Marko Martin erinnert in »Brauchen wir Ketzer?« mit Bezügen zu Dissidenten wie Friedrich Torberg oder Hilde Spiel an die Werte der Aufklärung und der gesellschaftlichen Emanzipation. Zeitlose Werte, für die man sich ständig engagieren muss. Politik in einer Demokratie lässt sich nicht outsourcen, sie ist Bürgerpflicht.
Um die Verhältnisse der Gegenwart adäquat zu beschreiben, wird gerne der Begriff der Polykrisen angeführt. Da ist die Corona-Pandemie, die im März 2020 Deutschland erfasste, das Privat- und Arbeitsleben in den beiden Folgejahren in neue Normalitäten stürzte und die, schaut man auf die aktuellen Infektionszahlen an, immer noch nicht vergangen ist. Dann der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022, der den Krieg, den Russland seit 2014 gegen sein Nachbarland begonnen hatte, für den Rest der Welt offensichtlich machte. Und nun der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, dem 1.200 Menschen zum Opfer fielen. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges hatte es kein solches Massaker an Jüdinnen und Juden gegeben. Und parallel zu diesen Krisen geht der menschengemachte Klimawandel in großen Schritten weiter. Schon Anfang Dezember 2023 war klar, dass es global gesehen das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen Mitte des 19. Jahrhunderts sein wird. Die Welt ist im Krisenmodus, und zwar allerorten.
Als ich mich kürzlich mit einem ehemaligen Kollegen aus der grünen Bundestagsfraktion traf, verwies dieser auf die Krisen, die die damalige rot-grüne Koalition in ihrer Amtszeit zwischen 1998 und 2005 bewältigen musste: Die Kriege in Ex-Jugoslawien, die erste Kriegsbeteiligung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, der 11. September 2001, der beinahe 3.000 Menschen das Leben kostete, die darauf folgenden Vergeltungskriege der USA und ihrer Koalition der Willigen gegen Afghanistan und den Irak, die den Nahen Osten auf Jahrzehnte destabilisierte, die Jahrhundert-Flut im Sommer 2002, der ökonomische Stillstand und die desaströsen Staatsfinanzen als Erbe der Regentschaft Helmut Kohls, die zur Agenda 2010 führten und die Parteienlandschaft in Deutschland veränderte. Auch das waren bewegte und bewegende Jahre – ebenfalls im Krisenmodus.
Weder diese Zeit noch unsere Gegenwart lassen sich jedoch mit dem Krisenjahr 1938 vergleichen: Dem Anschluss Österreichs im März 1938 folgte im Herbst die Sudetenkrise und das Münchner Abkommen, ohne dass die Tschechoslowakei an den Verhandlungen in München vertreten war, die Abtretung des Sudetenlands an das Deutsche Reich im Oktober sowie die anschließende Zerschlagung und Besetzung der Rest-Tschechoslowakei im März 1939. Währenddessen tobte der Spanische Bürgerkrieg, in der Sowjetunion der Große Terror und im Deutschen Reich im November die Reichskristallnacht. Terror und Krieg allerorten im aufgeklärten Europa.
Von Menschen, die in diesen Verhältnissen sozialisiert wurden, handelt das Buch »Brauchen wir Ketzer?« von Marko Martin. Es ist eine Sammlung von Portraits von bekannten wie vergessenen »Stimmen gegen die Macht«. Dem Autor geht es dabei nicht um eine »Ehrenrettung für Verkannte«, sondern um eine Einladung, deren Biografien und Bücher neu, wieder oder vielleicht auch anders zu entdecken.
Marko Martin schließt hier an sein Buch »Dissidentisches Denken« an, ohne dessen Fortsetzung zu sein. In ihm hatte er seine Reisen zu den Zeugen jenes Zeitalters geschildert, die alle ein feines Sensorium aufwiesen, das ihr Denken in der Dissidenz geprägt hat. Martin schilderte dies als Denken gegen den Strich, gegen die Extreme, gegen links wie gegen rechts. Ein Denken, das dennoch nicht im Mainstream der Mitte endete. Vielleicht ist es die Gewissheit, die diese Dissidenten an der eigenen Seite spüren, die ihnen ein Denken ohne Rage und ein Formulieren ohne Pathos ermöglicht. Stattdessen mit großer Klarheit.
