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Indie-Perlen in Bücherfluten

Die besten Bücher aus Indie-Verlagen 2023 | © Thomas Hummitzsch

Vor, während und nach der Frankfurter Buchmesse waren Zeitungen und Radiosender voller Buchtipps. Aber irgendwie stieß man überall auf die gleichen Titel und Debatten. Hier finden Sie einige lesenswerte Bücher aus unabhängigen Verlagen, die mehr Aufmerksamkeit verdient haben.

Anton Artibilov: Der Niedergang des mikrotext Verlags

Die wunderbar nerdigen Stories in Anton Artibilovs Erzählungsband »Der Niedergang des Mikrotext Verlags« sind so kurz und präzise, dass sie jede U-Bahn- oder Busfahrt zum Vergnügen machen. Es geht um Auftragsarbeiten und seltsame Babys, um schlechte Witze und den Nobelpreis, um Youtube und Burschenschaften, Ellis Island und Jeremy Fragrance, um Aliens, KI und Liebeskummer.

Anton Artibilov: Der Niedergang des mikrotext Verlags. Mikrotext Verlag 2023. 136 Seiten. 18,- Euro. Hier bestellen.

»Ich tauche wieder ab und versuche, am Boden des kalten Sees einen der grün leuchtenden Edelsteine zu finden«, heißt es in einer Geschichte. »Das ist es, was ich am besten kann.« Und das beweist der schreibende Tiefseetaucher hier aufs Beste, wenngleich seine See nicht nass, sondern der ganz normale Alltag ist. Was er dem entlockt, lässt staunen. Dieser schmale Band, der im Pocket-Format in jede Hosentasche passt, versammelt glänzende Kurzgeschichten und Anekdoten, die man auch als literarische Juwelen bezeichnen kann.


Melissa Febos: Girlhood

Von der Übersetzerin Stefanie Jacobs hat man im Rahmen der Messe vor allem wegen ihrer Auszeichnung mit dem Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Preis 2023 sowie Lauren Groffs neuem Roman »Die weite Wildnis« gehört. Dabei lohnt sich der Blick auf eine andere aktuelle Übersetzung von ihr. Melissa Febos’ Roman »Girlhood« hat in den USA für einiges Aufsehen gesorgt.

Melissa Febos: Girlhood. Aus dem Amerikanischen von Stefanie Jacobs. Kjona Verlag 2023. 336 Seiten. 23,- Euro. Hier bestellen.

Darin verarbeitet die 1980 geborene Autorin ihre wechselvolle Biografie, von der gut behüteten Kindheit über den Absturz in die Drogen und ihre Zeit als Domina bis hin zu ihrer bürgerlich-queeren Existenz. Dabei fragt sie danach, wie sich das Patriarchat in ihr Leben und ihren Körper eingeschrieben hat und beschreibt Wege der Heilung, Selbsteroberung und Befreiung.

»Girlhood« ist nicht nur eine gedankliche Parallelbewegung zu Richard Linklaters Erfolgsfilm »Boyhood« aus weiblicher Sicht, sondern ein Buch der Selbsterkenntnis und des Überlebens in einer Welt, in der Frauen darauf getrimmt sind, an der eigenen Herabsetzung mitzuwirken. »Manchmal sehen unsere besten Bemühungen zur Selbsterhaltung wie eine Art von Gewalt aus«, schreibt Febos am Ende. Und wirklich jede:r Leser:in hat sich bis dahin selbst in diesem Buch erkannt und weiß genau, was sie meint.


Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

Feurat Alani wurde als Sohn irakischer Eltern in Paris geboren, lebt inzwischen in Dubai und ist von dort als Journalist, Filmemacher und Autor tätig. In seiner zwischen Twitter-Roman und Graphic Novel changierenden Reise in den Irak gibt er Einblicke in das Land seiner Eltern, das er auf verschiedenen Reisen kennengelernt hat. In eintausend Tweets und den sprechenden minimalistischen Illustrationen von Léonard Cohen zeichnet er in »Der Geschmack von Aprikoseneis« noch einmal die jüngere Geschichte des Landes nach.

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis. Übersetzt von Annette von der Weppen. Mit Illustrationen von Léonard Cohen. Karl-Rauch-Verlag 2023. 176 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen.

Er erzählt von Begegnungen und Beobachtungen im Irak und macht sichtbar, wie das kriegsgebeutelte Land immer noch mit den Folgen der jahrelangen Gewalt zu kämpfen hat. Vor allem aber gibt er Einblick in das Leben der Menschen im Irak, erzählt von ihren Sorgen, Nöten und Hoffnungen. Weltpolitik, Alltägliches und Verlorenes stehen dabei ganz selbstverständlich nebeneinander: »Es gibt Momente des Schreckens und Momente der Freude. Und vor allem gibt es die Dattelsaison. Lange war der Irak der weltweit größte Dattel-Exporteur.«

Feurat Alanis Roman »Der Geschmack von Aprikoseneis«, ausgezeichnet mit dem Prix Albert Londres 2019, dem wichtigsten Journalistenpreis Frankreichs, zeigt den langen Schatten des Krieges und die Kraft des Lebens.


