Literatur

Wenn Texte atmen

Pünktlich zum Österreich-Schwerpunkt auf der Leipziger Buchmesse erscheint »Literatur und Kritik« in neuem Gewand. Unter der neuen Herausgeberin Ana Marwan zeigt sich die österreichische Zeitschrift auf der Höhe der Zeit: vielfältig, offen und innovativ.

30 Jahre lang hatte Karl-Markus Gauß die Zeitschrift geleitet, im vergangenen Jahr gab er seine Rolle als Chefredakteur und Herausgeber an die 25 Jahre jüngere slowenische Schriftstellerin Ana Marwan ab. Unabhängig davon waren beide im vergangenen Jahr in aller Munde, Gauß aufgrund seiner Auszeichnung mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung im Frühjahr, Marwan im Sommer mit dem Gewinn des Ingeborg-Bachmann-Preises für ihre Erzählung »Wechselkröte«. Es sorgte daher für Aufsehen in der deutschsprachigen Literaturszene, als der Otto-Müller-Verlag im Dezember mitteilte, dass sich Gauß zurückzieht und Ana Marwan an seine Stelle neben Verleger Arno Kleibel rückt.

Nun sind rechtzeitig zur Leipziger Buchmesse mit dem Gastland-Schwerpunkt Österreich die ersten beiden Ausgaben erschienen. Mit »Neuanfänge« ist die erste Ausgabe unter Marwans Leitung betitelt und diese fallen vor allem in der luftigen und vielsagenden Grafik auf. Die durchweg lesenswerten Texte sind mal in Doppelspalten, mal ohne Spalten gesetzt. Immer wieder nimmt sich der Textsatz Freiheiten, reagiert auf textliche Besonderheiten oder schlichte Verweise. Zugleich nimmt er sich Raum, lässt die Texte atmen, selbst dann, wenn es eng wird. Dann oft drängen die Texte bis an die äußersten Ränder und versinken zugleich in sich und dem schwarzen Graben in der Heftmitte. Der schwarze Balken, auf den man da immer wieder stößt, ist Hort des Wortes. So wie die Buchstaben unverdächtig in ihn hineinrutschen könnten, könnten sich auch neue Textfluten aus ihm erheben.

Das wirkt vielversprechend, vor allem, wenn man die Ausgabe mit einem der klügsten Texte eröffnet, die bislang zum Ukrainekrieg erschienen sind. Die in Sarajevo lebende bosnische Autorin Adisa Bašič schreibt, »In jedem Krieg erleiden wir von vornherein eine Niederlage« und schert dabei aus aus der Spirale der Schuldzuweisung der unterschiedlichen Lager. »Unsere Anstrengungen müssten einheitlicher und größer sein, und zwar in den Jahren, Monaten und Tagen bevor der Krieg ausbricht«, heißt es da etwa oder »Die Leben der betroffenen Menschen sind dauerhaft geschädigt, und das müsste offen so gesagt werden.«

Marwan hat, wie es sich für eine solche Zeitschrift gehört, weitere literarische Texte, Prosa wie Lyrik, eingesammelt, Michael Stavarič, Stefan Maurer und Ljuba Arnautović gehören zu den bekanntesten Namen. Bemerkenswert ist hier vor allem die internationale Ausrichtung, es finden sich begrüßenswert viele literarische Stimmen aus den benachbarten osteuropäischen Ländern in dem Heft.

»Unsere Anstrengungen müssten einheitlicher und größer sein, und zwar in den Jahren, Monaten und Tagen bevor der Krieg ausbricht.«

Adisa Bašič

Den Literaturen folgen Beiträge in klassischen Kategorien, Helmut Neundlinger schreibt in den »Korrespondenzen« an die tote dänische Schriftstellerin Inger Christensen, Karin Peschka spricht in »Wissenschaft erzählt« mit Philipp John über Physik und Mathematik und der slowenische Literaturwissenschaftler Tomislav Virk denkt unter dem Motto »Kritik der Kritik« über literarische Interpretationen zwischen Hermeneutik und Ideologie nach.

In »Kritik und Literatur« setzen sich verschiedene Autor:innen mit den Werken von Schriftsteller:innen wie Gerhard Roth, Marianne Fritz oder Cvetka Lipuš auseinander, bei denen man durch die Bank nur dazulernen kann. Alles in allem ein sehr gelungener Neuanfang, der mit Vielfalt und Innovation neugierig macht. Auf die Sonderausgabe zum Leipziger Gastland, die dem Autor zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Textes nicht vorlag, kann man sich nur freuen.


Ana Marwan: Wechselkröte. Otto Müller Verlag 2022. 60 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen. | Ana Marwan: Verpuppt. Otto Müller Verlag 2023. 220 Seiten. 24 Euro. Hier bestellen.

Zu den rund 200 Autor:innen aus Österreich, die in Leipzig zu Gast sind, gehört neben Bestseller-Autor:innen wie Arno Geiger, Teresa Präauer, Raphaela Edelbauer oder Robert Seethaler auch Ana Marwan. Sie bringt ihre preisgekrönte Erzählung »Wechselkröte« und ihren packenden Anti-Roman »Verpuppt« mit, der vor wenigen Wochen erschienen ist. Darin erzählt sie von Rita, die ihre Probleme mit der Welt hat. Den Menschen betrachtet sie wie ein Gefäß, in das über die Jahre Meinungen, Verhaltensweisen, Positionen und Gesten eindringen und das eigentliche Innen verdrängen. Sie selbst arbeitet in einem seltsamen Ministerium für Raumfahrt, in dem die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen. »Jede Geschichte ist eine Gewalt an der Wahrheit«, ist Rita überzeugt, diese hier handelt davon.

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