In »Brauchen wir Ketzer?« porträtiert er nun säkulare jüdische Schriftsteller:innen, politisch eher links stehend oder zumindest liberal, aber eben keine prominenten »Exkommunisten«. Unter den Portraitierten mögen Anna Seghers, Primo Levy und Stefan Heym noch in der Breite bekannt sein. Einige mögen auch etwas mit dem Namen Marcuse anfangen, aber eben nichts mit dem Lebensweg von Ludwig Marcuse. Und schon gar nicht wissen wir um die Biografien und Bücher von Hans Habe oder Hilde Spiel, Friedrich Torberg oder Alice Rühle-Gerstel, Hermann Broch, Leo Lania oder Fritz Beer.
Von bekannt klingenden Namen wie Stefan Heym erfahren wir hier Neues über dessen Lebensweg von Chemnitz nach Ostberlin, über dessen langjährigen Zwischenstationen in Mitteleuropa oder im amerikanischen Exil; von dort zurück nach Europa als Soldat der US-Army and back again to New York, um sich schließlich via Prag 1953 in der DDR niederzulassen. Gerade an Heym werden die konzeptionellen Parallelen dieser Portraits mit denen in »Dissidentisches Denken« offensichtlich.
Marko Martin nimmt Menschen so ernst wie ihre Bücher. Er mag sie und er möchte sie, sofern dies möglich ist, persönlich kennenlernen. So etwa auch Stefan Heym, dem er noch zu DDR-Zeiten einen Brief schrieb und ihn in Berlin-Grünau besuchte. Thema dieses Gespräches war das Bleiben und Widerstehen im Falschen oder der Aufbruch in das unbekannt vermeintlich Richtige. »Weggehen ändert gar nichts, junger Mann« – an diese mahnenden Worte erinnert sich Martin nun und ergänzt, dass Heym »in jener kleinen miesen DDR doch auch überhaupt nichts verändern wollte, sondern sich dort nur ein bisschen weniger verloren, weniger einsam und isoliert fühlen wollte«.
In den Büchern von Marko Martin erfährt man nie nur über die von ihm porträtierten Menschen, sondern immer auch über ihn Neues. Denn das, was Martin mit den Worten »verloren«, »einsam« und »isoliert« benennt, ist eine fundamentale andere Verlorenheit, Einsamkeit und Isolation, wie sie junge Menschen seines damaligen Alters in West-Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern empfunden haben. Es ist keine pubertäre Isolierung, Vereinzelung und Verlorenheit, sondern eine politische. Etwas, zu dem nur autoritäre und totalitäre Politsysteme willens und fähig sind. Es ist diese Erfahrung, mit denen Marko Martin seinen Ketzern, Häretikern und anderen klugen Menschen begegnet. Es ist diese Erfahrung, mit der der 1970 im sächsischen Burgstädt geborene Essayist die Essenzen der politischen und gesellschaftlichen Botschaften eines Ludwig Marcuse, eines Primo Levi oder einer Anna Seghers destillieren kann.
In »Dissidentisches Denken« findet sich ein Zitat von Czeslaw Milosz: »Im Westen spaziert man durch das Leben, während man im Osten durch die Geschichte kriecht.« Dieses Zitat hatte mich schon damals sehr berührt und beschäftigt. Wenn ich Bücher von Marko Martin lese, der nur 13 Monate jünger ist als ich, wird mir persönlich immer bewusst, wie sehr ich Westdeutscher mit einer ungebrochenen Westbiografie bin, deren Flachheit, Vorhersehbarkeit und Langeweile sich nicht vergleichen lässt mit dessen mehrfach gebrochenen Ostbiografie. Ich hatte als Westdeutscher das »Ende der Geschichte« bereits verinnerlicht, bevor der Eiserne Vorhang fiel. Nicht wissend um die Konflikte, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in die zweite Hälfte trug, fehlt mir jenes Sensorium, aktuelle Konflikte mit gleicher Luzidität, Rigorosität und Bestimmtheit zu analysieren und bewerten, wie es Martin gegeben ist.