Sarah Elena Müller: Bild ohne Mädchen

Zu Beginn des Jahres war der Debütroman der Schweizer Autorin Sarah Elena Müller kurz in aller Munde. Das ist kaum ein halbes Jahr her, aber die Buchbranche ist ungnädig, vergisst schnell. Dabei hat es diese Geschichte über ein Mädchen, das kaum spricht und ins Bett nässt, in sich. Beim Nachbar Ege darf dieses namenlose Mädchen Fernsehen schauen, so lange es will, die viel beschäftigten Eltern sind froh um jede Ablenkung. Und was soll beim Ege schon passieren.

Sarah Elena Müller: Bild ohne Mädchen. Limmatverlag 2023. 208 Seiten. 26,- Euro. Hier bestellen.

»Bild ohne Mädchen« ist ein bedrückender Roman über einen Kindesmissbrauch im alternativen Milieu, der in kraftvollen Bildern immer wieder in surreale Visionen abtaucht, in denen »das Mädchen« Zuflucht findet. Sarah Elena Müller entwirft hier nicht nur eine erschreckend normale Welt, sondern schafft das Porträt eines Täters wie wir ihn nicht oft gesehen haben. Aber auch die Zeichnung des Umfelds ist treffend genau, setzt die Kultur des Wegschauens und der Sprachlosigkeit angesichts des Unfassbaren unheimlich genau ins Bild. Wenngleich kaum noch über den Roman gesprochen wird, hat er nichts von seiner Dringlichkeit verloren. Nun heißt es Daumen drücken für den Schweizer Buchpreis, für den die Autorin mit ihrem ebenso packenden wie beklemmenden Debüt nominiert ist.


Ariana Zustra: Tot oder lebendig

Anna Turow will sterben, zumindest denkt sie am Abend vor ihrem dreißigsten Geburtstag darüber nach. Wo kauft man einen Strick? Wie macht man einen sicheren Knoten? Und wo hängt man sich so auf, dass man keine vorbeilaufenden Kinder traumatisiert? Diese Fragen gehen ihr durch den Kopf und zeigen schon, dass wir es hier mit einer überaus beflissentlichen, gründlichen und verantwortungsbewussten Person zu tun haben. Aus dem Selbstmord wird erst einmal nichts, aber es setzt das große Nachdenken über das Leben ein – das, das sie bisher geführt hat und jenes, das sie eigentlich führen wollte. Denn statt Astronautin zu werden sitzt sie nun in einem dieser gesichtslosen Bürobauten irgendwo im Osten und auch das mit der Liebe klappt nicht.

Ariana Zustra: Tot oder lebendig. Frankfurter Verlagsanstalt 2023. 224 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen.

Anna lässt sich auf eine Hypnose ein, nach der sie erfährt, dass in ihr der Geist eines kroatischen Juden tobt. Was auch erklären würde, warum sie immer wieder an ihrem Geschlecht zweifelt. Sie macht sich auf nach Kroatien, es wird eine Reise in die wechsel- und gewaltvolle Vergangenheit des Landes. Die Sängerin und Journalistin Asiana Zustra erzählt in »Tot oder lebendig« von der Shoa im Südosten Europas, von den teuflischen Folgen des Nationalismus, von religiösen Kämpfen und dem Hadern mit der eigenen Identität. Nah am Zeitgeist und doch völlig zeitlos erzählt die Leiterin der Literaturseiten des Musikexpress in ihrem ebenso komischen wie ernsthaften Roman von der Suche einer Frau nach sich selbst und den Wurzeln, die uns alle mit der Geschichte verbinden.


Cécile Wajsbrot: Mémorial

Im vergangen Frühjahr war Cécile Wajsbrot noch in aller Munde, als Anne Weber für die Übersetzung von Wajsbrots Roman »Nevermore« über die Übersetzung von Virgina Woolfs »To the Lighthouse« mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Der Nachfolgeroman kommt stiller daher, nicht weil er schlechter übersetzt wäre – immerhin zeichnen sich hier die frisch gekürten Celan-Preisträger Sabine Müller und Holger Fock verantwortlich – sondern weil mediale Aufmerksamkeit einfach seltsamen Gesetzen folgt.

Cécile Wajsbrot: Mémorial. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Wallstein Verlag 2023. 171 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen.

»Memorial« handelt von einer imaginären Wallfahrt der Autorin zu ihren galizisch-jüdischen Ahnen, um die Lücken, die sich in der schwindenden Erinnerung des Vaters auftun, mit Wirklichkeit zu füllen. Reisen in die Heimat der Vorfahren sind nicht nur Reisen im Raum, sondern immer auch in der Zeit, weshalb hier längst verstummte Stimmen neben Aktuelle treten und nach der Hauptfigur greifen, um sie gleichermaßen mit der Bewältigung der Gegenwart als auch mit der Geschichte der Verfolgung und Vernichtung zu konfrontieren.

»Ich stieß die Tür auf, als wäre ich aus einem bestimmten Grund gekommen, als wäre ich die Hüterin des Tempels«, heißt es an einer Stelle. Der Tempel ist der magische Ort, von dem die Ahnen fliehen mussten. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs eröffnet die Wiederauflage dieser poetischen Ergründung der imaginären Heimat, die bereits vor Jahren unter dem Titel »Aus der Nacht« erschienen ist, eine völlig neue Lektüreerfahrung.


