Film

Mütter am Rand des Nervenzusammenbruchs

Rose Byrne in »If I Had Legs I’d Kick You« von Mary Bronstein | © Logan White / © A24

Im Wettbewerb der Berlinale spielen Mütter und ihre Nerven eine große Rolle. Mary Bronstein und Johanna Moder zeigen in ihren Filmen, wie schrecklich, überfordernd, bedrängend und beängstigend Mutterschaft sein kann. Iván Fund und Frédéric Hambalek lassen mit übersinnlichen Kräften unterhaltsamere Töne anklingen.

Wie heißt es so schon? Die Gedanken sind frei. Dabei gerät allerdings in Vergessenheit, dass die Träger der Gedanken es nicht unbedingt sind. Das wird einem umso mehr bei Frédéric Hambaleks kluger Satire »Was Marielle weiß« bewusst. Darin bilden Julia, Tobias und Marielle eine gut situierte Vorzeigefamilie. Julia arbeitet erfolgreich in einer Agentur, Tobias hat eine führende Position in einem Verlag, ihre Tochter Marielle besucht eine Schule, in der Eltern ihre Kinder mit dem Auto vorfahren.

Was nach der perfekten Vorlage für eine Geschichte über Helikoptereltern klingt, entwickelt sich zum exakten Gegenteil. Die Überwachung von Kindern durch ihre Eltern mit Babyphones, Trackinguhren oder Handyapps wird hier mit den pseudo-telepathischen Fähigkeiten von Marielle ins Gegenteil verkehrt.

Laeni Geiseler in »Was Marielle weiß« von Frédéric Hambalek | © Alexander Griesser
Laeni Geiseler in »Was Marielle weiß« von Frédéric Hambalek | © Alexander Griesser

Denn Marielle kann plötzlich hören und erfahren, welche Gespräche ihre Eltern führen und was sie erleben. So kommen all die kleinen Heimlichkeiten und Gewohnheiten des Alltags ans Tageslicht. Da weiß Marielle plötzlich von der Zigarette, die ihre Mutter mit dem attraktiven Kollegen geraucht hat. Und auch, dass die beiden dabei schlüpfrige Fantasien ausgetauscht haben. Von ihrem Vater weiß sie, dass er sich bei der Diskussion um das richtige Buchcover nicht wie behauptet durchgesetzt, sondern eine gehörige Schlappe eingesteckt hat. Den alles überwachenden Helikopter, wie Felix Kramer in der Pressekonferenz zum Film sagte, fliegt in diesem Film die Tochter.

Das ändert natürlich die Kräfteverhältnisse in dieser an der Oberfläche perfekten Familie. Jetzt ringen Marielles Eltern um ihre Gunst, damit die kleinen Geheimnisse, die sie voreinander haben, nicht ans Tageslicht kommen. Der von Felix Kramer gespielte Tobias hat es da etwas leichter als die von Julia Jentzsch gespielte Mutter, weil ihre Geheimnisse weitaus delikater sind. Das geht natürlich nicht lange gut und bald liegen die Nerven auf allen Seiten blank.

Julia Jentsch und Felix Kramer in »Was Marielle weiß« von Frédéric Hambalek | © Alexander Griesser
Julia Jentsch und Felix Kramer in »Was Marielle weiß« von Frédéric Hambalek | © Alexander Griesser

Studien zufolge lügt der Mensch bis zu 25 Mal am Tag. Das reicht von kleinen Verdrehungen der Wirklichkeit bis hin zu hinterlistigen Täuschungen. Mal verschweigen wir die heimliche Zigarette, mal die stille Sehnsucht nach einem Quickie mit eine:r Unbekannten. Die alltäglichen Szenen, in denen das gläserne Leben dieser Familie in Szene gesetzt wird, lassen einen im Kinosessel befreit auflachen wie auch erschrocken zusammenzucken. In gleichermaßen klugen wie witzigen Dialogen deckt Hambalek in seinem Film auf, wie wir uns gegenseitig ständig etwas vormachen, um einen guten Eindruck zu erwecken. Das ebenfalls von Hambalek verfasste Drehbuch ist zielsicher in seinem Witz und bissig in seinem Sarkasmus.

Julia Jentsch (2016 mit einem Silbernen Bären für das Abtreibungsdrama »24 Wochen« ausgezeichnet), Felix Kramer und Laeni Geiseler lösen die Balance zwischen Ernsthaftigkeit und Humor in ihrem Spiel großartig ein. Die Hilflosigkeit, mit den unangenehmen Wahrheiten unausweichlich konfrontiert zu sein, und zugleich das Beste daraus zu machen, geben dem Film eine ungewöhnliche Form. »Was Marielle weiß« ist mal heitere Komödie, dann bittere Satire, packendes Familiendrama und gruselige Dystopie. Das Genre kann sich so jede:r selbst wählen. Es kann gut sein, dass die eigenen Heimlichkeiten bei der Entscheidung eine Rolle spielen.


