligen Amerikas widmen. Daniel Schreiber schrieb schon 2007 ein erstes Porträt. In »Susan Sontag. Geist und Glamour« setzte er sich kritisch mit der Ikone auseinander und unterstellte ihr durch die »Erfindung Susan Sontags« als Marke – ein Wunder, das Netflix noch keine Serie namens »Inventing Susan« in Auftrag gegeben hat – eine »Ikonisierung« des eigenen Images. 2008 und 2009 folgten eine Ausgabe ihrer letzten Reden und Essays unter dem Titel »Zur gleichen Zeit« sowie das zweifelhafte Sterbebuch »Tod einer Untröstlichen« (beide übersetzt von Reinhard Kaiser), in dem Sontags Sohn David Rieff die Intimität der letzten Tage am Sterbebett in mitunter unangenehmer Weise offenlegt.

Susan Sontag: Wiedergeboren. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Hanser Verlag 2010. 384 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen.

2010 und 2013 erschienen die beiden Tagebuch-Bände »Wiedergeboren« und »Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke«, die Rieff herausgegeben hat. Sie speisen sich aus den mehr als einhundert Notizheften, die Sontag nach dem Vorbild von Lichtenbergs Sudelbüchern angelegt hat. Die Journale umfassen Auszüge und Notizen aus den Jahren 1947 bis 1980 und machen die Entwicklung ihrer Philosophie aus der persönlichen Erfahrung von Glück und Unglück nachvollziehbar. »Ein Intellektueller ist ein Mensch, dessen Geist sich selbst beobachtet«, schreibt Sontag in dem ersten der beiden Bände, in denen man diesem kritischen Selbststudium beiwohnen kann.

Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Hanser Verlag 2013. 560 Seiten. 30,- Euro. Hier bestellen.

Dabei belegen ihre Aufzeichnungen zu Literatur und Philosophie, Bildung und Politik, warum sie nicht nur Amerikas lauteste, sondern auch klügste Stimme war. Immer wieder verdünnen sich die großen Linien und lösen sich im Kleinen auf, in Listen und Kommentaren von gelesenen und zu lesenden Büchern, Zitaten und Personen. Sie legt Zeugnis ab von ihren Erwartungen an und den Eindrücken von kulturellen und gesellschaftlichen Ereignissen. Über diesem Mikrostudien ihres Alltags und den Makrostudien des menschlichen Daseins schwebt Sontags Sehnsucht nach Leben. Ihre Lese-, Schreib- und Reiseprojekte erzählen von der Begierde, den Augenblick mit der größtmöglichen Intensität erleben zu können.

Zum zehnten Todestag erschien 2014 Nancy D. Kates ausgezeichnete HBO-Dokumentation »Regarding Susan Sontag«, die anhand von Archivmaterial, Zeitzeugen-Berichten, Fotografien und Sontags Texten auf Leben und Werk der Kulturkritikerin blickt. Der Film nimmt vor allem auch die ikonischen Fotografien in den Blick, die Sontag mal betont leger, dann wieder in ernsthafter Pose als public intellectual in Szene setzten. Parallel erschien das legendäre Rolling-Stone-Interview als Buchausgabe, in dem die legendäre Aussage fiel, dass sie, müsste sie zwischen den Doors und Dostojewski wählen, »selbstverständlich« Dostojewski wählen würde. 

Benjamin Moser: Sontag. Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober. Penguin Verlag 2020. 928 Seiten. 40 Euro. Hier bestellen.

Der Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Sontags Leben ist zweifellos die Publikation von Benjamin Mosers monumentaler Biografie »Sontag«. Noch nie wurde derart viel Material über »Amerikas letzten großen Literaturstar« zusammengetragen, wie in diesem von Hainer Kober übertragenen Wälzer. Moser nimmt ganz im Sinne eines Freud-Schülers unbewältigte Traumata in den Blick und wühlt sich in seinem mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Psychogram durch jedes Detail in Leben und Werk. Ungeduldig, zum Teil auch ungnädig arbeitet er sich an der »Königin der Leugnung« und »Sklavin der Ernsthaftigkeit« ab, die er immer wieder latent als Opfer kindlicher Traumata zeichnet. Die Lebensleistung von Sontag schmälert er dabei nicht, ihre unbändige Energie – aller Widerstände und Traumata zum Trotz – kommt dabei aber zu kurz.

Sigrid Nunez: Sempre Susan. Erinnerungen an Susan Sontag. Aus dem Englischen von Anette Grube. Aufbau Verlag 2020. 141. Seiten. 18,- Euro. Hier bestellen.