Christa Nebenführ: Den König spielen die anderen

»Dies ist kein Essay. Dies ist kein Roman. Dies ist keine Anklage. Dies ist keine Biographie. Dies ist keine Abrechnung. Dies ist keine Dokumentation. Dies ist keine Krankengeschichte. Vielleicht ist es ein Lokalaugenschein«, liest man auf dem Buchumschlag dieser familiären Spurensuche. Sie handelt von einem tyrannischen Vater, der aus seiner Tyrannei keinen Lustgewinn ziehen kann und immer nur alle um sich herum mit in den Abgrund zieht. Mutter und Tochter verbünden sich, weniger um ihm zu schaden als vielmehr sich zu retten, aber das hilft nicht. Die Mutter der Erzählerin begreift irgendwann, dass sie nur der Tod von diesem psychisch kranken Mann befreien kann. Ein Suizidversuch scheitert, ein späterer gelingt.

Christa Nebenführ: Den König spielen die anderen. Klever Verlag 2023. 234 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen.

Auch die Tochter greift zu radikalen Mitteln, um sich Jahre nach dem Kontaktabbruch dann doch am Sterbebett des Tyrannen wiederzufinden. Statt Versöhnung winkt nach dessen Tod nur noch mehr Verbitterung, als sich eine Frau bei ihr meldet, die von den schönen Stunden mit dem Vater schwärmt. »Den König spielen die anderen« ist ein bedrückender Text, der vom Aufräumen des Lebens handelt, ohne dass es am Ende mit einer Erlösung oder Befreiung aufwartet. Manch Bitternis wird man einfach nie mehr los, dieses Buch erzählt eindrucksvoll davon.


Zsigmond Móricz: Der glückliche Mensch

Zsigmond Móricz arbeitete als Journalist in Budapest, berichtete aus dem ersten Weltkrieg und veröffentlichte in den zwanziger und dreißiger Jahren einige Romane und Erzählungen, in deren Mittelpunkt er vor allem das Leben auf dem Land rückte. Ein Paradebeispiel ist sein Roman »Der glückliche Mensch«, in dem uns mit György Joó ein außergewöhnlicher Protagonist begegnet, von dessen Maloche auf den Gütern der Land- und Großgrundbesitzer wir hier lesen.

Zsigmond Móricz: Der glückliche Mensch. Aus dem Ungarischen und mit einem Nachwort von Timea Tankó. Guggolz Verlag 2023. 505 Seiten, 27,- Euro. Hier bestellen.

In seiner Erzählung, die einem Journalisten dienen soll, um »daraus einen schönen Roman« zu schreiben, schlägt er keinen (an)klagenden Ton an, sondern freudvoll blickt er auf den kargen Alltag, in dem jedes Stück Apfel, jede Scheibe Speck und jeder unbeschwerte Tanz in den Abend ein Fest sind. Dabei verschweigt der Roman nicht die Nöte und Entbehrungen der Kleinbauern, auch nicht die Härter der Arbeit oder die Kluft zwischen Stadt und Land, so dass dieser Text alles andere als romantisch oder verklärend ist.

Móricz‘ Roman ist ein Vertreter des sozialistischen Realismus, die Suche nach einem besseren Leben ist ihm eingeschrieben. Aber es ist eine Suche mit Witz und Sprachkraft, die in der leichtfüßigen Neuübersetzung der 2021 mit dem Preis der Leipziger Buchmesser ausgezeichneten Sprachartistin Timea Tanko, die insbesondere auf das leicht dahinfließende Parlando der Sprache wert legt, glänzend zutage tritt. »Der glückliche Mensch« ist ein verblüffend moderner Dorfroman und das Porträt eines Mannes, der nichts anderes sagen kann, » als dass ich als Kind und als junger Mann glücklich war, so glücklich, dass man sich das gar nicht vorstellen kann. Aber damals waren auch andere glücklich. Das war eine glückliche Welt…«


Fiston Mwanza Mujila (Hrsg.): Schlüsselorte

Der kongolesisch-österreichische Schriftsteller Fiston Mwanza Mujila ist seit seinem Roman »Tram 83« auch dem deutschsprachigen Publikum bekannt, dessen Übersetzung von Katharina Meyer und Lena Müller 2017 mit dem Internationalen Literaturpreis – Haus der Kulturen der Welt ausgezeichnet wurde. Seither ist mit »Tanz der Teufel« ein weiterer Roman (ebenfalls von Katharina Meyer und Lena Müller übersetzt) erschienen, einige von Mujilas Theaterstücken sind zur Aufführung gebracht worden.

Nun hat er einen spannenden Sammelband herausgegeben, der 14 Erzählungen versammelt, die sich um urbane »Schlüsselorte« drehen, an denen das Leben der Protagonist:innen eine plötzliche Wendung oder biografisch Bezug nimmt. Die Stadt dient dabei mal einfach nur als Hintergrundtapete, auf der sich Tragik und Komik verflechten. Dann wieder ist sie die Hauptfigur, ein Ort der Sehnsucht und Entwurzelung, der Traumatisierung und des Glücks.

