Die 75. Berlinale biegt auf ihre Zielgerade ein. Mit Richard Linklater, Radu Jude und Hong Sang-soo präsentierten einige bereits ausgezeichnete Filmemacher ihre neuen Werke im Wettbewerb. Dabei erzählen sie auf ganz unterschiedliche Weise mitreißende Geschichten von Menschen, denen der Alkohol zum Verhängnis wird.
Lorenz Hart und Richard Rodgers bildeten eines der erfolgreichsten Broadway-Duos im Amerika der 30er und 40er Jahre. Songs wie »My Funny Valentine«, »Yours Sincerely« oder »Blue Moon« haben sie gemeinsam geschrieben. Hart die Texte und Rodgers die Musik. Doch dann sucht sich Rodgers mit Oscar Hammerstein einen neuen Partner, ihr gemeinsames Bühnenstück »Oklahoma« wird alle Rekorde brechen. Nicht, weil es so inspirierend ist, sondern weil es die patriotischen Zeilen liefert, nach der sich das im Krieg befindende Land sehnt.

Richard Linklaters neuer Film »Blue Moon« spielt am Abend der umjubelten Premiere von »Oklahoma« im Jahr 1943 in der Bar, in der die Premierenparty nach den Musical stattfindet. Lorenz Hart trifft dort vor allen anderen ein und wird sich an der Bar niederlassen, die er im Laufe des Abends immer nur kurz verlassen wird. Von seinem Platz aus wird er den Barkeeper, den Pianisten sowie einige Journalisten prächtig mit Kommentaren zu seiner Arbeit, zum Zustand der Kultur und zum Leben ganz allgemein unterhalten.
Ethan Hawke spielt diesen eitlen Dandy mit Zigarre in grandioser Manier. Er spottet, lästert und klagt, philosophiert, doziert und analysiert, bettelt, winselt und heult, schleimt, scharwenzelt und umgarnt grimassierend die (ihm) bekannten und unbekannten Gäste der Bar, was das Zeug hält. Was ist die schlechteste Zeile in »Casablanca«? Was die beste? Und worin besteht der Unterschied zwischen einem halb und einem ganz erigierten Schwanz? Mit Fragen wie diesen unterhält er alle, die ihm Gehör schenken. Auch als Zuschauer:in klebt man an den Lippen dieses zutiefst verletzten Mannes, die nur dann für einen Moment stillstehen, wenn er sich einen Bourbon gönnt.
Richard Linklater, der bereits 2014 mit seinem Langzeit-Teenager-Drama »Boyhood« (in dem ebenfalls Ethan Hawke mitspielte) einen Silbernen Bären gewonnen hat, präsentiert nun ein zweistündiges Echtzeitkammerspiel, in dem weniger das Was als das Wie im Mittelpunkt steht.
Ethan Hawke scheint in diesem selbstverliebten Dandy, der hier ein Feuerwerk aus Zitaten, Gerüchten, Sottisen und Sprüchen abbrennt, die Rolle seines Lebens gefunden zu haben. In seinem Lorenz Hart lauert die schelmische Energie einer typischen Jim-Carrey-Figur, aber auch die abgründige Tiefe eines Benedict Cumberbatch. Mit dieser Performance hat er sich zweifelsfrei in den Fokus der Jury gespielt. Ob das von Todd Haynes geleitete Gremium am Ende den Silbernen Bären für die Verkörperung eines alten weißen queeren Mannes geben will, bleibt abzuwarten.
Wenn sich Hart sein Leben jemals als Bühnenstück vorgestellt hat, dann sind alle anderen nur stumme Komparsen. Deshalb kommen neben ihm hier auch nur wenige zu Wort. Zu den wenigen gehört natürlich Richard Rodgers (Andrew Scott), vor allem aber die junge Elisabeth Weiland (Margaret Qualley), der Hart mit Haut und Haar verfallen ist. Wenn sie ihn in ihr Liebesleben einweiht, dann ist das eine ebenso süße wie unterwürfige Tortur und macht das Bild dieses gedemütigten Mannes erst perfekt, der nur wenige Monate später an den Folgen seiner Alkoholsucht zugrunde gehen sollte. Richard Linklater und Ethan Hawke setzen ihm mit diesem Film ein unterhaltsames Denkmal.

