Der 7. Oktober 2023 hat nichts unversucht gelassen, Hoffnung zu begraben und Mutlosigkeit in die Welt zu tragen. Marko Martin aber will sich die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht nehmen lassen. In »Und es geschieht jetzt« bemüht er sich, inmitten dieses Irrsinns seinen Überzeugungen einer zugewandten, einer emphatischen Welt gerecht zu werden.
»Und es geschieht jetzt« ist nicht das erste Buch, das ich von Marko Martin gelesen habe. In jenen seiner Werke, die ich bisher gelesen habe, ist er mir als ein Autor mit einem klaren ethischen Kompass begegnet. Ich mag Marko Martin wegen seiner politischen Standfestigkeit, wegen seines unverschämten Humors, vor allem schätze ich ihn wegen seiner Unerbittlichkeit gegen intellektuelle Faulheit und moralische Bequemlichkeit. Diese Eigenschaften machen Marko Martin zurecht zu einem »wahren Humanisten«, wie ihn die aktuelle Friedenspreis-Trägerin des Deutschen Buchhandels Anne Applebaum geadelt hat. Wenn einer intellektuell und empathisch in der Lage ist, dem jüdischen Leben nach dem 7. Oktober 2023 nachspüren, dann ist es Marko Martin.
Der 1970 im sächsischen Burgstädt geborene Autor ist vieles: Ein Schriftsteller, ein Journalist, vor allem ist er ein Reisender. »Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin.« Diese Beschreibung findet sich immer wieder in seinen Publikationen. Auf diesen Reisen trifft er auf Menschen, schließt Bekanntschaften, oft genug auch Freundschaften. All diese Begegnungen sind seismische Analysen der kulturellen Unterschieden und der human(istisch)en Gemeinsamkeiten. Martin lässt Menschen sprechen und damit die Umwelt und Umgebung, in denen jene leben.

Marko Martin lebt nicht nur gerne in anderen Ländern, er lebt auch wahnsinnig gerne mit den Denker:innen des 20. Jahrhunderts. Nicht x-beliebige Denker:innen, sondern jene Zeug:innen eines Zeitalters der Extreme, für deren Gefährdungen diese wiederum ein feines Sensorium ausgebildet haben. Sie alle weisen einen intellektuellen Erfahrungsraum auf, der in der Dissidenz geprägt wurde. In seinem Buch »Dissidentisches Denken« beschreibt Martin diese Widerspenstigkeit als ein Denken gegen den Strich, gegen die Extreme, gegen links wie gegen rechts. Ein Denken, das dennoch nicht im Mainstream der Mitte endete. In »Brauchen wir Ketzer?« porträtiert Martin säkulare jüdische Schriftsteller:innen, politisch eher links stehend oder zumindest liberal, aber eben keine prominenten »Exkommunisten«. Auch diese Intellektuellen weisen ein Denken ohne Rage und eine Sprache ohne Pathos auf. Stattdessen mit großer Klarheit.
Es verwundert nicht, dass sich in »Und es geschieht jetzt« ein Zitat eines jener Männer findet, den Marko Martin tief verehrt – Manès Sperber. Es betont das Dilemma, das der 7. Oktober 2023 hervorgerufen hat, und formuliert zugleich einen Handlungsauftrag: «Es ist weniger die Hoffnung, die mich antreibt, als die kategorische Zurückweisung der Mutlosigkeit.«
Dabei hat der 7. Oktober 2023 nichts unversucht gelassen, Hoffnung zu begraben und Mutlosigkeit in die Welt zu tragen. Für ein Land, für die Bewohner:innen Israels und den Jüdinnen und Juden, die irgendwo auf der weiten Welt zu Hause sind. Zu diesem Datum nur wenige Fakten: Die Hamas überraschte Israel mit einem Terrorangriff aus dem von ihr beherrschten Gebiet des Gazastreifens heraus. Sie ermordete an diesem Tag in Israel über 1.200 Personen, mehrheitlich israelische Zivilisten, und entführte weitere 239 Personen. An keinem Tag nach dem 8. April 1945 sind so viele Jüdinnen und Juden ermordet worden. Barbarische Akte pseudoreligiöser Eiferer und politischer Terroristen. Der 7. Oktober ist der 11. September Israels, deshalb stößt man bei Martin auch immer wieder auf das Kürzel 10/7 in Analogie zu 9/11. Ich habe mir keines der Videos angeschaut, in denen das Morden und Schlachten, Erniedrigung und Demütigungen gezeigt wurde. Um zu wissen, wer an diesem Tag Täter und wer Opfer ist, brauche ich dies nicht.
Auch Marko Martin weiß, wer Täter und wer Opfer ist. Er weiß es umso besser, weil er sich mit Menschen getroffen hat, mit ihnen gesprochen hat, die in den traumatischen 7. Oktober verwoben sind. Als Eltern, als Kinder, als Freunde von Personen, die getötet oder entführt wurden. Sein Buch beinhaltet die zentrale Botschaft, nicht aufhören gegen Terror und Unrecht zu demonstrieren, sondern zu versuchen, die Dinge beim Namen zu nennen. Zu sagen, wer ermordet wurde und durch wen. Kein Verständnis für Mörder zu zeigen oder Erklärungen zu finden, warum die Opfer nicht schuldlos an ihrer Ermordung sind. Wie wenig selbstverständlich, aber wie umso wichtiger diese Botschaft ist, zeigt sich in vielen Aktionen und Diskussionen vor allem derjenigen, die sich vermeintlich immer auf Seite der Opfer gestellt haben wollen. Intellektuelle Verwirrung allerorten, beschämende Gefühllosigkeit überall.