Fiston Mwanza Mujila (Hrsg.): Schlüsselorte. Verlag InterKontinental 2023. 284 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen.

»Schlüsselorte« ist keine Soziologie des Urbanen, sondern eine künstlerische Erkundung, die die konkrete Welt des Faktischen assoziativ mit dem Kulturellen verbindet. Dabei dienen die beschriebenen Räume immer wieder als Raum des Übergangs, in dem sich die Figuren in den unterschiedlichen Erzählungen neu orientieren wollen oder müssen, um aus der prägenden Vergangenheit in eine andere Zukunft zu gelangen. »Schlüsselorte« ist eine eindrucksvolle Sammlung spannender Stimmen, die den Blick auf die Literatur des Globalen Südens erweitern.


Matthew Phipps Shiel: Die purpurne Wolke

Matthew Phipps Shiel erstmals 1901 erschienener Roman handelt davon, wie ein purpurfarbenes vulkanisches, nach Pfirsichblüten duftendes Gas die gesamte Menschheit vernichtet. Einzig der junge Arzt Adam Jeffson überlebt, weil er sich zum Zeitpunkt der Katastrophe auf einer Expedition zum Nordpol befand. Als einziger Überlebender tritt der Ich-Erzähler Jefferson einen Rückmarsch von epischer Dimension durch das ewige Eis in eine Welt an, die einmal von einer Zivilisation bewohnbar, nun aber nur noch den Tod für ihn bereithält.

Matthew Phipps Shiel: Die purpurne Wolke. Aus dem Englischen von Peter Torberg. 317 Seiten. 48 Euro. Hier bestellen.

Jahrzehntelang irrt er durch die ausgestorbenen Städte der Welt, um die Monumente der Vergangenheit zu zerstören. In einem Rausch aus Verzweiflung, Idiotie und Größenwahn brennt er Metropolen wie Venedig, Rom, London, Paris, Istanbul oder Peking nieder. Doch dann geschieht, womit er nicht mehr gerechnet hat: er begegnet einem zweiten Menschen, einer Frau, und die Menschheit erhält noch einmal eine geradezu biblische Chance.

Shiels postapokalyptische Gothic Novel »Die purpurne Wolke« ist ein Meilenstein des Science-Fiction-Genres, führt biblische Erzählung und griechische Mythologie in einer Welt zusammen, die dem Untergang geweiht ist. Entdeckt haben diese nicht ganz einfach zu lesende Perle der dystopischen Literatur SciFi-Papst Dietmar Dath (der ein sehr lesenswertes nachwort beigesteuert hat) und der Übersetzer Peter Torberg, dessen Neuübertragung den Roman auf faszinierende Weise in die Gegenwart hebt, ohne ihm die historisch eingefärbten Finsternisse zu nehmen. Die Welt, die wir kennen, geht gerade auch irgendwie unter. Was von den Trümmern bleibt, davon erzählt dieser düstere und prächtig aufgelegte Roman.


Jan Kuhlbrodt: Krüppelpassion

Im Mai wurde in Berlin der Alfred-Döblin-Preis vergeben und nicht wenige im Literaturbetrieb freute es ungemein, dass die Auszeichnung an Jan Kuhlbrodt und seinen Auszug aus »Krüppelpassion oder Vom Gehen« ging. Kuhlbrodt, der auch als Übersetzer und Dozent aktiv ist, habe »eine vielschichtige Prosa geschrieben, die sich mit großer Unerschrockenheit, erstaunlicher Komik und theoretischem Witz der eigenen MS-Erkrankung stellt«, lobte die Jury zum Döblin-Preis.

Inzwischen ist der Roman im kleinen Berliner Gans-Verlag erschienen und bekommt seltsamerweise relativ wenig Aufmerksamkeit. So wurde er nicht einmal für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert. Dabei ist dieser ebenso existenzielle wie literarische Text ein Paradebeispiel für eine Literatur, die mehr wagt als ihr Autor gewinnen kann, der sein Buch auch als »Chronik eines sich ankündigenden Todes« bezeichnet. Genau das aber schärft offenbar den Blick für die wahren Zusammenhänge, die nicht von der Zeit sondern vom Sinn gestiftet werden.

Jan Kuhlbrodt: Krüppelpassion. Gans Verlag 2023. 240 Euro. 30,- Euro. Hier bestellen.

»So enthält mein künftiges Sterben ein Moment der Erinnerung an das Leben davor. Aber da es im Leben drunter und drüber geht, Mitmenschen und Umstände einem immer wieder physische und seelische Einschränkungen vor Augen führen, steht im Buch Erinnerung und Slapstick an der Seite der Philosophie, aber auch des Zorns«, sagt Kuhlbrodt selbst zur Struktur seines Romans. Derart wird man der Zeuge einer permanenten Suchbewegung, die Sinn in den Dingen sucht in einem Moment, in dem sie jeden Sinn scheinbar verlieren, weil man in den alles verschlingenden Abgrund der eigenen Endlichkeit schaut. Zurückgeworfen auf die eigene Existenz, die mehr und mehr von einer Krankheit geprägt ist, nimmt sich Kuhlbrodt die Freiheit, sich schreibend aus dem Rollstuhl zu erheben und noch einmal mutig in das loszulaufen, was wir Leben nennen.


