Film

Generationenkonflikte auf der Berlinale

Denise Weinberg in »The Blue Trail« von Gabriel Mascaro | © Guillermo Garza / Desvia

In Berlin ist das Rennen um den Goldenen und die Silbernen Bären eröffnet. In den ersten Tagen der 75. Filmfestspiele standen Generationenkonflikte sowie die Frage nach den Verhältnissen und wie sie eigentlich sind im Mittelpunkt vieler Filme.

»Eure Ignoranz, unser Totentanz« steht in großen Lettern auf den Körpern, die an einer Berliner Autobahnbrücke hängen und den Verkehr zum Stillstand bringen. Frieda (Elke Biesendorfer) und ihre Freunde haben sich abgeseilt, um den drohenden Klimakollaps vor Augen zu führen – die Ergebnisse solcher Proteste kennen wir alle. Ihr Bruder Jon (Julius Gause) flieht derweil in virtuelle Welten, um dort in die Champions League wenigstens virtuelle Erfolge zu feiern.

Es ist die Generation von Frieda und Jon, die an der Wirklichkeit verzweifelt, während ihre Eltern an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen. Ihr Vater Tim (Lars Eidinger) erfindet Hochglanz-Kampagnen, die an die kollektive Verantwortung für die Welt appellieren, während ihre Mutter Milena (Nicolette Krebitz) seit Jahren zwischen Berlin und Nairobi pendelt, um im globalen Süden ihr Helfersyndrom rauszulassen. Ihr Engagement macht nichts besser, sondern beruhigt nur das Gewissen. Die Engels sind eine Familie, an der die Welt zugrunde ginge, wenn alle so wären, nur bilden sie sich etwas anderes ein. Dazu kommt Nachzügler Dio (Elyas Eldridge), der zwischen seinem kenianischen Vater und den Engels’ wöchentlich wechselt.

Elyas Eldridge, Nicolette Krebitz, Elke Biesendorfer, Julius Gause, Lars Eidinger in »Das Licht« von Tom Tykwer | © Frederic Batier / X Verleih AG
Elyas Eldridge, Nicolette Krebitz, Elke Biesendorfer, Julius Gause, Lars Eidinger in »Das Licht« von Tom Tykwer | © Frederic Batier / X Verleih AG

Der Umstand, dass es in dem fast dreistündigen Film von Tom Tykwer, mit dem die Berlinale eröffnete, fast ununterbrochen regnet, passt zur emotionalen Weltlage. Die Krise spiegelt sich aber nicht nur im Wetter oder den globalen Missständen, sondern auch in den zerrütteten privaten Verhältnissen der Figuren untereinander. Als den Engels ihr Leben um die Ohren zu fliegen droht, tritt Farrah (Tala Al-Deen) in ihr Leben, die vor dem syrischen Bürgerkrieg geflohen ist. Welche Verluste sie dabei erlitten hat, wird erst im Laufe des Films enthüllt.

Als Haushälterin wird sie zwar Ordnung in die chaotische Wohnung dieser »typisch dysfunktionalen deutschen Familie« bringen, das Zwischenmenschliche wird sie zugleich ordentlich durcheinanderbringen. Das liegt auch an einer geheimnisvollen Hochfrequenzlampe, mit der sie sich nicht nur selbst auf Traum(a)reisen begibt, sondern auch die Engels.

Tala Al-Deen in »Das Licht« von Tom Tykwer | © Frederic Batier / X Verleih AG
Tala Al-Deen in »Das Licht« von Tom Tykwer | © Frederic Batier / X Verleih AG

Mit einem mitreißenden Ensemble und dem Mittel der cineastischen Überwältigung führt Tom Tykwer die Beschissenheit der Dinge vor Augen. Mit magisch-realistischen Elementen, gezeichneten und virtuellen Bildern, mit Archivaufnahmen und Nachrichten, Performancekunst und Special Effects erzählt der Macher von »Lola rennt«, »Sense 8« und »Babylon Berlin« von einer Welt, die aus den Angeln geraten ist. »Das Licht« ist wagemutig bis spektakulär, witzig, überraschend und neugierig. Einfach großes Kino, auch wenn nicht alles gelungen ist.

»Is this the real life? Is this just fantasy?«, wird Bohemian Rhapsody im Film gleich mehrfach zitiert. Tom Tykwers wilder Ritt ist zweifellos beides, echtes Leben und fantastische Spinnerei – und bot so einen perfekten Start in die Jubiläums-Berlinale.