Rose Byrne in »If I Had Legs I’d Kick You« von Mary Bronstein | © Logan White / © A24
Rose Byrne in »If I Had Legs I’d Kick You« von Mary Bronstein | © Logan White / © A24

Die amerikanische Schauspielerin und Regisseurin Mary Bronstein präsentiert in ihrem zweiten Film »If I had legs I‘d kick you« eine Mutter im Ausnahmezustand. Linda arbeitet als Therapeutin in einem Gesundheitszentrum und hilft jungen Menschen durch ihre Krisen. Jetzt ist sie aber selbst in einer. Ihre Tochter wird über eine Sonde künstlich ernährt, hat notorisch Angst vorm Sterben und fordert aus dem Off permanent die Aufmerksamkeit ihrer Mutter. Die Ärzte machen Linda Druck, ihre eigenen Klient:innen drehen am Neurosen-Rad und ihr Therapeut reagiert auf ihre Überforderung mit gelangweiltem Kopfschütteln.

Dann fällt ihr eines Abends noch wortwörtlich die Decke auf den Kopf. Ein riesiges Loch klafft in der Mitte ihrer Schlafzimmerdecke, Wasserfluten ergießen sich in ihre Wohnung. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als mit ihrer quängelnden Tochter in ein Hotel ziehen, in dem auch noch alles drunter und drüber geht.

Die Regisseurin Mary Bronstein und ihre Hauptdarstellerin  Rose Byrne auf dem Roten Teppich | © Berlinale
Die Regisseurin Mary Bronstein und ihre Hauptdarstellerin Rose Byrne auf dem Roten Teppich | © Berlinale

Das Loch symbolisiert all die Abgründe, durch die die von Rose Byrne in einer absoluten Powerperformance gespielte Linda jeden Tag durch muss. Aber auch für das Dunkel in ihrer Seele, das immer mehr Raum greift. Mit jeder Minute wächst die Sympathie für diese am Rand des Nervenzusammenbruchs souverän tanzende Mutter. Nicht, weil man Mitleid hätte, sondern weil Byrne diese Frau grandios selbstbezogen interpretiert. Linda ist zuweilen ein veritables Arschloch, man kann es verstehen.

Byrne zieht alle Register, um diese zwischen Liebe und Panik, Verzweiflung und Überforderung, Spott und Wut wankende Frau ins Bild zu setzen. Nach knapp der Hälfte aller Filme im Wettbewerb muss Byrne als Favoritin auf den Silbernen Bären für die beste darstellerische Leistung gelten.


Claes Bang und Marie Leuenberger in »Mother’s Baby« von Johanna Moder | © FreibeuterFilm
Claes Bang und Marie Leuenberger in »Mother’s Baby« von Johanna Moder | © FreibeuterFilm

Marie Leuenberger spielt in »Mother‘s Baby« ebenfalls eine Mutter im Ausnahmezustand. Die vierzigjährige Julia ist eine erfolgreiche Dirigentin, den Plan, eine Familie zu gründen, hatte sie schon ad acta gelegt. Da kommt Dr. Vilfort (Claes Bang) ins Spiel, der ihr und ihrem Mann Georg (Hans Löw) schon beim ersten Termin überzeugt zuraunt, dass es sicher nicht mehr als einen Termin brauche, damit sie schwanger würde.

Tatsächlich klappt die künstliche Befruchtung auf Anhieb, Julia und Georg eilen dem Elternglück entgegen. Doch bei der Geburt läuft etwas schief, die Ärzte nehmen Julia das Kind umgehend nach der Geburt weg, ohne ihnen zu sagen, was los ist. Erst einen Tag später wird den beiden Eltern freudestrahlend ein Kind überreicht, an dem Julia aber Zweifel hat. Das Baby ist ungewöhnlich still, hat kaum Hunger und scheint auch für laute Geräusche nicht empfänglich. Julia beginnt, ihr Baby mit Geräuschen zu erschrecken und zu zwicken, um seine Sinne zu prüfen.