Gertraud Klemm: Einzeller

In Simone Hebenstreits Mehrgenerationen-WG leben fünf Frauen, die gemeinsam ein Ziel haben: dem Rechtsruck den Kampf ansagen. Demnächst sind Wahlen und die Rechten wollen die Frauen zurück am Herd sehen. Mehr Kinder braucht das Land, weshalb Abtreibungen verboten (nicht, dass sie jemals legal gewesen wären) und Kinder prämiert werden sollen. Die Kämpfe sind alt, aber die Methoden sind neu, mit denen manche von Simones Mitbewohnerinnen den feministischen Kampf von den Straßen in die Köpfe tragen wollen. In dem Fernsehformat »Big Sister« streiten sie öffentlich über Fragen von Religion, Gender und Sexarbeit und verstricken sich in Details, während andere die Köpfe der Menschen erobern.

Gertraud Klemm: Einzeller. Verlag Kremayr Scheriau 2023. 312 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen.

Die Wiener Biologin und Autorin Gertraud Klemm, deren Roman »Aberland« 2015 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stand, stellt in ihrem Gesellschaftsroman nur vordergründig die Frage, wem der Feminismus gehört und welche Debatten die richtigen sind. Die eigentliche Frage, die sie in »Einzeller« aufwirft, ist die, ob die ach so aufgeklärte Gesellschaft eigentlich noch auf dem Schirm hat, wer in Europa mit welchen Theorien die Demokratie bedroht.

Weder Genderstern noch Consensual Sex bringen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ins Wanken, sondern der wachsende Autoritarismus und das »Daumen hoch, Daumen runter«-Pseudoengagement in den sozialen Medien. »Wo sind alle, außer auf Insta und Facebook?« ist deshalb eine der vielen berechtigten Fragen, die dieser ironisch-ernste Roman stellt.


Wu Ming: Ufo 78

Nachdem erst im Frühjahr der einige Zeit vergriffene Polit-Thriller »Die Armee der Schlafwandler« des unvergleichlichen italienischen Autorenkollektivs Wu Ming neu aufgelegt und damit die Werksausgabe des Kollektivs wieder vervollständigt wurde, ist nun rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse der neue überbordende Roman über ein dramatisches Jahr der italienischen Nachkriegsgeschichte erschienen. »Ufo 78« taucht tief ein ins Jahr 1978, als der ehemalige Ministerpräsident Aldo Moro von den Roten Brigaden entführt und ermordet wurde. Ende der siebziger Jahre herrscht in Italien eine explosive Stimmung. Feminist:innen kämpfen in dem katholischen Land für das Recht auf Abtreibung, die Irrenanstalten werden geschlossen und andere Sozialreformen umgesetzt, zugleich machen faschistische Geheimbünde mobil und die rechten Kräfte setzen auf Sicherheit durch Waffen. Kurzum: Das Land befindet sich im Ausnahmezustand.

Kein Wunder, dass in dieser Atmosphäre der Wahn um sich greift, hier in Form von fliegenden Untertassen, die immer mehr Menschen sehen wollen. Diese alle Sinne flutende Atmosphäre versucht der Roman aus der Perspektive einer Handvoll Figuren zu fassen. Da ist der Romancier Martin Zanka, der den antifaschistischen Kampf noch aus dem Krieg kennt und sich Sorgen um seinen heroinsüchtigen Sohn macht, der in einer ominösen Kommune auf dem Land lebt. Und dann verschwinden auch noch zwei Pfadfinder in einer Region, in der es schon immer zu seltsamen Ereignissen kommt.

Wu Ming: Ufo 78. Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold. Verlag Assoziation A. 448 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen.

Wu Ming, dieses außerirdische Autorenkollektiv, bieten hier ein herrlich schräges Mash-Up aus Realität und Fiktion, Popkultur und Geschichtsschreibung, um etwas Zwielicht in das Dunkel der Italienischen Geschichte zu bringen. »Unzählige blasse Tropfen mit gebogenen Spitzen bildeten ein hypnotisches Muster«, heißt es an einer Stelle und so geht es einem auch mit diesem irren Roman, der wie eine Hypnose aus schrägen Gedanken und psychedelischen Abgründen auf die Leser:innen wirkt, die sich bis zum dramatischen Finale nicht daraus lösen können.


Thomas Oláh: Doppler

Der Wiener Schriftsteller Thomas Oláh ist erst seit kurzem Schriftsteller, bisher trat er als Kostümdesigner für renommierte Filmemacher:innen wie Detlef Buck, Leander Haußmann, Oskar Roehler oder Shirin Neshat in Erscheinung. Bislang hat er also eher Filmpreise als Buchpreise gesammelt, das könnte sich jetzt ändern. Denn mit seinem Debütroman »Doppler« ist er für den Debütpreis beim Österreichischen Buchpreis nominiert. Vorher sorgte er schon auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis für Aufsehen.

Thomas Oláh: Doppler. Verlag Müry Salzmann 2023. 224 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen.