Während Tykwer so etwas Produktives aus dem bestehenden Generationenkonflikt geholt hat, sind im Wettbewerb gleich mehrere Filmemacher:innen daran gescheitert. Sowohl die britische Filmemacherin Rebecca Lenkiewicz als auch die Französin Léonor Serraille und der Mexikaner Michel Franco werden auf verschiedene Weise ihren Stoffen gerecht. In ihren Filmen kommen die Konflikte zwischen ihren Hauptfiguren und deren Eltern zum Tragen, wirklich produktiv wird dabei nichts. Vielmehr tritt Lähmung ein, bei den einen mehr als bei den anderen.

Emma Mackey, Vicky Krieps in »Hot Milk« von Rebecca Lenkiewicz | © Nikos Nikolopoulos / MUBI
Emma Mackey, Vicky Krieps in »Hot Milk« von Rebecca Lenkiewicz | © Nikos Nikolopoulos / MUBI

Die britische Filmemacherin Rebecca Lenkiewicz steckt unter anderem hinter den Drehbüchern zu »Disobedience« von Sebastián Lelio oder »She Said« von Maria Schrader. In ihrem Regiedebüt »Hot Milk« erzählt sie die schräge Geschichte von Sofia, die ihre Mutter Rose in den spanischen Küstenort Almeria begleitet. Rose begibt sich dort in die Hände des geheimnisvollen Wunderheilers Gomez, um ihre mysteriöse Krankheit behandeln zu lassen. Wenn sich Sofie nicht um ihre Mutter kümmert, schweift sie durch den Ort, wo sie der deutschen Touristin Ingrid begegnet, deren Anziehungskraft sie bald erliegt.

Lenkiewicz’ Debüt ist beeindruckend besetzt, neben »Sex Education«-Star Emma Mackey, die Sofia verkörpert, spielen Fiona Shaw, vielen bekannt aus den »Harry Potter«-Verfilmungen, und die deutsche Schauspielerin Vicky Krieps, bekannt aus »Corsage« oder »Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste« (an Krieps als Bachmann erinnert ihre Figur auch visuell permanent) mit. Der Konflikt zwischen Sofia und ihrer Mutter liegt in der flirrenden Sommerluft, bleibt aber lange Zeit rätselhaft und in Andeutungen hängen. Man hört irgendwann auf, die Löcher zu zählen, die Sofia genervt und verloren in die Luft starrt. Erst ganz am Ende brechen die Traumata, die die drei Frauen gefangen halten, auf. Aber der Moment, in dem sich »Hot Milk« produktiv wenden könnte, fällt der letzte Vorhang.


Nicht ganz so verdruckst ist Léonor Serrailles Porträtfilm »Ari«. Der titelgebende Nachwuchslehrer bricht in den ersten Sequenzen vor seiner Klasse zusammen, die folgenden anderthalb Stunden sind seiner Genesung gewidmet. Sein Vater schmeißt den Jungen Mann raus, er hat den Eindruck, dass sich sein Sohn vor der Arbeit drückt. Der zieht fortan von Schulfreund zu Schulfreund, um dort tageweise unterzukommen. Manch Freundschaft hält nicht, was sie einst versprach, bei anderen ist es, als würde er nach Hause kommen.

Andranic Manet in »Ari« von Léonor Serraille | © Geko Films - Blue Monday Productions - ARTE France - PICTANOVO - Wrong Men - 2025
Andranic Manet in »Ari« von Léonor Serraille | © Geko Films – Blue Monday Productions – ARTE France – PICTANOVO – Wrong Men – 2025

Beständig befragt sich Ari, was er vom Leben will und wie es weitergehen soll. Dabei kommen auch schmerzhafte Erinnerungen an seine letzte Beziehung hoch und die Frage, wie er überhaupt in eine solche Krise rutschen konnte, drängt sich in den Vordergrund. Es stellt sich heraus, dass der Endzwanziger nicht an den brutalen Verhältnissen der Gegenwart zerbrochen ist (wenngleich er an ihnen leidet), sondern ein ganz anderes Loch in seinem Bauch mit sich herumschleppt. Der Weg aus der Depression, den Serailles in ihrem Film anbietet, ist dann aber doch zu simpel, um daraus etwas Grundsätzliches abzuleiten.


Auch beim Drama »Dreams« des mexikanischen Regisseurs Michel Franco spielt gewissermaßen das Verhältnis einer Tochter zu ihrem Vater eine Rolle. Jennifers (Jessica Chastain) Familie gehört zum alten Politik- und Geldadel in den USA, ihre Affäre mit dem mexikanischen Tänzer Fernando (Isaac Hernández) passt da schlecht ins Bild. Als der junge Mann alles riskiert, um zu seiner Geliebten in die USA zu gelangen, stellt er schnell fest, dass das Bild, das er sich von dieser Beziehung gemacht hat, keine Chance auf Verwirklichung hat. Aber Jennifer will nicht von dem jungen Mann lassen, um ihn für sich zu behalten, scheut sie nicht davor zurück, ihn zu verletzen. Als Fernando begreift, dass er nicht mehr als ein Spielball für Jennifer ist, eskaliert die Situation.