Die mangelnde Empathie und die ausbleibende Solidarität der Deutschen gegenüber den Opfern in Israel sind die erschreckendsten und zutiefst beschämenden Erfahrungen, die Menschen jüdischen Glaubens hier in der Bundesrepublik erfahren durften. Der häufige Versuch, Logiken umzudrehen, rumzuschwurbeln, bis die Hamas das eigentliche Opfer sei und damit frei von Schuld, sowie die Wiederkehr beziehungsweise die Neuauflage alter antisemitischer Vorurteile auf ganz rechter wie ganz linker Seite haben viele Jüdinnen und Juden erkennen lassen, dass der bundesrepublikanische Antisemitismus wohl nur eine durch eine feine Firniss von den meterdicken, jahrhundertealten Vorurteilen getrennt war.
Mit Menschen, die diese Erfahrung in Deutschland machen, tauscht sich Marko Martin aus. Er zieht das direkte Gespräch den feuilletonistischen Analysen vor. Und weil er auch in Israel viele Freund:innen hat, weiß er auch von denen, die menschlich solidarisch sind und bleiben: »Aber Saad ist doch weder repräsentativ noch nicht repräsentativ. Es ist gut, dass es ihn gibt – ihn und seine Mama und seine Freunde. Und Mimoun, den ‚Schwarzen Marokkaner‘. Und Baruchs muslimische und jesidischen Arbeitskollegen. Sie und so viele andere, deren Namen und Geschichten wir noch gar nicht kennen.« Menschlichkeit ist möglich, wenn nicht gar selbstverständlich.
Was den Jüdinnen und Juden hier in Deutschland und in Israel seitens der Deutschen widerfährt, ist mit einem Begriff zu fassen, den Judith Shklar einmal als »Passive Ungerechtigkeit« bezeichnet hat. Der beste deutsche Kenner dieser jüdisch-amerikanischen Politologin und Schülerin von Hannah Arendt, Hannes Bajohr, hat erst kürzlich Shklars Konzept der Passiven Ungerechtigkeit auf das Problem des Klimawandels heruntergebrochen. Dabei schreibt Bajohr, dass ein Katastrophenfall neben zu langsamer oder fehlender Reaktion auch in unzureichender Vorsorge bestehen oder sich darin zeigen kann, dass man sich nach dem Ereignis nicht oder nur unzureichend um die Opfer kümmert. Und weiter: »Passiv ungerecht ist demnach auch, wer sich weigert, den Opfern möglicher anthropozänischer Ungerechtigkeit Gehör zu schenken und mit ihnen in eine Debatte darüber einzutreten, was ihre Erfahrung für die Gestaltung politischer Freiheitsräume bedeutet.« Was für Opfer des Klimawandels gilt, gilt ebenso für Menschen, die Opfer religiös-politischer Barbarei werden.
Dieser Zugriff schließt sich an Überlegungen von André Glucksmann über eine Moral der ersten Hilfe. Es ist eine Ethik, die auf verstiegene Letztbegründungen verzichtet und stattdessen danach Ausschau hielt, das Schlimmste zu verhindern, Menschenleben zu retten und auf etwas Humanes hinzuarbeiten. Das klingt nicht nach großem Wurf, sondern nach mühevoller Stückwerk-Arbeit. Notwendige Arbeit, Stück für Stück…
Von hier ist es für Marko Martin nicht mehr weit, auf Tikkun Olam zu verweisen. Es ist ein Jahrtausende altes jüdischen Gebot, eine Ethik, das von der «Reparatur der Welt« spricht. Nicht von der Rettung, sondern von der Reparatur, gemeint als erste Hilfe, als mentale und lebenspraktische Notfallskills. Es gilt zu helfen. Und es gilt, jetzt zu helfen.
Wem Martins Sympathien gelten, ist klar. Und doch ist auch für ihn klar, dass Eindeutigkeiten oft weniger eindeutig sind als erhofft. Die Dilemmas sind gespickt von Uneindeutigkeiten, Ungerechtigkeiten, tragischen Verstrickungen, Ambiguitäten und schrecklichen Sekunden-Entscheidungen zwischen falsch und womöglich etwas weniger falsch. Selbst bei klaren Unterscheidungen zwischen Schwarz und Weiß können sich Grautöne mischen.

Marko Martin ist ein beklemmend beeindruckendes Buch gelungen. Er nimmt sich zurück, er hört zu und lässt andere zu Wort kommen. Es geht nicht um ihn, es geht um jene, die Schrecklichstes erlebt haben und die nun mit den Traumata leben müssen. Es ist zugleich sein intimstes Buch geworden, weil er Einblick gibt in seine Freundschaften. In seine Hilflosigkeit und in seine Überforderung. Hier schreibt keiner aus der Sicherheit seines Schreibtischs über die Dinge, die ihm angetragen wurden. Marko Martin interagiert mit den Menschen, mit seiner Umwelt und bemüht sich, inmitten dieses Irrsinns seinen Überzeugungen einer zugewandten, einer emphatischen Welt gerecht zu werden.
Oft genug fällt gerade dies ihm schwer und ein wütendes Unverständnis bricht sich Bahn. Die moralischen Dilemmas sind überall. Nicht umsonst führt er ein Zitat von Golda Meir an: «Wir können den Arabern verzeihen, dass sie unsere Kinder umbringen. Aber wir können ihnen nicht verzeihen, dass sie uns zwingen, ihre Kinder umzubringen.« Wir verdanken einem wahren Humanisten ein wertvolles Buch.