Oláh erzählt darin vom Aufwachsen im Österreich der siebziger Jahre. Die Verhältnisse sind rau, die Traumata tiefgreifend, die Familien zerrüttet. Gleich zu Beginn kommt es zu einem Unfall, der symbolisch zeigt, dass in dieser Welt nichts mehr stimmt und einen Jungen aus Salzburg in in die vermeintliche Idylle des Dörfchens Frankenhayn katapultiert. Dort wächst er bei seinen Großeltern auf, unter der harten Hand seiner Cousins, die die Prügel der Eltern einfach weiterreichen und ihn zu so manchem Blödsinn verführen.

So zeichnet dieser kraftvolle und abgründige Roman ein Zeit- und Sittenbild, in dem auch die Rote Armee Fraktion nicht fehlen darf. »Doppler« handelt von einem Land, das im Schatten der Berge liegt und in dem einem nie so richtig hell ums Herz werden kann. »Mehr als aushalten ist nicht zu machen, nie. Wenn das gelingt, ist alles getan. Das gilt fürs Wetter wie fürs ganze Leben«, heißt es an einer Stelle. Keine Erbauungsliteratur, aber ein genauer Blick auf die Verhältnisse einer fast vergessenen Zeit.


Corinna Kuhlenkamp: Aprikosenzeit, dunkel

Die in Düsseldorf geborene Corinna Kulenkamp hat momentan eigentlich momentan ganz andere Sorgen, als ihren Debütroman an die Menschen zu bringen, denn der Konflikt in Bergkarabach beschäftigt auch sie. Als Tochter armenisch-deutscher Eltern schrieb sie kürzlich in der ZEIT über die Totenstille, die im Westen herrscht, während Aserbaidschan die armenische Enklave aushungert. Das fehlende Interesse für das Leiden der Armenier:innen spielt auch in »Aprikosenzeit, dunkel« eine wichtige Rolle. Im Mittelpunkt steht eine armenisch-deutsche Frau, die sich auf Spurensuche in die Heimat ihrer Eltern begibt.

Corinna Kuhlenkamp: Aprikosenzeit, dunkel. Orlanda Verlag 2023. 344 Seiten. 23,- Euro. Hier bestellen.

Dieses Konzept ist in der Anlage nicht neu, erinnert an Katerina Poladjans fulminanten Roman »Hier sind Löwen« und doch gelingt es der in München lebenden Autorin, dem Ganzen noch einen neuen Twist zu geben. Das liegt vielleicht auch daran, dass sie in Havard Politikwissenschaften und Völkerrecht studiert hat. In ihrem Roman räumt sie dem Völkermord an den Armeniern, verübt durch die Türken, eine wichtige Rolle ein. Wir erleben aber auch den deutschen Alltagsrassismus, den Kulenkamps Hauptfigur Karine in Deutschland erfährt, wenn über ihre dunklere Haut und den Ort gerätselt, wo sie »wirklich« herkommt.

Aus dieser Gemengelage vergangener und gegenwärtiger Traumata, die in ihr wühlen, erwachsen neue Fragen: Wer bin ich? Wer will ich sein? Wer kann ich sein? In Armenien versucht sie, inneren wie äußeren Frieden zu finden, und hat es plötzlich mit den Abgründen der Realpolitik zu tun. »Aprikosenzeit, dunkel« ist ein starker Roman, der den Kampf der Armenier:innen um Anerkennung ihres Leids, um Sichtbarkeit und Selbstbestimmung vor Ort und im »Exil« eindrucksvoll schildert.


Frank Witzel: Die fernen Orte des Versagens

Frank Witzel zu lesen ist, man kann es nicht sagen, ein großes Abenteuer. Seit seinem vollkommen verdienten Triumph beim Deutschen Buchpreis 2015 mit »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« gehört er zu den großen deutschsprachigen Autor:innen. Er hat sich ganz der bundesrepublikanischen Geschichte verschrieben, die er oft aus autofiktionaler Perspektive umkreist.

In seinen gerade erschienenen Erzählungen »Die fernen Orte des Versagens« betritt er nun einen Raum, der ähnlich wie die Landschaften in César Airas Werk von einer dunklen Magie beleuchtet ist. Zehn Jahre lang hat Witzel diese 14 Erzählungen gesammelt, immer wieder daran gearbeitet, Motive und Themen miteinander verschränkt, so dass man ein dünnes goldenes Haar wahrzunehmen meint, dass sich im Dunkeln leuchtend durch diese Texte zieht und sie miteinander verwebt. Das erklärt auch das Möbiusbands, von dem der Verlag in seiner Ankündigung spricht, das weder oben noch unten, weder Anfang noch Ende kennt.

Frank Witzel: Die fernen Orte des Versagens. Matthes & Seitz Berlin 2023. 346 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen.

