Der Krieg in der Ukraine tobt seit mehr als anderthalb Jahren. Ein Band versammelt nun Briefe ukrainischer Frauen an alle, die nach ihnen kommen. Darin werden nicht nur Gedanken aufgegriffen, die auch andernorts schon Ausdruck gefunden haben, sondern auch ungewöhnliche und kritische Perspektiven eingenommen.
Es dauerte nur wenige Tage, bis der Krieg in der Ukraine in Deutschland ein Gesicht bekam. Nein, ein Gesicht ist falsch, es waren viele Gesichter, hunderte, tausende, in die man im Berliner Hauptbahnhof und andernorts blicken konnte. Gesichter mit müden, leeren und oft auch angsterfüllten Blicken. So unterschiedlich diese Gesichter auch waren, waren die meisten weiblich. Denn es waren die Frauen der Ukraine, die mit den Alten und den Kindern im Schlepptau aus der Heimat flohen, während ihre Männer, Söhne und Väter die Heimat verteidigen mussten. Wie ist es diesen Frauen in den Wochen und Monaten nach Kriegsausbruch ergangen? Was haben sie auf ihrer Flucht erlebt? Und was denken sie über den Krieg, der kein Ende finden will? Diese und viele weitere Fragen stehen im Mittelpunkt der lesenswerten Anthologie »Wie ein Lichtstrahl in der Finsternis«, die Briefe von ukrainischen Frauen versammelt.
Zusammengestellt hat sie die französische Journalistin Aurélie Bros, deren Expertise eigentlich in der Geo- und Energiepolitik liegt. Seit März 2022 koordiniert sie ein Hilfsprojekt des Handelsblatts, mit dem ukrainischen Journalist:innen unterstützt werden. Dabei hat sie zahlreiche Autorinnen des Buches kennengelernt. Nach einigen persönlichen Begegnungen mit geflüchteten Ukrainerinnen beschloss sie, deren Geschichten zu sammeln, »um die Bandbreite der schwierigen Entscheidungen, vor denen die Frauen standen, abbilden zu können« und um »das Paradoxon des Krieges zu verdeutlichen«, wie sie in ihrem Vorwort schreibt. Sie bat zahlreiche Frauen, Briefe zu schreiben, in denen das Raum finden konnte, »was sich nicht so leicht in Worte fassen lässt.«
Nicht alle, die Bros fragte, wollten auch mitmachen, andere sind dazugekommen, weil sie davon gehört haben. 38 Briefe sind jetzt in dem Band gedruckt, die jüngste Autorin ist zehn, die älteste zweiundsiebzig Jahre alt. Neben Schülerinnen und Studierenden melden sich Lehrerinnen, Sanitäterinnen, Unternehmerinnen, Medienmacherinnen, Beamtinnen und Akademikerinnen aus allen Regionen des Landes zu Wort. Sie alle verbindet die Fassungslosigkeit über diesen Krieg, der ihr Leben von einem Moment auf den anderen auf den Kopf gestellt hat.
»Noch gestern früh habe ich mir die Nägel gemacht und die Beine epiliert, ich hatte vor, mit meinem Freund Sex zu haben. Und heute ist alles weg …«, erinnert sich die heute 25-jährige Publizistin Olha Borawljowa an den Morgen des 24. Februar 2022. Sie floh mit ihren drei Kindern nach Deutschland, kehrte im Sommer letzten Jahres aber wieder nach Kyjiw zurück. Die 35-jährige Gynäkologin Jana Nakonetschna aus Charkiw erinnert sich, wie sie Panik ergreift, als sie versteht, dass der Krieg begonnen hat. »Mein Herz klopft wie nach einem Marathon, ich renne in der Wohnung herum und weiß nicht, was ich tun soll, was ich in so einer Situation tun soll, in einer Situation, die ich mir in einen schlimmsten Albträumen nicht vorgestellt hätte.« Ähnlich klingt Maryna Kamenska, eine 43-jährige Kunsttherapeutin, die mit ihrer Tochter nach Polen floh: »In meinem Kopf herrscht Chaos. Man weiß nicht, was man tun soll oder wohin man fliehen soll, um das Kind zu retten. Halb sechs Uhr morgens.«
Wie erklärt man Kindern den Krieg? Woher weiß man, ob man gehen muss oder bleiben kann? Was ist das Risiko wert? Wie hoch ist überhaupt das Risiko? Andere Fragen, die Autorinnen bewegen: Eltern zurücklassen oder Kinder wegschicken? Den Job kündigen oder aus der Distanz weitermachen? Wie geht es mit der Schule der Kinder oder dem eigenen Unternehmen weiter? Alltägliche und grundsätzliche Dinge gehen wild durcheinander – wohl auch, weil die unmittelbaren Eindrücke des Krieges jede alltägliche Frage zu einer grundsätzlichen und umgekehrt machen. So vermitteln diese Briefe die existenziellen Ängste im Krieg, die schmerzhaften Umstände der Flucht, das Einrichten in einem Leben, das »auf Pause steht«, und die unwiderstehliche Zuversicht, eine bessere Zukunft vor sich zu haben.
