Die 64. Berlinale hat ihren Siegerfilm gefunden. Richard Linklater erzählt in seinem über zwölf Jahre gedrehten Film »Boyhood« vom Erwachsenwerden eines Jungen in einer ganz normalen Familie. Das Meisterwerk des Amerikaners glänzt über allen anderen Wettbewerbsbeiträgen.
Der sechsjährige Mason liegt im Gras und schaut in den Himmel, während Coldplay-Sänger Chris Martin »Look at the stars, look how they shine for you, and everything you do, yeah, they were all yellow« singt. Nicht immer werden die Sterne für Mason in seiner Kindheit und Jugend hell und leuchtend scheinen. Es wird auch weiße Zwerge und schwarze Löcher geben, einige Sterne werden leise verlöschen, andere laut vom Himmel fallen.
Vor Mason liegen noch die komplette Kindheit und Jugend – und vor dem Zuschauer drei Stunden Filmgeschichte, in denen er Zeuge dieser aufregenden, mal federleichten, mal zentnerschweren Zeit wird. Zu verdanken hat er das dem dreistündigen Meisterwerk Boyhood des amerikanischen Regisseurs Richard Linklater. Für den Film hat er zwölf Jahre mit denselben Schauspielern zusammengearbeitet. Sein Werk gewinnt durch die verdichtete Lebenszeit der Akteure eine noch nie dagewesene Magie – vor allem mit Blick auf die Geschwister Mason und Samantha, die zu Beginn des Filmes Kinder und am Ende Erwachsene sein werden.
Richard Linklater liebt große Projekte. Bei der Berlinale ist er ein gern gesehener Gast, alle Teile seiner Paris-Trilogie Before Sunrise, Before Sunset und Before Midnight liefen hier. Für Before Sunrise erhielt er 1995 den Silbernen Bären. Es spricht alles dafür, dass sein Film Boyhood, einem konzeptuellen Mix aus Echtzeitdokumentation und Spielfilm, in diesem Jahr den Goldenen und womöglich noch einige Silberne Bären gewinnen wird.
Boyhood ist von der Idee so genial wie naheliegend. Realistischer, als einen Jungen durch seine komplette Schulzeit zu begleiten, kann man Kindheit filmisch nicht festhalten. Zwölf Jahre lang hat er sein Team einmal im Jahr für ein paar Wochen zusammengerufen, um die einzelnen Sequenzen zu drehen, die er in Boyhood zum Porträt einer Kindheit kondensiert hat. Das Altern der spielenden Hauptfiguren, ihre Alltagserlebnisse und prägenden Erfahrungen in dieser Zeit konnten so in den Film einfließen.
Zwölf Jahre lang mit denselben Menschen drehen zu wollen, heißt nicht nur, auf ihre Kooperationsgemeinschaft angewiesen zu sein, sondern auch zu hoffen, dass keinem der Schauspieler etwas zustößt. Dazu zwölf Mal Vorbereitungen zu treffen, zwölfmal Anträge für die Finanzierung des Low-Budget-Films stellen, all das sind Herausforderungen, denen man sich erst einmal zu stellen wagen muss. Davon auszugehen, dass all das gut gehen werde, erfordert »eine große Portion Optimismus«, wie Linklater vor der Premiere seines Filmes gestand. Das Filmteam und Produzentin Cathleen Sutherland brachten diesen Optimismus mit. Entstanden ist ein Masterpiece, ein magisches Zauberwerk, das eine neue Seite der Filmgeschichte aufschlägt.
Der Film setzt ein, als Mason (Ellar Coltrane) sechs Jahre alt ist und schließt mit seinen ersten Tagen an der Universität. Masons biografische Stationen – seine Kindheit, Pubertät und erste Ausflüge ins Erwachsenenleben mit allen denkbaren Höhen und Tiefen – bildet den erzählerischen Rahmen. Durch die Augen des Jungen durchläuft der Zuschauer zwölf Jahre Familiengeschichte, in der seine Eltern Olivia (Patricia Arquette) und Mason Senior (Ethan Hawke) sowie seine Schwester Samantha (Laurelei Linklater) trotz Trennung die einzige Konstante darstellen. Alle anderen – vom neuen Partner der Mutter bis hin zu Freunden und Vertrauten – kommen und gehen. Vor den Augen des Zuschauers spielt sich Masons Kinderleben wie im Zeitraffer ab. Man wohnt dem Entwicklungsprozess vom kindlich neugierigen Träumer bis zum empfindsamen Teenage-Rockstar bei. Dass dabei keinerlei Brüche in der Erzählung oder Irritationen bei den Zeitsprüngen ergeben, gehört zur außergewöhnlichen Qualität dieses Films.