Witzel setzt seine Leser mit dem Brief eines Schriftstellers auf dieses Band, der verzweifelt seinem Verleger gesteht, dass es ihm nicht gelingt, den geplanten Erzählungsband abzuschließen. Es folgen 13 weitere Texte, die sich allesamt als Hirngespinste entpuppen und doch mehr von der Wirklichkeit erzählen, als viele dieser ach so realistischen Romane. Sie handeln davon, was sich Menschen Versagen und wie man das in Sprache bringen kann. »Ich bin, so glaube ich zumindest, auf das dunkle Geheimnis der Literatur gestoßen, den Grund für das Scheitern so vieler Existenzen«, schreibt Witzel. Allein dafür muss man als Literaturliebhaber dieses Buch lesen.


Temur Babluani: Sonne, Mond und Kornfeld

Giwi Margwelaschwili, Nino Haratischwili und Zaza Burchuladze sind hierzulande die bekanntesten georgischen Autor:innen. Temur Babluani werden die wenigsten im Literaturbetrieb auf dem Schirm haben, weil er bislang vor allem als Filmemacher auf sich aufmerksam machte. Nun, im zarten Alter von 75 Jahren, erscheint ein Epos, das es in sich hat.

Im Mittelpunkt steht ein junger Mann namens Dschude, der 1968 mit gerade einmal 17 Jahren in die Machenschaften der georgischen Mafia gerät. Lebenshungrig, ehrgeizig und verliebt, wird er für ein Verbrechen verurteilt, das er nicht begangen hat. Plötzlich findet er sich in einem Gulag in Ostsibirien wieder. Ein halbes Leben wird er in russischen Gefängnissen und Lagern verbringen, wo er der tödlichen Kälte, Krankheiten und der Brutalität des Lagers ausgesetzt ist, wo Mitgefangene wie Wächter mit hässlichem Lachen ihrem Sadismus freien Lauf lassen. Aber Dschude gibt nicht auf, denn im fernen Tiflis wähnt er die Frau, der seine Liebe gilt. Als er Jahrzehnte nach seiner Deportation in die Heimat zurückkehrt, bricht dort gerade eine neue Ära an.

Temur Babluani: Sonne, Mond und Kornfeld. Aus dem Georgischen von Rachel Gratzfeld. Voland & Quist 2023. 546 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen.

Temur Babluani gelingt es nicht nur, von der dunklen Sowjetzeit in einer packenden Odyssee zu erzählen, sondern er verliert dabei nie sein Gefühl für die Sprache, die trotz der Härten des Daseins immer wieder in die weichen Gefilden der Melancholie und des Humors findet. »Sonne, Mond und Kornfeld«, wunderbar übersetzt von Rachel Gratzfeld, ist ein bildgewaltiges und eindrucksvolles Panorama, das aus dem Georgien der 1970er Jahre in die Gegenwart führt. Und wenn einer wie Clemens Meyer schreibt, dass ihn dieser Roman »in die Magengrube und ins Herz« trifft, dann ist dem wenig hinzuzufügen.


Shubhangi Swarup. Breiten des Verlangens

Ein junger Botaniker pflegt auf den Andamanen eine Rose für seine ihm versprochene Braut, die wiederum die Gabe besitzt, mit der Natur und den Geistern sprechen zu können. In dieser Grundkonstellation des Romans »Breiten des Verlangens« der in Indien lebenden Journalistin Shubhangi Swarup klingt die magisch-realistische Tradition, in die sie sich mit dieser Geschichte einschreibt, bereits an.

Shubhangi Swarup. Breiten des Verlangens. Aus dem Englischen von Milena Adam. Kommode Verlag 2023. 480 Seiten. 25 Euro. Hier bestellen.

Als Leser:innen folgen wir nicht nur diesem ungleichen Paar – hier der Wissenschaftler, dort die Magierin –, sondern einer Handvoll weiterer Figuren, die symbolisch für die Frage stehen, ob die Menschheit mehr Wissenschaft oder mehr Naturverbundenheit braucht. Da ist ein Geologe, der einen Gletscher retten will, eine Mutter, die um ihren Sohn kämpft, ein gut gealtertes Liebespaar und die auf dem Buchumschlag abgebildete Schildkröte, die innig mit dem Ozean verbunden ist. Fantasievoll und scharfsinnig bietet Shubhangi Swarup einen ergreifenden Blick auf die Menschheit, auf ihre Fähigkeit, sich zu lieben und zu hassen, sowie auf ihre tiefe Verbindung zur Natur. So liest sich dieser Roman auch wie ein Kommentar auf die Klimakrise und klingt dabei wie eine indische Version von Frank Schätzings Weltbestseller »Der Schwarm«.

Als ein Fischer auf dramatische Weise ums Leben kommt, heißt es: »Eine halbe Stunde später treiben Schmetterlinge wie Laub auf dem Wasser. Die Leiche des Fischers schaukelt auf den Wellen. Mehr als eine Minute hat es nicht gedauert. Eine Minute, in der der Meeresgrund einbrach, um dann wie ein Phönix emporzusteigen.« Shubhangi Swarups erfindungsreicher Debütroman, von Milena Adam übersetzt, hat in Asien mehrere Literaturpreise erhalten und war auch für den hochdotierten International Dublin Literary Award nominiert, den zuletzt die Berlinerin Katja Oskamp gewann. »Breiten des Verlangens« gibt sich tatsächlich nicht mit einzelnen Geschichten zufrieden, sondern enthüllt die Geschichte der Erde selbst.