Die versammelten Briefe sind im Sommer letzten Jahres verfasst und geprägt von den unmittelbaren Eindrücken der Tage, Wochen und Monate nach Kriegsausbruch. Sie erzählen von den existenziellen Ängsten, den schmerzhaften Umständen der Flucht, der beklemmenden Abhängigkeit von anderen und dem Einrichten in einem Leben, das »auf Pause steht«. Dabei ist jeder Brief ein Mahnmal der Erinnerung, führt zurück in die Unmittelbarkeit des Horrors, an den wir uns alle längst viel zu sehr gewöhnt haben.
Ob sich in einem weiteren Jahr Krieg ihren Ansichten geändert haben, ob sie kriegsmüde geworden oder weiterhin vom Sieg der ukrainischen Armee überzeugt sind, lässt sich ihnen nicht entnehmen. Herauslesen kann man jedoch, wie zerrüttet das Verhältnis zum stets klein geschriebenen Nachbarstaat und seinen Bewohner:innen ist. »Millionen von Zombies. Kein Wunder, dass sie jetzt den Buchstaben Z so lieben«, heißt es an einer Stelle über die Russen, »Wir wollen sie nicht mehr kennen« an einer anderen.
Dass es noch Russ:innen gibt, die das Leid der Ukrainer:innen sehen, ist kaum mehr vorstellbar. Die Oppositionelle und Dissidentin Natalja Kljutscharjowa gehört zweifellos dazu. Gerade ist ihr »Tagebuch vom Ende der Welt« erschienen, ein schmaler Band, in der ihr Alter Ego Natascha von Tag Eins des russischen Überfalls auf die Ukraine in den Abgrund der russischen Gegenwart blickt. »Ich hätte nie gedacht dass es auch in meinem leben einmal einen ersten Kriegstag geben würde«, schreibt sie da zu Beginn, bevor der Erinnerungsstrom an den Februar 2022 einsetzt.
Die Schriftstellerin und Lyrikerin ist nach dem Angriff auf die Ukraine in Russland geblieben, lebte weiter in Jaroslawl knapp 300 Kilometer von Moskau entfernt. In ihrem Buch macht sie deutlich, wie sie selbst mit sich und ihrer Entscheidung sowie der Frage hadert, was sie gegen das Putin-Regime tun kann und was nicht. Entsprechend wabert durch den von Ganna-Maria Braungardt übersetzten Text ein permanentes Unbehagen der eigenen Position gegenüber, die das Grauen überdeckende Propaganda zu durchschauen und zugleich nicht dagegen vorgehen zu können. Denn schon Tage nach der Invasion wurden Menschen festgenommen, die mit symbolischen Sternchen oder einem leeren Blatt Papier gegen das Vorgehen Russlands protestierten. »Bei uns wird man für diese Sternchen längst genauso verhaftet wie für die Worte. Und für ein leeres Blatt, auf dem gar nichts steht«, hält sie fest.
