Film

»Morgen treffen wir uns im Schutzraum«

»Timestamp« von Kateryna Gornostai | © Oleksandr Roshchyn

Die einzige Dokumentation im Wettbewerb zeigt den Schulalltag in der Ukraine unter Kriegsbedingungen. »Timestamp« von Kateryna Gornostai ist der erste Film einer ukrainischen Filmemacherin, der um die Berlinale-Bären konkurriert. Kurz vor der Premiere hat Gornostai in Berlin ihr erstes Kind geboren.

Mitten in der Einschulungsfeier gehen die Sirenen los. Luftalarm in Bucha nördlich von Kyiv, es bleiben zwei Minuten, um Schüler:innen und Eltern vom Schulhof in den Schutzbunkern in Sicherheit zu bringen. Man erwartet Hektik, vielleicht sogar Panik, aber der russische Angriffskrieg hat das Land schon seit über einem Jahr im Griff. Ruhig und geordnet schlüpfen hunderte Menschen, angeleitet von entschlossenen Lehrkräften, durch die enge Tür, die in den Luftschutzkeller unter der Schule führt. Dort warten die sechs- und siebenjährigen Erstklässler, die sich schick gemacht haben für ihren großen Tag, relativ gelassen auf das Ende des Alarms.

Zwischen Mai 2023 und Juni 2024 ist die ukrainische Filmemacherin Kateryna Gornostai mit ihrer Kamera durch die Ukraine gefahren, um den Schulalltag unter Kriegsbedingungen festzuhalten. Sie war in Städten wie Bucha, Zarichne, Kharkiv, Mykhailo, Kyiv, Romny, Bilenke oder Bakhmut, die zum Teil nur wenige Kilometer von der Frontlinie entfernt sind.

»Timestamp« ist als Momentaufnahme kein Dokument der Dunkelheit, wie andere Dokumentationen aus der Ukraine, die in den vergangenen Jahren gezeigt wurden, sondern ein Film des Lichts, der den Kindern der Ukraine und damit der Zukunft des Landes gewidmet ist. Man sieht in diesem Film erst sehr spät dem Tod ins Auge, die strahlenden Zahnlücken und neugierigen Augen der Kinder überwiegen und sind ein Versprechen auf das Leben. Motiviert beugen sich die Kinder meist über ihre Hefte, zukunftsgewiss stecken sie die Köpfe zusammen und trotzig singen sie Lieder, wenn über ihnen die Sirenen heulen.

»Timestamp« von Kateryna Gornostai | © Oleksandr Roshchyn
»Timestamp« von Kateryna Gornostai | © Oleksandr Roshchyn

Gornostai bildet ab, was so alles in einem Schuljahr passieren kann, von der Einschulung über das Prüfungen bis hin zum Absolventenball. Bedrückend, wenn der nur in als Zoom-Meeting stattfinden kann. Und ja, von außen betrachtet fragt man sich schon, wie man Schüler:innen motiviert, das Alphabet oder die Lösung binomischer Formeln zu lernen, während um sie herum Bomben fallen. Aber es funktioniert, und mehr als das. Gornostai macht die aufrechterhaltenen Vielfalt des Unterrichts sichtbar und zeigt, wie elementar die Verbindung zwischen Lehrkräften und den Schüler:innen ist – gerade und vor allem in dieser Ausnahmesituation.

In zwei emblematischen Szenen setzt Gornostai die besondere Herausforderung für die Lehrkräfte ins Bild. Im ersten Teil des Films begleitet die Kamera eine Lehrerin, die ihre alte Wohnung in einem zerbombten Haus aufsucht, im zweiten Teil wird man Zeuge der Trauerfeier für eine Direktorin, die beim Bombardement ihrer Schule ums Leben kam. Man hätte sich gewünscht, mehr darüber zu erfahren, was es mit Lehrer:innen macht, inmitten eines laufenden Krieges keine Schwäche zeigen zu dürfen und immer Optimismus versprühen zu müssen. Das ist eine Frage, die man mit nach Hause nimmt.

»Timestamp« von Kateryna Gornostai | © Oleksandr Roshchyn
»Timestamp« von Kateryna Gornostai | © Oleksandr Roshchyn

Stattdessen erfährt man, wie der Krieg den Unterricht verändert. In der Grundschule wird das Bewusstsein für die ukrainische Kultur mit Liedern, Märchen und Geschichten gestärkt, in den weiterführenden und beruflichen Schulen die Wehrtüchtigkeit der nachkommenden Generation. Militärs vermitteln das Anlegen eines Druckverbands, der Zivilschutz das Packen eines Notfallkoffers. Im Physik- und Informatikunterricht geht es viel um Schutzräume und Drohnen, die Sportstunde wird schon mal zum digitalen Schusstraining genutzt. Die Schweigeminute für die gefallen Helden der Ukraine ist festes Element in den schulischen Abläufen.

Diese kollektive Trauer (be-)trifft auch die Kinder. Kameramann Oleksandr Roshchyn entdeckt im alltäglichen Tohuwabohu immer wieder Gesichter, denen das Trauma des Krieges eingeschrieben scheint. In einer Szene spät im Film entdeckt ein Mädchen in der Heldengalerie der Schule das Foto ihres gefallenen Vaters. Die Verzweiflung, die das Kind in dem Moment packt, geht einem noch lange nach.

»Timestamp« von Kateryna Gornostai | © Oleksandr Roshchyn
»Timestamp« von Kateryna Gornostai | © Oleksandr Roshchyn

Im Osten der Ukraine findet der Unterricht zum Teil seit Jahren ausschließlich online statt. Über eine Million ukrainischer Schüler:innen werden immer noch vorwiegend digital beschult; entweder weil die Schulen zerstört sind oder weil man es im Angriffsfall nicht schnell genug in die Schutzräume schaffen würde. »Morgen treffen wir uns im Schutzraum« ist inzwischen alles andere als ein ungewöhnlicher Abschiedsgruß in ukrainischen Schulen.

»Wir sind stark und haben bewiesen, dass wir unbesiegbar sind«, singen ukrainische Schüler:innen entschlossen bei Schulfeiern, für die die Lehrkräfte weiterhin alles tun, um sie zu ermöglichen. Es sei ihre Aufgabe, die Schönheit zu bewahren, sagt ein Kunstlehrer in seinem Unterricht. Die Kindheit ist ein einmaliges Geschenk, die Pädagog:innen, die man in diesem Film sieht, geben alles, um sie zu schützen. Sie wollen den Kindern nicht nur einen Safe Space bieten, sondern einen Raum zur Entfaltung. Ihre Schützlinge danken es ihnen auf vielfache Weise: mit einem sanften Händedruck, mit strahlendem Lachen oder mit wehmütigen Tränen, wenn ihre Schulzeit endet.

Der Film, der von einem unter die Haut gehenden Score begleitet wird, endet mit einer Abschlussfeier, bei der die Mädchen Ballkleider und Frisuren mit blauen und gelben Schleifen im Haar tragen, während die Jungs in Hemd und Jacket ihre Zeugnisse entgegennehmen. Am Rand stehen Eltern und Großeltern mit tränenden Augen. Ihre Zukunft mag ungewiss sein, aber jetzt zählt der Augenblick, in dem sie aus der Schule hinaus ins Leben tanzen.