Comic

Der Araber von Morgen wird erwachsen

Die ersten fünf Bände von »Der Araber von Morgen« bestachen durch ihren Erzählreichtum, ihre facettenreichen Schilderungen des Lebens in Libyen und Syrien, die guten Beobachtungen des Alltags und Charakterisierungen der Personen, vor allem des Vaters des Erzählers. Mit dem sechsten Band schließt Riad Sattouf nun dieses Epos aus Beobachtungen, Details und großen Linien. Und auch wenn es verständlich ist, dass die Erzählung endet, schade ist es. Nach sechs Bänden möchte man nicht mehr von der Geschichte lassen.

In »Der Araber von Morgen« (»L’Arabe du futur«) erzählt Riad Sattouf in sechs autobiografischen Bänden die Geschichte seiner Familie, vom Kennenlernen der Eltern bis zu seiner endgültigen Selbstständigkeit. Zu Beginn des sechsten Bandes der Fortsetzungsreihe ist Riad »sechzehn und ein Semipsychopath«, wie er sich mit Realismus und Komplexen eingesteht. Mit seinem Äußeren ist er alterstypisch äußerst unzufrieden, Computerspiele sind die Hauptbeschäftigung in der Freizeit, und das bleibt nicht ohne Folgen für die Schulnoten.

Riad Sattouf: Der Araber von Morgen. Aus dem Französischen von Andreas Platthaus. Penguin Verlag 2023. 184 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen.

Das wäre ja noch alles im – wenn auch unerfreulichen – Rahmen, aber bei den Sattoufs ist die Adoleszenz des ältesten Sohnes nur ein kleiner Teil des Problems: Die Eltern sind inzwischen geschieden, der syrisch-stämmige Vater hat den jüngsten Sohn in seine Heimat entführt und die bretonische Mutter mit den zwei älteren Söhnen im westfranzösischen Rennes zurückgelassen. Die Mutter wird durch die Entführung aus der Bahn geworfen und ist immer wieder depressiv. Sie versucht verzweifelt, ihren Sohn zurückzuholen und vertraut dabei auf windige Anwälte und eine Hellseherin.

Die Ausgangslage könnte für den jungen Riad also kaum schlechter sein. Doch das Blatt dreht sich: Die Mutter konfisziert Riads Rechner, worauf sich seine Schulnoten immerhin so weit bessern, dass er das Abitur schafft. Gleichzeitig zeichnet er wie besessen, um seinem Ziel, Comicautor zu werden, näher zu kommen.

Inzwischen ist er einer der bekanntesten Zeichner Frankreichs, beim Comicfestival in Angoulême wurde der erste Band seiner autobiografischen Erzählung bereits vor Jahren als bestes Album ausgezeichnet, in diesem Jahr erhielt er den wichtigsten Preis des Festivals. Der abschließende sechste Band hat es zudem in die offizielle Auswahl des Festivals für das beste Album geschafft.

Es ist schließlich Sattoufs Großvater, der ihm nach dem Abitur das Studium in einer Kunstschule in Nantes ermöglicht. Riad stürzt sich kopfüber in die Arbeit, glücklich, dass er sich auf das Zeichnen konzentrieren kann und schafft es bald auf eine renommierte Schule für Animation, die École des Gobelins in Paris. Dort hat er schon bald den ersten Vertrag als Zeichner eines Comics und macht sich Stück für Stück in der Branche einen Namen. Das geht viel langsamer, als es Riad gerne hätte, und die alten Komplexe und Hemmungen, die ihn daran hindern, Freundschaften zu schließen und eine Partnerin zu finden, bleiben ihm erhalten – aber er baut sich Stück für Stück eine Karriere auf.

Riad Sattoufs Reihe »Der Araber von Morgen«

Der zweite große Erzählstrang des Bandes ist seine Abnabelung vom Elternhaus. Die Großeltern werden alt und gebrechlich, was der Mutter zusätzliche Probleme aufbürdet. Riad reagiert auf ihre Bitten, sie bei der Suche nach dem Bruder zu unterstützen zunehmend abweisend. Hatte er früher immer wieder versucht, Mutter und Großmutter diesbezüglich aufzumuntern, versucht er jetzt, so wenig wie möglich damit zu tun zu haben und fährt immer seltener nach Rennes.