Valerie Bäuerlein: Die Unvollständige

»Tala war letzte Woche von ihrer langen Reise zurückgekehrt, hatte ordentlich ihre Sachen ausgepackt und verstaut, sich dann ins Bett gelegt, um sich auszuruhen, wie sie sagte, sich aus ihrem Bett, aus ihrem Zimmer aber tagelang nicht mehr hinausbegeben; ihre Eltern wussten sich langsam nicht mehr zu helfen, da stand sie vor zwei Tagen endlich auf und ging hinaus, zu einem Spaziergang, wie sie sagte, sie wollte unbedingt allein gehen, und warf sich dann vor einen Zug.«

Valerie Bäuerlein: Die Unvollständige. Kjona Verlag 2023. 160 Euro. 22,- Euro. Hier bestellen.

Mit diesem gleichermaßen atemlosen wie schockierenden Satz beginnt der Debütroman der Filmkritikerin und Filmvorführerin Valerie Bäuerlein. Die Ich-Erzählerin in »Die Unvollständige« wollte mit Tala eigentlich einen Film drehen, nun begibt sie sich, schockiert vom Tod ihrer Muse, auf deren Spuren. Da sind zum einen die langen Briefe, die Tala, Tochter einer Iranerin und eines griechischen Gastarbeiters, von ihren Reisen aus Asien geschickt hat, zum anderen sind da die Spaziergänge, die die Erzählerin an Erinnerungsorte in Berlin unternimmt. Erinnerung ist hier doppelt zu verstehen, als persönliches Andenken und kollektives Gedächtnis, denn Bäuerleins Roman taucht sowohl in Familien- als auch Gesellschaftsgeschichte ein.

Die Prosa von Valerie Baeuerlein hat eine ganz eigene Dynamik, bedient sich filmischer Mittel wie Blenden und Schnitten, zoomt in Szenen rein und wieder heraus und überlagert Bilder und Motive. So greift der Roman sprachlich die Profession der Erzählerin auf und verschiebt den Fokus auf die Kunst, die hier zum Mittel der Selbstfindung wird. Denn letztlich kreist dieser Roman bei beiden Figuren um die Frage, wer sie sein wollen. Im Interview mit der Berliner Morgenpost sagte die Autorin: »Ich glaube, dass man Identität gestalten kann. Man ist ihr nicht ausgeliefert, sondern verändert sich durch die Dinge, mit denen man sich beschäftigt, durch die Menschen, die man kennt.«


Alain Mabanckou: Das Geschäft der Toten

Normalerweise gibt es in einem Krimi Ermittler, die ein Verbrechen aufklären müssen. Die Toten sprechen zwar für sich, haben aber nichts zu sagen. Das ist in dem neuesten Geniestreich von Alain Mabanckou völlig anders, denn hier ist der Tote auch gleich der Ermittler.

Alain Mabanckou: Das Geschäft der Toten. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind Verlag 2023. 227 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen.

»Das Geschäft der Toten« handelt von Liwa Ekimakingaï, einem besitzlosen Küchengehilfe in einem Luxushotel, der sich nach einer feuchtfröhlichen Nacht nicht in seinem Bett oder dem der schönen Adeline wiederfindet, sondern auf dem Friedhof der Armen »Frère-Lachaise« in der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa. Empört vom eigenen Tod beschließt er, den Ereignissen auf den Grund zu gehen und sich an den hinterhältigen Tätern zu rächen. Dafür rekapituliert der Untote Liwa Ekimakingaï noch einmal sein Leben und die jüngere Geschichte seines Landes, in der korrupte Politiker, Geisterglaube und der Kolonialismus ein verheerendes Erbe hinterlassen haben.

Der kongolesische Schriftsteller Mabanckou, der in Paris und Los Angeles lebt und dessen Werk mit zahlreichen Preisen dekoriert ist, beweist mit seinem neuen, vollkommen außergewöhnlichen Roman, dass es möglich ist, höchst amüsant über den Kolonialismus zu schreiben. Denn der Friedhof ist ein Abbild der Gesellschaft, manche werden unter Holzbrettern verscharrt, andere in Palästen bestattet. Die Gesellschaft, die sich dort versammelt, hat nichts mehr zu verlieren und plaudert umso ehrlicher über die Abgründe, in die sie gestürzt sind. Jede einzelne Geschichte sprüht vor Einfallsreichtum, Mabanckou verbindet sie zu einem Epos, in dem der Klassenkampf bis in die Welt der Toten reicht.

Die aktuellen Celan-Preisträger Holger Fock und Sabine Müller haben den wunderbaren Sound dieser großartigen Walking-Dead-Saga aus dem Kongo ins Deutsche übertragen und einmal mehr ihre Meisterschaft beweisen. »Das Geschäft der Toten« ist ein fantastisches, ein meisterhaftes Epos.

1 Kommentare

  1. […] Romane wie Michail Bulgakows »Meister und Margarita«, George Saunders »Lincoln im Bardo« oder Alain Mabanckous aktuellen Roman »Das Geschäft der Toten«. Zugleich finden sich Parallelen zu magisch-realistischen Klassikern wie Salman Rushdies […]

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