Es ist eben ein Unterschied, ob man auf das Ende wartet oder das Ende herbeiführt. Insofern ist Marko Martin ein Kind des 20. Jahrhunderts, das das Erbe jener Jahrzehnte in das 21. Jahrhundert übersetzen kann. Mir ist dies aufgefallen, als ich die Worte las, die Bruno Kreisky über Friedrich Torberg bei dessen Beerdigung sagte: »Friedrich Torberg war verwurzelt in der Welt von gestern, aber er hat ein großes Stück hinübergerettet in die Welt von heute, und er hat uns ein Erbe verwaltet, das nicht vertan werden sollte.« Auch Marko Martin ist verwurzelt in der Welt von gestern und er hat ein großes Stück hinübergerettet in die Welt von heute. Martin verwaltet dieses Erbe für uns und es liegt an uns, dieses Erbe zu würdigen.
Und seine Texte schenken uns noch mehr, nämlich die Erkenntnis, welch bedeutender Kulturraum Mittel- und Osteuropa war. Die Biografien, von denen der Autor berichtet, sind ohne die Städte Berlin, Charkiw, Prag, Wien nicht denkbar. Wir vergessen heute oft, dass von Berlin aus gesehen Minsk etwa so weit entfernt ist wie Paris, Lemberg etwa so weit wie Basel, Warschau näher liegt als Zürich und die Entfernung nach Rom etwa der nach Odessa entspricht.
Die Jahre zwischen 1945 und 1990 haben uns Westsozialisierte von diesen Städten in Osteuropa entfremdet. Ein Wochenendtrip nach Barcelona ist für uns wahrscheinlicher als einer nach Warschau. Für mich begann erst vor wenigen Jahren ein mühevolles Kennenlernen Polens, ein Land, mit dem ich familiär verbunden bin. Marko Martin hat mir gezeigt, dass Europa mehr ist als Italien, Frankreich und Spanien.
Es ist ein besonders Glück, dass »Brauchen wir Ketzer?« beim Arco-Verlag veröffentlicht wurde, jenem Wuppertaler Verlagshaus, das sich auf Literatur aus Mitteleuropa spezialisiert hat. Nicht zuletzt spielt der Name des Verlags auf das Prager Café Arco an, einen Treffpunkt für die böhmische Bohème und bestimmt hielt sich der eine oder die andere Porträtierte dort auf.
Seinen Portraitierten begegnet Marko Martin mit großem Wohlwollen, ohne sich mit ihnen gemein zu machen. Er erkennt ihre Stärken, ohne ihre Schwächen – menschliche, politische, ästhetische – zu übersehen. Über Hilde Spiel schreibt er etwa, dass ihre Aussagen »von atemberaubender Ignoranz und Unkenntnis des Moskauer Systems« seien. Nur wenige Seiten später aber wirkt er beeindruckt von ihrem politischen Gespür, Dinge richtig einzuschätzen. So erlebte Hilde Spiel im Jahr 1969 ein Konzert der Rolling Stones im Londoner Hyde Parkt: Trotz des Rausches der Zeit und der Musik nahm sie Embleme und Abzeichen jener wahr, die als Ordner für den Schutz der Konzertbesucher:innen fungierten. »Mit Nazihelmen und Hakenkreuzbinden als düster-höhnische Symbole ihrer Macht, hatten sie jene Ordnungsgewalt, die Hippies selbst nicht ausüben mögen, für sie übernommen«, heißt es da. »Ob den seligen Kindern die Ironie, die Gefahr dieser Terrorgruppen in ihrer Mitte ausreichend bewusst war? Wohl kaum.« Liebend gerne sourcen wir ach so aufgeklärten, Linksliberalen Fragen der äußeren und inneren Sicherheit an jene Menschen aus, die wir dann als strukturell rassistisch und gewaltverherrlichend beschimpfen. All Cops Are Bastards – ein Satz beschämender Menschenfeindlichkeit.