Zugleich spricht aus dem Tagebuch ein Selbstbewusstsein, dass allein in der Dokumentation des Geschehens ein Sinn liegt. »Unsere Aufgabe ist es, heil zu bleiben und Zeugen zu sein. Alles zu sehen, alles zu hören, alles festzuhalten. Und dabei nicht den Verstand zu verlieren, nicht an einem Herzinfarkt zu sterben, nicht, nicht, nicht – noch Millionen Mal nicht«, schreibt sie.
Wie leicht man den Verstand verlieren könnte, wenn man genau hinsieht, macht eine Erkenntnis deutlich, die sie Ende April 2022 festhält. »Manchmal wundere ich mich sehr darüber, dass das Leben offensichtlich weitergeht. Die Straßenbahnen fahren. Die Birkenkätzchen sprießen«, schreibt Kljutscharjowa da. »Aber dann denke ich: Das ist wie abgeschnittene Blumen in einer Vase. Eine Zeitlang sehen sie noch aus wie lebendig. Aber in Wirklichkeit haben sie keine Wurzeln mehr, keinen Boden, keine Zukunft. Die anderen Blumen im Strauß haben offenbar nur noch nicht gemerkt, dass sie abgeschnitten wurden.«
In Russland durfte der schmale Band wenig überraschend nicht erscheinen. Seine Publikation in Deutschland rückt die 1981 geborene Autorin in den Fokus des Regimes, weshalb sie Anfang des Jahres nach Deutschland geflohen ist. Ihr aufwühlender sowie ebenso ernüchternder wie erschütternder Band enthält viele kleine Momente, die von der Durchdringung des Alltags durch den Krieg berichten. Die den blinden Patriotismus in Russland festhalten, die aggressive Propaganda und die kafkaeske Wirklichkeit, die sieht und versteht, wer hinzusehen und selbstständig zu denken wagt. Das wagen nur immer weniger Menschen, weil die Vorbilder verschwinden und ein kritisches Bewusstsein schon im Keim erstickt wird.
Unmittelbare Erinnerungen an den Kriegsalltag sind auch in den von Amélie Bros gesammelten Briefen enthalten. Viele vermitteln Eindrücke von den Tagen und Wochen nach Kriegsausbruch. So erinnert sich die 1969 geborene Englischlehrerin Iryna Nowokreschtschenowa an ihre Flucht mit dem Zug aus dem Südosten der Ukraine und die Angst, dass Putin mit Raketen auf die Züge zielen könnte. »Im Waggon waren die Lichter gelöscht und die Vorhänge zur Tarnung zugezogen, alle Mobiltelefone waren ausgeschaltet.«
Noch einmal werden einem dabei die Ereignisse vor Augen geführt, die im Strom der Ereignisse längst nur eine Nachricht von vielen sind. Die junge Philologin Kristina Pariotti aus Mariupol erinnert sich zum Beispiel nicht nur an die gefährliche Flucht aus der Stadt unter russischer Besetzung, sondern auch an die Stunden, Tage und Wochen, in denen sie um ihren Freund im Asow-Stahlwerk bangte. Der gehörte zu den ukrainischen Soldaten, die wochenlang Widerstand leisteten, bevor sie inhaftiert, gefoltert und im Herbst im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassen wurden.
Mit der Zerstörung ihrer Heimatstadt hat die damals 20-Jährige auch ihre Perspektive verloren. »Wenn ich nach meiner Zukunft gefragt werde, bin ich verwirrt und weiß nicht, was ich antworten soll«, schreibt sie in ihrem Brief. »Denn wenn ich in die Ukraine zurückkehre, dann nicht nach Mariupol. Dort ist nichts mehr.«
Die Briefe lassen in die verletzten Seelen von ukrainischen Frauen blicken, die, je länger der Krieg dauert, mit der neuen Wirklichkeit einen Umgang finden müssen. »Jeder neue Tag kann mein letzter sein«, schreibt die 29-jährige Journalistin Dina Wonh am 9. September 2022 an ihre unbekannte Leserschaft. »Ich nehme das ohne Emotionen, kühl und nüchtern hin. Ich verspüre dabei keine Angst, Traurigkeit, Panik oder andere Gefühle. Es ist einfach eine Tatsache. Genauso wie die Tatsache, dass der Weizen gelb, der Himmel blau, bei mir zu Hause Krieg herrscht und russland ein Terrorstaat ist.« Andere wie die 26-jährige Regisseurin Anastasija Hruba hadern mit ihrer Situation. »Der Krieg ist bald sechs Monate alt. Bis jetzt hatte ich das Glück zu überleben. Viele Ukrainer nicht… Ich hasse mich dafür.«
So ist jeder Brief ein Mahnmal der individuellen Erinnerung, führt zurück in die Unmittelbarkeit des Horrors, an den wir uns alle längst viel zu sehr gewöhnt haben. Aber viele blicken auch über den Moment hinaus und zeigen den Lebensmut vieler Frauen, die aus der Alternativlosigkeit eine Tugend gemacht und im Wortsinn ihr Leben in die Hand genommen haben.