Man beobachtet diese Mutter mit Befremden, aber je länger das geht, desto stärker kriecht einen ihre Skepsis an. Zwar werden all ihre Bedenken durch die Ärzte entkräftet, aber so ganz normal verhalten auch die sich nicht. Mit wem stimmt hier also etwas nicht? Mit dem Baby, den Ärzten oder der Mutter? Diese Frage rückt zunehmend in den Vordergrund der Handlung. Das Unbehagen, das einen dabei beschleicht, rührt auch daher, dass Julia und Georg dem Kind keinen Namen geben. Die Wohnung von Georg und Julia wird mehr und mehr zu einem Terrarium, in dem wir ein Experiment beobachten.

Das Familiendrama der österreichischen Filmemacherin Johanna Moder kippt mit jeder Minute mehr in einen Genrefilm, der unter die Haut gehende Score trägt entscheidend dazu bei. Das Thema »Regretting Motherhood« wird hier als Psychothriller inszeniert, indem der Film jede Eindeutigkeit vermeidet. Die Bilder teilen meist ihre Perspektive, ihre Skepsis, ihre Verzweiflung und ihr Misstrauen. Ob Julias Panik begründet ist oder sie eine postnatale Depression durchmacht, wird erst ganz am Ende aufgelöst. Die Frage des Genres beantwortet sich dann auch.


Anika Bootz in »The Message« von Iván Fund | © Iván Fund, Laura Mara Tablón, Gustavo Schiaffino / Rita Cine, Insomnia Films
Anika Bootz in »The Message« von Iván Fund | © Iván Fund, Laura Mara Tablón, Gustavo Schiaffino / Rita Cine, Insomnia Films

Vollkommen anders geht Iván Funds faszinierender Film »The Message« mit der Frage nach Familie um. Im Mittelpunkt seines in schwarz-weißen Bildern erzählten Road-Movies steht ein Mädchen namens Anika, das über telepathische Kräfte verfügt. Sie besitzt die Gabe, die Gedanken von Tieren lesen zu können. Ihre Großeltern machen daraus ein lukratives Geschäft. Sie fahren mit ihrem Wohnmobil kreuz und quer durch die argentinische Provinz und bieten verzweifelten Haustier-Besitzer:innen Aufklärung zu den Nöten ihrer Vierbeiner an. Dabei kümmert sich Myriam um die Terminvereinbarung, Anika kommuniziert mit den Tieren und Roger kassiert ab. Um das Geschäft anzukurbeln, treten sie im Lokalfernsehen auf und bieten ihren außergewöhnlichen Dienst auch telefonisch oder online an.

Bei Anikas Tiergesprächen, im Film ist von »Kanalisationen« die Rede, treten ebenso lustige wie traurige Geschichten zutage. So spricht das Mädchen mit einem eifersüchtigen Kater, der ständig zum Tierarzt muss, weil die Termine nur als Alibi für heimliche Schäferstündchen herhalten müssen, die die Tochter der Besitzerin mit dem attraktiven Veterinär verbringt. In einer anderen Situation lauscht Anika einem deprimierter Igel, der ihr gesteht, dass er einsam ist und zu seinen Verwandten will.

Anika Bootz in »The Message« von Iván Fund | © Iván Fund, Laura Mara Tablón, Gustavo Schiaffino / Rita Cine, Insomnia Films
Anika Bootz in »The Message« von Iván Fund | © Iván Fund, Laura Mara Tablón, Gustavo Schiaffino / Rita Cine, Insomnia Films

Anikas paranormale Kommunikation ist nur Instrument, um von einer ganz anderen instinktiven Beziehung zu erzählen. Myriam (Mara Bestelli) und Roger (Marcelo Subiotto) kümmern sich als Großeltern liebevoll um ihre Enkelin, weil Anikas Mutter in einer psychiatrischen Einrichtung lebt. Welche Rolle dabei die besondere Gabe spielt, die alle Frauen in dieser Familie teilen, bleibt ungeklärt.

»The Message« ist ein harmonischer und perfekt ausbalancierter Film über eine Schicksalsgemeinschaft, die ohne viele Worte auskommt. Eine große Natürlichkeit liegt in dem vertrauten Miteinander, dass die drei teilen. Aus kleinen Gesten und zugewandten Blicken spricht die Innigkeit dieser Verbindung. Als Anika ihre Milchzähne verliert, nimmt Roger ihrer Hoffnung auf die Zahnfee gleichermaßen nüchtern wie liebevoll jegliche Grundlage. Man schmunzelt in sich hinein, ist es doch der Aberglaube, auf dem diese Schicksalsgemeinschaft ihr Van-Life aufgebaut hat.

Ein Magier hätte seinen Beruf verfehlt, würde er nicht wissend mit der Verführbarkeit seines Publikums spielen. Das gleiche gilt für Filmemacher. Iván Fund beweist in diesem außergewöhnlichen Road-Movie seine Meisterschaft.

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