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Kantig (in) die Wirklichkeit brechen

Das Erscheinen von Benjamin von Stuckrad-Barres neuem Roman »Noch wach?« ist im Wortsinn ein Medienereignis, das inmitten neuer Springer-Enthüllungen für Aufsehen sorgt. Während sämtliche Springer- und #MeToo-Bezüge im Eiltempo verarbeitet wurden, wurde die Haptik des Buches links liegen gelassen. Dabei spricht die für sich und Bände.

Seit einer Woche wird über Benjamin von Stuckrad-Barres neuen Roman »Noch wach« emsig diskutiert. Dies liegt nicht nur daran, dass der 1975 in Bremen geborene Autor ein Liebling des Feuilletons ist und seine Werke so sehnsüchtig erwartet werden, wie eine Line Koks morgens um fünf auf der Clubtoilette. Nein, der Roman passt so perfekt zu den aktuellen medienpolitischen Enthüllungen, dass sich der Verlag seine krude Werbekampagne, in der seit Wochen Promis eine Zeile aus dem Roman in ihre Handykameras raunen, hätte sparen können.

Kurz vor dem Erscheinen des Romans wurden in der Zeit nicht nur entlarvende Kurznachrichten von Springer-Chef Mathias Döpfner publik, es ging auch der mehrteilige Podcast »Boys Club – Macht & Missbrauch bei Axel Springer« an den Start, der die Reichelt-Affäre vielstimmig aufarbeitet. Hanna Lakomy trug zudem ihre Erfahrung mit einer anderen Ikone aus dem Boys Club im Springer-Konzern bei. Stuckrad-Barre war selbst jahrelang für den Springer-Konzern aktiv, soll dabei viel, nein sehr viel Geld verdient und mit Döpfner eine jahrelange Freundschaft geführt haben. In seinem neuen Roman erzählt er nun von Machtmissbrauch und #MeToo in einem Medienhaus, weshalb vor allem Medien daraus die ganz große Sache der letzten Woche gemacht habe. Es ist halt doch niemand vor Selbstreferentialität gefeit.

Ein Schriftsteller auf fiktionaler Mission, Benjamin von Stuckrad-Barre im Spiegel-Interview.

Das Feld war also bereitet, als »Noch wach?« am vergangenen Mittwoch an den Start ging. Der Spiegel durfte vorab ein Exklusiv-Interview mit dem Autor führen, der sowohl auf den Pressefotos des Verlags als auch auf der das Interview begleitenden Bildstrecke wie ein gleichermaßen selbstbewusster wie selbstbesoffener Vertreter des Boys Club wirkt, der sich auch nicht zu blöd ist, maximal wirklichkeitsdistanziert in den Redaktionsräumen eine Zichte anzustecken. Aber gut, lassen wir das, hier soll es mehr um die Aufmachung des neuen Romans als die des Autors gehen, wenngleich dabei einige Interviewaussagen herangezogen werden.

»Noch wach« ist, wie fast alle Neuerscheinungen, als stabile Hardcover-Ausgabe erschienen, deren Gestaltung alles andere als dem Zufall überlassen ist. Das Buch kommt als kompakter Ziegel daher, der klare Kante beweist und damit Souveränität, Geradlinigkeit und Kraft ausstrahlen soll. Hier hat man etwas Seriöses in den Händen, eine Geschichte, die in all ihrer haptischen Aufmachung auch inhaltlich als absolut belastbar wahrgenommen werden soll. Und glänzend geschrieben ist sie zudem, zumindest lässt die Hochglanzoptik der Buchillustration darauf schließen. Oder soll das eher auf Blendwerk hindeuten? Nein, das wäre wohl ein Eigentor.

Auf einen Schutzumschlag hat der Verlag verzichtet, denn hier muss nichts und niemand geschützt werden. Das Buch nicht, die Welt, von der es erzählt, nicht, und auch die Figuren nicht, die darin vorkommen. Hier macht sich einer ehrlich und das Buch kommt diesem Anspruch mit seinem geraden, unbeugsamen (Buch)Rücken nach. Nix Rundes oder Anschmiegsames soll dieses Buchobjekt haben, sondern kantig (in) die Wirklichkeit brechen. Angesichts der dem Buch nachgesagten Realitätsbezüge im Kontext zum Springer-Konzern und möglichen #MeToo-Verhältnissen eine strategisch clevere Entscheidung. Auch wenn Stuckrad-Barre allenthalben betont, dass es sich »auf gar keinen Fall« um einen Schlüsselroman handelt und die Fiktion des Romans wahrer sei als die Wirklichkeit.

Benjamin von Stuckrad-Barre: Noch wach? Verlag Kiepenheuer & Witsch 2023. 384 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen.

Das Cover springt Interessierte in seinem Hell-Dunkel-Kontrast von gelbem Text und blauem Bild geradezu an. Der blaue Farbton erinnert an ein ganz anderes Medienbuch, Rainald Goetz’ Roman »Johann Holtrop«, der als Schlüsselroman über den Medienmanager Thomas Middelhoff und seinem Bertelsmann-Konzern deutsche Literatur- und Mediengeschichte geschrieben hat. Goetz hielt kürzlich in Berlin eine Rede, in der es auch um Döpfner, Bertelsmann und die Zukunft des gedruckten Wortes ging. Benjamin von Stuckrad-Barre wurde dort nicht gesehen.