Diese Briefe haben auch deshalb ein bemerkenswertes Gewicht, weil sie Worte für einen Zustand finden, der kaum in Sprache zu bringen ist. Dies beweist ein Band des ukrainischen Lyrikers Ostap Slyvynsky, der nach dem Vorbild des polnischen Dichters Czeslaw Milosz versucht hat, der neuen Bedeutung von »Wörtern im Krieg« gerecht zu werden. Darin hat er Fragmente echter Dialoge festgehalten, die er in den Tagen und Wochen nach Kriegsausbruch gehört hat. Dabei reichen die Einträge von A wie Abschied bis Z wie Zimmer.
Unter D wie Donner wird etwa die Aussage einer Mutter geschildert, die sich ein neues Spiel für ihre dreijährige Tochter ausgedacht hat, in dem es darum geht, in den Keller zu laufen, wenn das Mädchen einen Donner hört. »Der Kleinen gefällt es. Aber der Große versteht nicht, wieso wir uns früher nicht vor dem Donner versteckt haben.« Unter K wie Körper wird eine Frau aus Lwiw zitiert, die den Schmerz ihrer Landsleute zu spüren scheint. »Hunderte Kilometer von uns gibt es offene Wundern, und hier schmerzt alles«, sagt sie. Eine Frau aus Charkiw berichtet unter T wie Träumen von ihrer Angst, einzuschlafen. »Ich hasse es, zu träumen, denn danach bricht alles wieder über mich herein. Es ist ein erstickendes Gefühl.«
In Amélie Bros Band werden die Briefe von Porträts begleitet, die drei ukrainische Fotografinnen von den meisten der Autorinnen gemacht haben. Diese Bilder illustrieren nicht nur die Vielfalt der Stimmen, sondern fangen die Frauen in ihrem Trauma, aber auch in ihrer Kraft, ihrem Selbstbewusstsein und ihrem Mut ein. Sie zeigen Frauen, die selbstbewusst und mutig in die Zukunft blicken. So sehr die Texte belegen, wie viel Unschuld und Hoffnung ihnen dieser Krieg genommen hat, beweisen diese Bilder, dass sich diese Frauen eines nicht nehmen lassen: ihre Würde.
Ihre Würde als Frauen und ihre Würde als Ukrainerinnen, deren Überzeugung, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, ungebrochen scheint. Wenn Putin dachte, er könnte mit seinem Krieg das fragile Gebilde der ukrainischen Nation erschüttern, dann hat er sich getäuscht. Auch das erfährt man in diesen Briefen, die bei aller individuellen Erfahrung nahezu ausnahmslos die Einheit der Menschen in der Ukraine und ihren Glauben an eine Zukunft in Freiheit betonen. Poetisch bringt dies die 33-jährige Autorin Kateryna Jakowlenko auf den Punkt. »In diesem Krieg sind wir ganz allein. Aber wir sind zusammen.«
[…] heißt es an einer Stelle. Der Tempel ist der magische Ort, von dem die Ahnen fliehen mussten. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs eröffnet die Wiederauflage dieser poetischen Ergründung der imaginären Heimat, die bereits vor […]
[…] Swetlana Alexijewitsch, andererseits aufgrund der zeitlichen und thematischen Nähe auch an die Briefe ukrainischer Frauen, die die französische Journalistin Aurélie Bros gesammelt […]