Jessica Chastain in »Dreams« von Michel Franco | Wettbewerb © Teorema
Jessica Chastain in »Dreams« von Michel Franco | Wettbewerb © Teorema

Franco inszeniert diese Geschichte vom Black Swan aus den Elendsquartieren von Mexiko City und seiner reichen Erbin leider absolut vorhersehbar, nichts an diesem Film überrascht oder verstört. Ja, am Horizont schimmert die Debatte um die irreguläre Einwanderung in die USA auf, und ja, die Rollen von arm und reich, gut und böse, naiv und berechnend erfüllen jedes Vorurteil, das man im Kopf haben kann. Der Film jagt ein Klischee nach dem anderen. Dass er damit der amerikanischen Gegenwart unter Trump so nah wie nur irgendwie kommt, ist noch das Beste, was man dazu sagen kann.


Mit Gewinn führt der Brasilianer Gabriel Mascaro den Generationenkonflikt vor Augen, was auch daran liegt, dass er ihn aus einer vollkommen anderen Perspektive in den Blick nimmt. In »The Blue Trail« erzählt er die Geschichte der 77-jährige Tereza, die wie alle Alten in ihrer Gesellschaft plötzlich aussortiert wird. »Die Zukunft gehört allen«, tönt die staatliche Propaganda an jedem morgen, die Alten sind damit aber nicht gemeint. Denn in diesem neoliberalen Brasilien, das dem des rechtsextremen Jair Messias Bolsonaro gleicht, werden die 75-Jährigen aussortiert, weil sie nicht mehr nützlich sind. Sie werden entmündigt und vorsorglich gepampert in Pflegekolonien abgeschoben. Wer sich nicht freiwillig zur Umsiedelung meldet, wird von »Bürgerpolizisten« verpfiffen und wie ein gefangener Straßenhund mit dem »Altenabschlepper« deportiert.

Denise Weinberg in »The Blue Trail« von Gabriel Mascaro | © Guillermo Garza / Desvia
Denise Weinberg in »The Blue Trail« von Gabriel Mascaro | © Guillermo Garza / Desvia

Tereza hat auf die faschistoide Zwangspensionierung keine Lust. Sie träumt davon, mit dem Flugzeug zu reisen und macht sich auf den Weg. Weil sie aber für jede offizielle Buchung die Erlaubnis ihrer Tochter bräuchte, muss sie heimlich einen Weg in die Freiheit finden. Mit einem Transportkahn schippert sie den Amazonas hinunter, um sich an einem anderen Ort den Traum vom Fliegen zu erfüllen. Als auch das nicht klappt, begegnet ihr die rüstige Roberta, die sich als fahrende Predigerin mit eigenem Boot ihre Freiheit bewahrt. Tereza schließt sich Roberta an und genießt mit ihr das Leben. Und als man es schon nicht mehr denkt, setzt sie alles auf eine Karte, um sich und ihrer Partnerin in Crime den Traum der Freiheit zu erfüllen.

Denise Weinberg und Miriam Socarrás verkörpern diese beiden lebenshungrigen Frauen zum Niederknien. Während die Schlagersänger im Radio von Liebe und Frieden träumen, nehmen sich die beiden Frauen die Freiheit, genau das zu leben. Ihr solidarisches Miteinander ist eine trotzig-emanzipierte Kampfansage in die vom Neoliberalismus ausgeplünderte Gesellschaft, in der sie Leben. Der postkoloniale brasilianische Traum einer Gesellschaft für alle modert in den Ruinen eines vergessenen Freizeitparks vor sich hin.

Denise Weinberg und Miriam Socarrás in »The Blue Trail« von Gabriel Mascaro | © Guillermo Garza / Desvia
Denise Weinberg und Miriam Socarrás in »The Blue Trail« von Gabriel Mascaro | © Guillermo Garza / Desvia

Im Umgang mit den Schwächsten einer Gesellschaft zeigt sich, welche Rechte für alle gelten. Dies führt Gabriel Mascaro in seinem ebenso politischen wie herzerwärmenden Film eindrucksvoll vor Augen. »The Blue Trail« erzählt mit eindrucksvollen Bildern von einer Gesellschaft am Kipppunkt und zwei Frauen, die sich die Lust am und auf das Leben nicht nehmen lassen wollen. Es ist ein Film, der vor Augen führt, was uns an der Zukunft besorgen muss, und zugleich Hoffnung macht, dass das Leben stärker ist als unsere Angst.