Der rumänische Regisseur Radu Jude, der die Corona-Berlinale 2021 mit seiner Satire »Bad Luck Banging or Loony Porn« gewann, ist mit seinem Sozialdrama »Kontinental ’25« wieder im Wettbewerb zu Gast. Darin porträtiert er die Gerichtsvollzieherin Orsolya (Eszter Tompa), die mit den tragischen Folgen einer Wohnungsräumung zu kämpfen hat. Sie gesellt sich damit zu den anderen Frauen im Ausnahmezustand, die der Wettbewerb zu bieten hat. Als sie einen Obdachlosen aus einem Heizungskeller schaffen muss, nimmt sich der Mann das Leben und Orsolya fühlt sich fortan schuldig an diesem Tod.
Moral trifft in Radu Judes neuem Film auf recht, denn wenngleich die Antiheldin rechtlich keine Schuld trifft, verstrickt sie sich in den moralischen Fragen ihres Tuns. Denn die rumänische Stadt Cluj verändert sich rasant, Grund dafür sind windige Immobilienfirmen wie »Europa k.u.k.«, deren Recht sie durchsetzen musste. Innerhalb weniger Jahre ist die Einwohnerzahl der Stadt explodiert, Luxusimmobilien und Wohnparks für jene, die es sich leisten können, haben dem Vorschub geleistet.

Aber was würde passieren, wenn sie sich schlicht weigern würde, windige Räumungsbefehle umzusetzen? Wäre ein Rechtsverstoß moralisch vertretbar, wenn sie damit einer grundsätzlichen Ungerechtigkeit begegnen würde? Solche Fragen provoziert dieser Film.
Einmal mehr setzt sich Radu Jude mit der Idiotie der Gegenwart auseinander; diesmal nur mit dem iPhone ausgestattet. Andere Kameras brauchte er für den Dreh dieses Films nicht. Im Alltag seiner Antiheldin lässt der Rumäne Rassismus und Nationalismus, religiöse Bigotterie und politische Korruption, Aufstiegsversprechen und Abstiegsängste aufeinanderprallen. »Kontinental ’25« ist ein Sittenbild der osteuropäischen Gegenwart. Die lebensgroßen Figuren in einem Dinopark, in dem der Film beginnt, symbolisieren den Raubtierkapitalismus, der die postsozialistischen Gesellschaft fest im Griff hat.

Orsolya wird aus schlechtem Gewissen nicht mit ihrer Familie in den Urlaub fahren, sondern in der Stadt bleiben. Um ihr Schuldgefühl abzuschütteln, wird sie sich am Ende einer weinseligen Nacht einem ehemaligen Studenten (Adonit Tanța) in einem Park hingeben. Diese Episode steht im übertragenen Sinn nicht nur für die allgegenwärtige Unbehaustheit in dieser Gesellschaft, sondern macht auch deutlich, dass hier nicht die Gebildeten und Kultivierten vorankommen, sondern die skrupellosen Alphatiere. Und jene, die das Gewissen zwickt, finden Zuspruch in der Kirche.
Wer den historischen Konflikt zwischen Rumänien und Ungarn kennt, wird diesem vieldimensionalen, aber auch fragmentarischen Film noch mehr abgewinnen können. Der Ethnonationalismus und Antiziganismus (siehe auch sein Film »Aferim«) in beiden Ländern sowie der historische Konflikt um Siebenbürgen spielt eine wahrnehmbare Nebenrolle.
Wie genau sich dieser Teil des Films genau zu Orsolyas Geschichte sowie in die mafiösen wirtschaftlichen Zustände und die eklatanten Differenzen zwischen Arm und Reich fügt, von denen die Bildtafeln erzählen, die den Film Rahmen, bleibt unklar. So wirkt »Kontinental 25« wie eine lose Aneinanderreihung von Bildern, Motiven und Ideen, die sich nur mit Wohlwollen zu einem Bigger Picture zusammenfügen lassen.