Nicht nur an dieser Stelle gewinnt das Buch an beklemmender Aktualität. Wie klar der moralische Kompass jener Porträtierten, egal ob sie später in der BRD oder in der DDR lebten, zeigt sich an ihrem Verhältnis zu Israel. An diesem Land arbeitet sich nicht nur die aktuelle linke Kulturszene ab, sondern bereits deren Vorgängergenerationen. Dabei verflossen immer wieder die Grenzen zwischen Anti-Israelismus und blankem Antisemitismus. Nicht erst seit dem 7. Oktober 2023, sondern schon beim Sechstagekrieg 1967 und dem Jom-Kippur-Krieg 1973 entsolidarisierten sich weite Teile der westlichen Linken sowie manch Liberale von Israel. Und als 1991 Israel von Saddam Hussein mit R-17-Raketen beschossen wurde, war dies für Hans-Christian Ströbele, dem damaligen Sprecher der Grünen, »die logische, fast zwingende Konsequenz der Politik Israels«. Eine moralische und politische Fehleinschätzung, die seinem großen Gegenspieler Joschka Fischer nie unterlief. Eine Leseempfehlung, die Marko Martin an dieser Stelle geben würde, wäre vermutlich »Der König David Bericht« von Stefan Heym.
Aber nicht nur die diskursiven Parallelen zu Israel macht »Brauchen wir Ketzer?« so erhellend, sondern ebenso die Einschätzungen zu Freiheit, territorialer Unversehrtheit, Völkerrecht und Krieg. Die Porträtierten hatten, wie Martin schreibt, »Konstellationen und Weggabelungen kenntlich gemacht, Gefahren und Abwiegeleien, Beschwichtigungen angesichts von Bedrohungen«. Es ist beschämend, dass aktuell Parteien wie die AfD und Personen wie Sahra Wagenknecht an Zulauf finden, die den Unterschied zwischen Täter und Opfer, Aggressor und Verteidiger bewusst verwischen oder absichtlich leugnen.
Bücher von Marko Martin
Klar ist und dies formuliert auch Marko Martin in aller Deutlichkeit: Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wird auch dann nicht zu Ende sein, wenn der »Westen« versucht, eine Friedenslösung zu verhandeln, eine gesichtswahrende Lösung für Wladimir Putin zu erarbeiten oder den Interessen Russlands entgegenzukommen, den Konflikt einzufrieren oder mit Kompromissformeln zu deeskalieren. Dieser Krieg mag dann für Monate oder Jahre unterbrochen sein, aber nicht zu Ende. Stattdessen, so schreibt Marin, »wussten Menschen wie etwa Hilde Spiel, die von deutschen NS-Mordmaschinerie noch bis auf die britische Insel verfolgt wurde, jedenfalls sehr genau, wem sie ihr Überleben verdankten – weder »Verhandlungen« noch einer »gesichtswahrenden Lösung« für den Aggressor, sondern der letztlich zum Glück militärischen Überlegenheit der Alliierten und deren entschlossenen Anstrengungen«. Dies gilt auch für das Leben der Ukrainer:innen. Der Krieg, den die Ukraine gegen den Aggressor Russland führen muss, ist ein Krieg in Europa und für die europäischen Werte der Aufklärung und Emanzipation. Es ist an den Europäern, ihn zu beenden. Und das hieße, ihn siegreich für die Ukraine enden zu lassen. Wir dürfen das nicht vor allem oder gar ausschließlich an US-amerikanische Steuerzahler:innen im Mittleren Westen outsourcen. Wenn doch, wird Europa die gesamten Kosten und die zukünftigen Konsequenzen des Krieges tragen müssen.
»Brauchen wir Ketzer?« ist ein Buch beeindruckender Tiefe. Es speist sich aus der Intellektualität, der politischen Klugheit, den Erfahrungen und Lebenswegen jener Frauen und Männer, die dem »Zeitalter der Extreme« ausgesetzt waren. Es speist sich aber auch aus der Fähigkeit und der Sensibilität eines Marko Martins, dies zu erkennen, zu destillieren und zu komprimieren, um es uns in unsere Gegenwart zu übersetzen. Es ist seiner Liebe zu Büchern und Schriften zu verdanken, dass er uns jene Perlen verdichteter Weisheit erhält, wie etwa jene Sentenz von Friedrich Torberg: »Wer sich nicht um die Politik kümmert, muss damit rechnen, dass sie sich eines Tages um ihn kümmert.«
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