Die Verhältnisse in den Blick nimmt auch Huo Meng in seiner Langzeitstudie »Living the Land«, einem knapp dreistündigen Drama, das einige eindrucksvolle Bilder, aber auch ein enervierendes Tschingderassabumm auf der Tonebene bot. Erzählt wird die Geschichte des zehnjährigen Chuang, der bei seinen Großeltern in der chinesischen Provinz lebt, während seine Eltern in der Millionenstadt Shengzen die Existenz der Familie absichern.

Wang Shang, Zhang Chuwen in »Living the Land« von Huo Meng | © Floating Light (Foshan) Film and Culture
Wang Shang, Zhang Chuwen in »Living the Land« von Huo Meng | © Floating Light (Foshan) Film and Culture

Der Film führt das einfache und archaische Leben auf dem Land vor Augen, das von Traditionen und kollektiven Erinnerungen geprägt ist. Es passiert nicht viel in diesem in langsamen Bildern erzählten Film, der von den kleinen Dramen erzählt, in denen sich die großen andeuten. Das wird schon in der Eingangsszene deutlich, in der am Rande eines Sees die Leiche eines Mannes exhumiert wird. Wie aus den Gesprächen hervorgeht, ist er während der chinesischen Kulturrevolution hingerichtet worden, nun sollen seine Knochen zu seiner gerade verstorbenen Frau gebettet werden.

Von diesem Moment aus folgt der Film dem Leben auf dem Land. Alte sterben, Kinder werden geboren, die Felder werden bestellt, die Ernte wird eingeholt. Leben kann davon kaum noch jemand, weshalb es immer mehr in die Stadt zieht. So taucht man zwar in eine Lebensweise ein, die im Einklang mit der Natur, aber nicht mit dem Menschen in der Moderne steht. So wirkt der Film trotz seiner Gegenwartsbezüge seltsam aus der Zeit gefallen und kommt nicht an den Zauber heran, den Mengs Landsmann Li Ruijun anno 2022 mit seinem Drama »Return to Dusk« zu verbreiten vermochte.


Timothée Chalamet in »A Complete Unknown« von James Mangold | © Macall Polay / 2024 Searchlight Pictures All Rights Reserved
Timothée Chalamet in »A Complete Unknown« von James Mangold | © Macall Polay / 2024 Searchlight Pictures All Rights Reserved

Ziemlich gegenwärtig ließ sich auch James Mangolds Dylan-Biopic »A Complete Unknown« interpretieren. Der New Yorker erzählt darin mit seinem hochkarätigen Ensemble (Timothée Chalamet, Edward Norton, Elle Fanning, Monica Barbaro, Boyd Holbrook) von den Anfängen von Bob Dylan, seinem Einfluss auf die Folk-Bewegung und die legendären Auftritte beim Newport Folk Festival in den sechziger Jahren. Neben seinen persönlichen Beziehungen zu Figuren wie Woody Guthrie, Johnny Cash, Joan Baez, Peter Seeger oder Albert Grossmann geht es vor allem auch um die politischen Verhältnisse in einem Land, in dem Kommunisten gejagt und die freie Meinung unterbunden wurde.

Woody Guthries »This Land Is Your Land« ertönt ebenso wie Dylans Civil-Rights-Hymne »The Times They Are A-Changin’« oder sein Superhit »Like A Rolling Stone«, in denen sich der lange Kampf für Bürgerrechte und Gleichberechtigung, Emanzipation und Pazifismus, gegen die konservative Presse und die Geheimdienste spiegelte. Dylans Songs entfalten eine Kraft, wie Maik Brüggemeyer im jüngsten Wohnzimmer-Newsletter des Rolling Stone treffend schreibt, die groß genug war, »um die Gesellschaft acht Monate nach der Ermordung von John F. Kennedy aufzurütteln und zu einen, um gemeinsam für ein besseres Land und eine bessere Welt zu kämpfen.«

In Gabriel Mascaros »The Blue Trail« fliegt am Ende noch einmal ein Werbeflugzeug über das Land, auf dem Banner wird einmal mehr »Die Zukunft gehört allen« behauptet. Sein Film raubt dem Staat diesen Slogan und überträgt ihn als Selbstbehauptung an seine Charaktere. Ein Aneignung, der Schule machen sollte. Denn die Zukunft gehört uns allen.

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