Der rechtsextreme Anschlag von Hanau, bei dem neun Menschen umgebracht worden sind, jährt sich zum fünften Mal. Die Dokumentation »Das Deutsche Volk« ist ein filmisches Denkmal für die Opfer und erzählt die Geschichten der Überlebenden und Angehörigen. Die Doku »Die Möllner Briefe« begleitet 30 Jahre nach den dortigen rassistischen Angriffen Überlebende und Hinterbliebene.
Seit fünf Jahren klemmt Emis Gürbüz jeden Tag das Handy ihres Sohnes an das Ladekabel. Es soll nicht ausgehen, als würde er damit für sie irgendwie erreichbar bleiben. Aber Sedat Gürbüz ist tot, erschossen von einem Rechtsextremisten, der am 19. Februar 2020 neun junge Menschen im hessischen Hanau ermordet und sieben weitere Menschen teils lebensgefährlich verletzt hat.
Der Attentäter konnte dafür quer die Stadt fahren, ohne dass die Polizei eingriff. Die war für die Opfer erst lange nicht erreichbar und hat dann Ewigkeiten gebraucht, um an den beiden Tatorten aufzutauchen. Es waren auch nicht die Behörden, die den Terroristen gestoppt haben. Nach der Bluttat fuhr er seelenruhig nach Hause, wo er seine Waffe erst gegen seine Mutter und dann gegen sich selbst richtete. Die Spuren der schrecklichen Tat sind immer noch an den Tatorten zu sehen, Patronenstreifen, Einschusslöcher, Fotos der Ermordeten.

Der faschistische Terror von Hanau wird in diesem Film aus der Perspektive der Überlebenden und Hinterbliebenen erzählt. So erfährt man aus direkter Quelle, wie der Notruf minutenlang nicht erreichbar war. Wie ausgeliefert die Opfer waren, wie auf einer Schlachtbank, erinnert sich einer der Überlebenden. Und wie die Sanitäter vor Ort die Schwerverletzten als Schutzschild missbrauchten, als das Gerücht aufkam, der Täter würde zurückkehren.
Als wäre das alles nicht skandalös genug, ist das nur der Anfang des jahrelangen Behördenversagens. Die Leichen lagen stundenlang am Tatort, Angehörige wurden erst Tage nach der Tat informiert, die Ermittlungen wurden schlampig durchgeführt. Obwohl im Nachhinein bekannt wurde, das mehr als ein Dutzend rechtsextreme SEK-Beamte in der Nacht im Einsatz waren und es zu zahlreichen »Versäumnissen« kam, sprach der hessische Innenminister von einem »exzellenten Polizeieinsatz«.
Die Tatsache, dass der Fluchtweg in der Arena Bar verschlossen und den Behörden das bekannt war, machten erst die Opfer öffentlich. Die Hessische Staatsanwaltschaft interessierte das nicht, auch hier wurde bestenfalls schlampig, schlimmstenfalls rassistisch motiviert gearbeitet. Ein von den Hinterbliebenen in Auftrag gegebenes Gutachten von Forensic Architecture ergab, dass in der Arena Bar mehrere Tote hätten erfolgreich fliehen können, wenn der Notausgang geöffnet gewesen wäre. In 41 Sitzungen arbeitete ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss die Ereignisse auf – ohne Konsequenzen.
»Mein Sohn wurde von einem Rassisten getötet und der Rassismus geht weiter«, klagt der wütende Vater von Hamza Kurtovič in der zweistündigen Dokumentation von Marcin Wierzchowski, die der Wut auf das Versagen von Politik und Behörden, dem Entsetzen und der Empörung über den fortgesetzten Rassismus bei den Ermittlungen sowie der Fassungslosigkeit über das (mit)gefühlslosen Verhalten der politisch Verantwortlichen Raum gibt.
Gleiches kann man auch für die Doku »Die Möllner Briefe« von Martina Priessner erzählt eine geradezu unfassbare Geschichte – sowohl von Solidarität als auch von Ignoranz. Am 23. November 1992 verübten zwei Rechtsextremisten Brandanschläge auf zwei mehrheitlich von türkischstämmigen Familien bewohnten Häusern. Bahide Arslan und ihre Enkelinnen Yeliz Arslan und Ayşe Yilmaz kamen dabei ums Leben.
Jahrzehnte später findet eine Studierende in Möllns Stadtarchiv Briefe von Bürger:innen aus dem ganzen Land, die solidarisch, tröstend und emphatisch an die Betroffenen gerichtet waren. Die haben diese Briefe aber nie bekommen, die Stadt hat sie teilweise sogar eigenmächtig beantwortet und dann dem Archiv übergeben. Nun holen sich die Angehörigen die Briefe zurück und lassen sie von DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland archivieren.