Während Goetz’ Roman im schlichten Blau daherkommt, knallt von Stuckrad-Barres Buch noch das Gelb runter. Auch Kapital- und Leseband sowie die Vorsatzblätter sind im grell-gelben Farbton gehalten, der wie ein Schrei in die Dunkelheit (des Schweigens) fährt. Hier wird ein Erscheinungsbild durchgezogen, damit keine Missverständnisse aufkommen. Die Ironie der Ereignisse beschert den Umstand, diese Farbwahl – völlig ohne Absicht – wie ein Kommentar auf Döpfners entlarvtes Drängen wirkt, die BILD-Redaktion möge Werbung für die liberale Sache machen. Manchmal wird die Wirklichkeit eben von der Vergangenheit eingeholt.

Das Bild könnte einer Serie von In-Suk Kim entnommen sein. Es zeigt die im dunklen liegende Fensterfront eines dieser gläsernen Bürogebäude, die Transparenz vortäuschen wollen, während in ihrem Inneren die Bündnisse der Macht wirken. Während unten schon die Lichter aus sind (das könnte man angesichts von Inflation und Wirtschaftskrise als gesellschaftspolitische Metapher deuten), ist ein Büro weit oben hell erleuchtet. Von der Inneneinrichtung ist im Gegensatz zu den im Dunkeln liegenden Büros nichts zu erkennen. Als säße dort eine Lichtgestalt, die »noch wach« der Schläfrigkeit unserer Zeit trotzt.

Einen Vorschlag, um welche Lichtfigur es sich handeln könnte, steht nur wenige Zentimeter unter dem erleuchteten Büro. Da prangt in gelben Versalien der Name des Buchautors. Aber gut, wir wollen es nicht übertreiben, der sprechende Buchtitel und die Gattungsbezeichnung sind nicht zufällig größer geschrieben. Sie sind wichtiger. Es soll niemand auf die Idee kommen, dass hier Personenkult betrieben würde. Nichts ist größer als das Werk, auch der Autor nicht.

Obwohl, drehen wir das Buchobjekt noch einmal auf den Bauch, finden wir auf dem Rücken dann doch etwas Personenkult in Form eines FAS-Zitats. Benjamin von Stuckrad-Barre, so erfahren wir da, sehe zwar auch nur das, was wir alle sehen, »er hat bloß schon immer genauer hingeschaut.« Nun gut, angesichts des Komplexes »Springer – Döpfner – Boys Club« oder, um es mit Stuckrad-Barre-Worten zu sagen, »Macht und das Magnetfeld«, das »Tyrannentypen« umgibt, hat der Autor nicht einfach nur genau hingeschaut, sondern war Teil des Ganzen. Zehn Jahre schrieb er für den Springer-Verlag, drei, in manchen Jahren auch vier Texte, wie er im Spiegel-Interview einräumt. »Ich hatte eine herrliche Zeit dort, ich konnte machen, was ich wollte«, erzählte der Popliterat dem Hamburger Magazin. Das ist aber alles vorbei, auch die Freundschaft mit Döpfner. »Da gibt es nichts mehr zu duzen«, wie er im Interview sagte.

Aber zurück zum Buch als Objekt. Sind alle Sinne »noch wach«? Was reizt da das taktile System? Es sind die Großbuchstaben – nein, hier wird nichts klein geschrieben, es geht ums große Ganze – auf dem Buchcover, die sich vom Buchdeckel erheben. Sie sind nicht einfach nur vor das Bild gesetzt, sie leuchten erhaben aus ihm hervor. Gelb ragen sie heraus, stechen hervor, so wie sich dieses glänzende Buch aus der Masse der Neuerscheinungen optisch abheben soll.

Aber sind wir mal ehrlich, gut fühlt sich das schon an, lässt man die Hand darüber gleiten. Da bleibt man spürbar hängen, fühlt sich ein, will tastend mehr erfahren. Das ist in all der Unnahbarkeit fast ein bisschen sexy. Ein Schelm, wer dies als Strategie direkt auf die textliche Ebene (nicht die inhaltliche Handlungsebene!) überträgt.

Wie auch immer man dieses Buch dreht und wendet: Man kommt zu dem Schluss, dass hier, noch bevor man liest, nichts dem Zufall überlassen ist. Dieses Buchobjekt setzt die gigantische Erwartungshaltung der Medienblase an diesen Roman und seinen Autor quasi vorwegnehmend optisch und haptisch um. So wie das tell-Magazin in seinem Page-99-Test feststellte, dass man »Noch wach?« wegen dem Wie und nicht wegen dem Was lesen sollte, sorgt diese aufgeweckte Buchgestaltung dafür, dass man wegen dem Wie und nicht wegen dem Was zu diesem Buch greift.

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