Nobelpreisträger Salman Rushdie sprach einmal von zwei Susans, einer guten und einer bösen. »Die gute Susan war brillant, witzig, loyal und einfach großartig, die böse Susan hingegen konnte ein gnadenloses Biest sein.« Davon erzählt auch Sigrid Nunez in ihrem parallel zur Moser-Biografie erschienenem Memoir »Sempre Susan«. Als ehemalige Assistentin und Ex-Partnerin von Sohn David lebte sie in New York zeitweise mit Sontag in einer Wohnung. Sie zeichnet in ihrem Buch das Bild einer herrischen Diva, die zu emotionaler Kälte neigte. Von derlei Attitüden wusste auch die Fotografin Annie Leibovitz, Sontags langjährige On- und Off-Partnerin, zu berichten. »Im Rückblick«, schreibt Nunez betroffen, »wünschte ich nur, dass ich mehr Freude empfinden könnte – oder mich zumindest auf eine Weise erinnern, die nicht so schmerzhaft ist.«

Wie sehr Sontag aber auch zu berühren wusste, wird in Leibovitz Bildband »Pilgrimage« deutlich, der nach Sontags Tod entstand. Er ist eine Art Ersatz für ein gemeinsam geplantes Schönheiten-Buch, das nie entstand. Ganz im Sinne von Sontag bezeugen die Bilder in diesem Band die Existenz des Menschen und seine gegenständliche und geistig-spirituelle Hinterlassenschaft.

Susan Sontag: Wie wir jetzt leben. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Hanser Verlag 2020. 128 Seiten. 20,- Euro. Hier bestellen.

Mit jedem weiteren Jahr, das seit Sontags Tod vergeht, lichtet sich der biografische Nebel. Mehr und mehr tritt ihr Werk in den Vordergrund. Dazu hat auch der elegant von Kathrin Razum übersetzte Band »Wie wir jetzt leben« mit fünf schillernden Erzählungen – unter anderem einer über die frühe Begegnung mit Thomas Mann – beigetragen, weil die Geschichten einen Blick auf die andere Seite freimachen. Sie bilden in ihrer spielerischen Pose »das Bindeglied« zwischen den Selbstzweifeln der Tagebücher und der Autorität ihrer analytischen Essays, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Verena Lueken in ihrem Nachwort zu den Stories.

Anna-Lisa Dieter: Susan Sontag. 100 Seiten. Reclam Verlag 2022. 102 Seiten. 10 Euro. Hier bestellen.

Zum diesjährigen 90. Geburtstag hat sich die Literaturwissenschaftlerin Anna-Lisa Dieter noch einmal über Sontags Essays gebeugt. Für den Reclam-Verlag hat sie auf 100 Seiten geschnurrt, was es Bedeutendes zu sagen gibt. Sie beschreibt unter Rückgriff auf die von Sontag geliebten Listen, wie sich die Essayistin selbst erfand. Sie blickt auf einflussreiche Wegbegleiter:innen, ordnet bedeutende Texte ein, bietet Rückschlüsse auf Bezüge zwischen Leben und Werk und zeigt, wie Sontag intellektuell zwischen Akademie und Kunstszene surfte. Eine eigens zusammengestellte Playlist zum Buch gibt dem Ganzen noch einen zusätzlichen Charme.

Dieters Essay-Essay ist auch deshalb so lesenswert, weil sie aktuelle Fragen und Debatten an Sontags Texten reflektiert und so aufzeigt, wie es Sontag gelang, politisch engagierte Texte zu schreiben, die auch von ihr handelten, ohne identitätspolitisch zu werden. Oder wie sie durch das genaue Betrachten des Leidens anderer zur Antikriegsaktivistin wurde, ohne in blinden Pazifismus zu verfallen.

Anna-Lisa Dieter, Silvie Tiedtke (Hrsg): Radikales Denken. Zur Aktualität Susan Sontags. Diaphanes Verlag 2017. 288 Seiten. 29,95 Euro. Hier bestellen.

»Ich möchte lieber einen Schritt zu weit in Richtung Gewalt und Exzess gehen, als den Moment nicht voll auszuschöpfen«, hielt die junge Susan Sontag im Tagebuch fest. Diese Unmittelbarkeit nimmt der Sammelband »Radikales Denken« in den Blick. Dessen Texte widmen sich, ausgehend von einem gleichnamigen Symposium zum zehnten Todestag, der Aktualität von Susan Sontag. »Sontags Aktualität geht gegen Interpretation. Die Wucht ihrer Texte berührt, egal, wie viel zusätzliche Komplexität sich in der Zwischenzeit auch angehäuft haben mag«, schreiben die beiden Herausgeberinnen Anna-Lisa Dieter und Silvia Tiedtke.

Die Autor:innen fragen in ihren Texten, wie bei Sontag Stil und Form aufeinander bezogen sind, wer ihr Denken und Schreiben beeinflusst hat, wie sie als öffentliche Intellektuelle auftrat und wie sie bis heute wirkt. Kulturkritikerin Ina Hartwig etwa schreibt über »Bilder von Geburt und Tod« in Anlehnung an Sontags Texte, die Philosoph:innen Carolin Emcke und Juliane Rebentisch diskutieren mit Daniel Schreiber über »Ethik und Ästhetik des Sehens«, Verleger Michael Krüger über Sontags Verhältnis zu Deutschland und Popkritiker Jens-Christian Rabe mit Bezug auf Umberto Eco, Roland Barthes und Susan Sontag darüber, was originelle Kulturkritik ausmacht.

Dieser Band zeigt facettenreich, wie sich Sontags Denken zwischen den Fundamenten der klassischen Bildung und den Superlativen der Bewunderung bewegt und dabei einen Ehrgeiz des Schreibens hervorbringt, der ihre Texte zeitlos gültig und unverrückbar macht.

Eine kürzere Fassung des Beitrags erschien im Freitag 2/2023.