Der damals 7-jährige İbrahim Arslan verlor bei dem Anschlag auf sein Wohnhaus in der Mühlenstraße auf tragische Weise seine Schwester, seine Cousine und seine Großmutter. Der Film begleitet ihn und seine Familienmitglieder auf ihrer schmerzhaften Reise in die traumatische Vergangenheit. Er führt ihre Traumatisierung vor Augen, die sie bis heute gesundheitlich beeinträchtigt, und zeichnet ihren Weg aus dem Dunkel der Ereignisse heraus nach. Dabei spielen auch diese Briefe eine wichtige Rolle, von deren Verfasser:innen İbrahim einige besucht.
Was »Die Möllner Briefe« mit »Das Deutsche Volk« verbindet, ist die Unfähigkeit der politisch und administrativ Verantwortlichen, einen emphatischen Umgang mit den Ereignissen zu finden. Statt den Familien schnellstmöglich jede mögliche Unterstützung zukommen zu lassen, werden Dinge verschleppt und nüchtern abgearbeitet.
Dass die Familien von Mölln erst von einem Heim ins nächste und schließlich zurück in ihre alten Wohnungen ziehen mussten, macht auch 30 Jahre später sprachlos. Und dass sie von Sicherheitsbehörden und Polizeibeamt:innen fortgesetztrassistisch behandelt wurden, ist ein Skandal. İbrahim Arslan berichtet im Film, wie ihm und seinen Freunden in den Jahren nach dem Anschlag der Zugang zum Tag der offenen Tür bei der Polizei mit Worten wie »Ihr kommt hier nicht rein, ihr werdet die Zelle sowieso irgendwann von innen sehen« versagt wurde.
Allein um einen Eindruck für den Alltagsrassismus in Behörden, auf Polizeirevieren und auf offener Straße sowie seinen Folgen zu bekommen, sollte man einen, nein besser beide Filme sehen. Vor allem politisch Verantwortliche, Amtsträger:innen und Mitarbeiter:innen in den Verwaltungen sollten diese Filme sehen, um etwas über die Folgen der gefühllosen Paragrafenreiterei, die sich meist hinter der Formel »von Amts wegen« verbirgt, zu begreifen.
Diese Verhalten, zu dem sich nicht selten noch der individuelle Rassismus von Ermittelnden und Sachbearbeiter:innen gesellt, ist auch einer der Gründe, warum nach den Ereignissen in Hanau relativ schnell die Kampagne #saytheirnames von Hinterbliebenen und Freunden ins Leben gerufen wurde. Denn kaum waren die Gräber geschlossen, forderten erste Politiker:innen den Rückkehr zu einer Normalität, die es für die Betroffenen nie mehr geben wird.
Beide Dokumentation machen kein Geheimnis daraus, dass sie Position für die Opfer und ihre Familien und Freunde beziehen. Wenn staatliche Institutionen nur an Beschwichtigung und nicht an kritischer Aufarbeitung interessiert sind, braucht es jemand, der jenen, denen das politische Gewicht fehlt, zur Seite steht und ihre Stimmen stärkt.

In Hanau sind das Marcin Wierzchowski und sein Team. Jahrelang hat der in Polen geborene Filmemacher die Betroffenen begleitet, ihre Trauer und ihren Schmerz, aber auch ihre gemeinsame Verarbeitung der Ereignisse, ihr Engagement und ihr Bemühen um ein gemeinsames Erinnern in Hanau festgehalten. Eine zentrale Rolle spielt dabei auch die Debatte um ein Denkmal für die Kinder von Hanau, die am 19. Februar 2020 ermordet worden sind: Said Nesar Hashemi, Hamza Kenan Kurtovic, Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Fatih Saracoglu, Gökhan Gültekin, Vili Viorel Paun, Mercedes Kierpacz und Kaloyan Velkov.
Seit 261 Wochen, 1828 Tagen, 43.872 Stunden leben ihre Freunde und Familien mit der Lücke, die sie hinterlassen haben. Ihnen allen ist es ein Anliegen, diese Lücke im Herzen Hanaus sichtbar zu machen. Die anfängliche Unterstützung, die Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky den Angehörigen versicherte, ist im Laufe der Debatten einer Skepsis gewichen, ob dieser prominente Platz am Grimm-Denkmal der richtige Ort für ein kollektives Gedenken ist. Man hat sich schließlich für einen anderen Standort entschieden, die neun Opfer des rechtsextremistischen Terrors sind zwar wie die berühmten Märchenonkel Kinder Hanaus, aber dann doch nicht ganz so.
Die Hinterbliebenen wollten diesen Ort oder keinen. Einmal mehr hat man nicht auf sie gehört. Ihr Gefühl, dazuzugehören, werden all die Lippenbekenntnisse nicht stärken. »Es wird nur schlimmer, von Jahr zu Jahr«, sagt einer der Hinterbliebenen von Mölln. Damit das in Hanau nicht auch passiert, muss sich dringend etwas ändern. Diese Filme zeigen auf schmerzhafte und beschämende Weise, wie wir alle daran teilhaben und aufhören müssen, wegzuschauen, wenn es um die Aufarbeitung rassistischer Taten geht.