Ganz auf seine Bilder vertraut der koreanische Regisseur Hong Sang-soo, der seit Jahren ein Stammgast der Berlinale ist. Mehrere Silberne Bären hat er bereits gewonnen. Zuletzt mit seinem Film »A Traveller’s Needs«, der im vergangenen Jahr mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. In diesem Jahr ist er mit seinem Film »What Does that Nature Say to You« im Wettbewerb vertreten, in dem mit Ha Seong-guk, Kwon Hae-hyo, Jo Yoon-hee und Kang So-yi das aus anderen Sang-soo-Filmen vertrautes Personal auftritt.
Er erzählt darin vom ersten Aufeinandertreffen der Familie einer jungen Frau mit ihrem Freund. Eigentlich will der junge Dichter Dong-wha seine Freundin Jun-hee nur nach Hause fahren, aber als ihn ihr Vater zum Abendessen einlädt, fühlt er sich geschmeichelt und bleibt. Er flaniert anschießend mit dem Schwiegervater in spe durch dessen selbst angelegten Garten, besucht mit Jun-hee und ihrer Schwester den örtlichen Tempel, beim Abendessen lernt er seine Schwiegermutter kennen, die wie er der Poesie zugeneigt ist.

Wie schon in den letzten Sangsoo-Filmen wird auch hier ordentlich Makgeolli und Soju getrunken. Sang-soos neues Werk ist eine Art Gruppenbild mit Heiratskandidat, denn Jun-hees Familie prüft den Freund auf Herz und Nieren. Zunächst geht es um Profanes wie seinen Bart, die Brille oder sein altes Auto, zunehmend geht es in den Gesprächen aber ums Eingemachte. Dann philosophiert Jun-hees Familie mit Dong-wha über Ambitionen und Lebensziele, Geld und Poesie. Dabei wird deutlich, dass der junge Dichter dem allgemeinen Besitzstreben nichts abgewinnen kann. Er ist bereit, auf Materielles zu verzichten, wenn er dafür frei von Verpflichtungen leben sein.
Dies scheint auch mit seinem Vater zusammenzuhängen, der als Rechtsanwalt Ha eine gewisse Bekanntheit genießt. Während Jun-hees Familie annimmt, dass Dong-wha sich auf den Meriten seines Vaters ausruhen kann, ist dem es sichtlich unangenehm, immer wieder auf ihn angesprochen zu werden. Als er vom Reisschnaps betrunken ist, eskaliert das Gespräch und es kommt zum Eklat.

In seinem 33. Film denkt Hong Sang-soo über die Poesie und das Kino nach. Dabei funktioniert »What Does that Nature Say to You« selbst wie ein Gedicht. Die einzelnen Vignetten, mit denen er von dieser Begegnung erzählt, bilden die Verse und fügen sich zu einem größeren Ganzen. Das wiederum reiht sich ein in ein Werk, in dem jeder einzelne Film wie der Teil eines organischen Zyklus‘ wirkt, der wächst und wächst und wächst.
In den einzelnen Elementen dieses Gesamtwerks lassen sich dann Querverbindungen finden. Hier ist es etwa die Dimension der Sprache in der Figur des Dichters, die sich in der von Isabelle Huppert gespielten Sprachlehrerin seines Films »A Traveller’s Needs« spiegelt. Der genaue Blick auf seine Figuren und ihre emotionalen Lagen prägt das ganze Werk.
Richard Linklater, Radu Jude und Hong Sang-soo haben jeweils eine ganz eigene Form und Bildsprache für ihre Porträts gefunden. Richard Linklater hat eine sprühende Hommage auf einen sinkenden Broadway-Star mit nach Berlin gebracht, die auf satte Farben und gedämmte Atmosphäre setzt. Radu Judes Gegenwartskritik kommt mit einer extrem kalten und scharfen Optik daher, die die Härten der Welt abbildet. Hong Sang-soo wiederum dreht in seinen verspielten Film über die Poesie des Alltags am Fokus und lässt seine satten Bilder leicht verschwimmen, so dass die Wirklichkeit noch durchdringt, aber dem Traumhaften schon die Tür geöffnet ist, um ins Bild zu schlüpfen.