Streng genommen erzählt Richard Linklater in Boyhood nicht von Masons Kindheit, sondern porträtiert die Geschichte einer Familie über zwölf Jahre. Es ist eine Allerweltfamilie, deren Leben Linklater festgehalten hat, ihre Mitglieder sind weder sonderlich mies dran noch außerordentlich behütet. Der Zuschauer erlebt Katastrophen wie die cholerisch-aggressiven Kontrollverluste der alkoholabhängigen Interimsväter und den damit verbundenen Neuanfänge. Er wird aber auch Zeuge der alles überstrahlenden Liebe, die Patricia Arquette und Ethan Hawke in ihren Rollen den Kindern zukommen lassen. Er sieht sowohl die Ängste, Sorgen und Nöte der alleinerziehenden Olivia als auch die Mühen von Mason Senior, der sich mit der Rolle des Wochenendvaters nicht zufrieden gibt. Sie ringen und kämpfen sich durch zwölf Jahre der persönlichen Entwicklung, in denen sie nie den liebevoll-besorgten Blick für und auf ihre Kinder verlieren. Dieser ist in seiner Intensität nie konstant, aber in seiner Grundsätzlichkeit stets erkennbar.
Vor allem aber durchlebt der Zuschauer mit den Geschwistern Mason und Samantha all das, was Kinder heutzutage erleben – die Konflikte ihrer Eltern, deren aus Kinderaugen unstete Verfügbarkeit, das Leiden, wenn sie immer wieder aus den Wurzeln gerissen werden, die ständigen Neuanfänge, wachsende und zerbrechende Freundschaften, erste Liebe, erste Konflikte sowie den langen und niemals geradlinigen Prozess der Selbstfindung. Linklater demonstriert in seinem Porträt eindrucksvoll, dass das Leben ein Fest sein kann, oft aber auch einfach nur eine Pest ist. Im Hintergrund spielt sich die US-amerikanische Gesellschaftsgeschichte ab – Nine-Eleven, Irak-Krieg, die Obama-Kampagne und vieles mehr. Diese realistischen Elemente rahmen die Geschichte der Familie, die sich so auch als eine amerikanische Kulturgeschichte der letzten zwölf Jahre betrachten lässt.
Getragen wird der Film von den vier Hauptpersonen, die in ihrer persönlichen Weiterentwicklung den Zauber und die Authentizität dieses Films ausmachen. Magisch ist die Präsenz von Ellar Coltrane, der den Zuschauer als verträumter und sensibler Junge näher an das Geheimnis der Kindheit und Jugend heranführt. »Ich habe in den zwölf Jahren eine Menge darüber gelernt, was es heißt, ein Sohn zu sein», sagte Ellar Coltrane in Berlin. Die von Linklaters Tochter gespielte Schwester Samantha gibt dem geschwisterlichen Leben die nötige Würze. Ethan Hawke brilliert als sorgend-engagierter Vater, Patricia Arquette als immer achtsame alleinerziehende Mutter in Dauerbeanspruchung. Linklater hat diesen Figuren ihre Fehler und Schwächen gelassen, was sie umso näher sein lässt. Sie machen all das durch, was jedermann durchmachen muss, all die Aufs und Abs, die das Leben bereithält. »Wir zeigen ein Leben, das auf der Erfahrungen des Vergangen basiert«, sagte Patricia Arquette vor der ersten Vorführung des Films in Berlin.
Die Erzählung ist mit einem ansteckenden Soundtrack unterlegt. Zu beginn Coldplays Hymne »Yellow«, in der Phase der großen Fragen die Vielfältigkeit von »The Black Album« der Beatles und am Ende, als er bei seiner Mutter ausgezogen ist, »Hero« von der Indiepop-Band Family of the Year: »So let me go, I don’t wanna be your hero, I don’t wanna be a big man, I just wanna flight like everyone else.« So nüchtern, wie das aufgeschrieben klingt, so umwerfend ist der Effekt, denn die Filmmusik spiegelt nicht nur die situative Gefühlslage der Personen, für die sie stehen, sondern auch die Kultur der Zeit, die im Film abgebildet wird. In seiner Gesamtheit reflektiert der Soundtrack die Entwicklung Masons in seiner Familie.
Wir alle leben unsere Leben, ohne zu wissen, wie und wo sie enden. Es ist zu hoffen, dass wir oder unsere Kinder eines Tages das hören, was Mason am Ende seiner Schulzeit von seiner Lehrerin mit auf den Weg bekommt: »Du hast ein gutes Herz. Hör drauf.«
Von diesem guten Herz, seinem Reifen und Werden, erzählt Richard Linklater in Boyhood, der in dem bislang mäßigen Berlinale-Wettbewerb keine Konkurrenz kennt. Dieser Film schwebt glänzend weit über allen anderen Beiträgen.
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