Der seit Jahren abwesende Vater dagegen lässt Riad nicht los: im Kopf des Jungen kommentiert er alles abwertend, was dieser tut. Zielscheibe seiner Verachtung ist dabei nicht nur Riad, es trifft auch die gesamte französische Kultur und Gesellschaft. Damit ersetzt der Vater sozusagen den alles kommentierenden Cousin der vorhergehenden Bände, der die Zerrissenheit des Protagonisten zeigte, der sich zwar mittlerweile in Frankreich vollkommen heimisch fühlt, den aber seine Jahre in arabischen Ländern ebenso geprägt haben.

Der echte Vater in Syrien schickt immer wieder Briefe, in denen er Riad auffordert, zu ihm zu kommen und seine Kunst zugunsten einer Laufbahn als Doktor aufzugeben. Der Kontakt zu seinem Bruder in Syrien zeigt ihm zudem, dass der Vater den Bruder instrumentalisiert oder aber dass der Bruder bereits so sehr den Standpunkt des Vaters eingenommen hat, dass er gar nicht mehr nach Frankreich zurück will.

Die Abnabelung ist entsprechend schwierig, zumal der junge Student voller Unsicherheit steckt. In seiner gefängnisähnlichen Erdgeschoßbude in Paris suchen ihn Depressionen heim, immer wieder strecken ihn Migräneanfälle tageweise ins Bett. Er braucht also dringend Hilfe. Immerhin: Die Therapeutin rät ihm, sich auf Sehschwäche testen zu lassen. Ein sehr guter Tipp, denn die neue Brille beendet die Migräneanfälle. Und auch sonst tut ihm die Therapie gut. Irgendwann ist tatsächlich des Vaters Stimme aus dem Kopf verschwunden, und Riad wird zunehmend glücklicher.

Riad Sattouf, Jahrgang 1978, wurde ab 2004 unter anderem mit der Serie »La Vie secrète des jeunes« für das Satiremagazin Charlie Hebdo und einer Serie um die Figur Pascal Brutal bekannt. Die beiden angesprochenen Werke zeichnen sich durch einen ziemlich derben und sexualisierten Humor aus. Ähnlich arbeitet auch sein Kinofilm »Les beaux gosses« (»Jungs bleiben Jungs«), der im Stil einer Teenie-Komödie keine Peinlichkeit auslässt, die das Thema zu bieten hat.

Dagegen erzählt Sattouf den »Araber der Zukunft« wie schon in den vorhergehenden Bänden mit viel Ironie und Witz. Der Schwerpunkt ist auf kleineren Beobachtungen. Der Zeichenstil, bei den Figuren oft unrealistisch und leicht überzeichnet, erfasst ansonsten viele wichtige Details. Die Architektur beispielsweise zeigt sehr schön, wie die Protagonisten in der arabischen Welt und auch in Frankreich leben. Das geht vom Haus in Syrien, das erahnen lässt, wie unfertig dort die Bauten auf dem Land gelassen werden, über das klassisch bretonische Haus der Großeltern bis hin zu den Fensterläden der Familienwohnung in Rennes, die klar auf sozialen Wohnungsbau in Frankreich verweisen. Die sehr gute Übersetzung von Andreas Platthaus, der auch schon die anderen Bände übertragen hat, schafft es, die verschiedenen Sprachniveaus aus dem Französischen auch im Deutschen anklingen zu lassen.

War in den vorhergehenden Bänden der Vater oft die zentrale Figur, deren Veränderung zu einem autoritären, traditionalistischen Menschen den unterliegenden roten Faden bildet, ist hier die Abgrenzung zu ihm und das Erwachsenwerden Riads die zentrale Erzählung. Das macht den Band ein bisschen zu einem Sonderfall in der Reihe, vor allem gegen Ende: Der Vater, so erfährt Riad per Mail, stirbt, und der kleine, mittlerweile erwachsene Bruder, der seinen Geschwistern eigentlich entfremdet ist, flieht vor dem in Syrien ausbrechenden Bürgerkrieg nach Frankreich. Zu Beginn dieser unverhofften Wiedervereinigung endet der Band, und Riads Blick auf die Welt ist optimistisch und von Selbstsicherheit geprägt. Dass damit das Ende der Erzählung gekommen ist, ist, wie gesagt, verständlich. Doch man hätte doch noch gerne ein bisschen mehr erfahren. In einem siebten Band oder so….