Literatur, Roman

Karmageddon in Colombo

In Shehan Karunatilakas Geisterroman »Die sieben Monde des Maali Almeida« kämpft ein spielsüchtiger Kriegsfotograf um sein Nachleben. Dabei nutzt der in Sri Lanka lebende Autor alle Mittel der Literatur, um seine Leser:innen blendend zu unterhalten, während er die grausame Wirklichkeit des Krieges in all ihren Dimensionen einfängt.

Beim Russisch Roulette hängt das Leben an einer Kugel in der Revolvertrommel. Beim Sri-Lanka-Roulette ist diese existenzielle Frage schon entschieden. Diese Spielart ist jenen vorbehalten, die im Reich zwischen Leben und Tod wandeln. Im Limbo entscheidet der Dreh am Glücksrad vermeintlich darüber, ob man es ins ewige Licht schafft oder in irgendeiner Reinkarnation wieder zurück auf Erden muss. In welchem Verhältnis da Glück und Pech stehen, was überhaupt Glück und was Pech ist, bleibt in Shehan Karunatilakas Roman offen.

Mit diesem Glücksspiel bietet seine Geschichte aus dem Bürgerkrieg in Sri Lanka aber immerhin eine Alternative zum Karmageddon, bei dem immer alle das bekommen, was sie verdient haben. Die Hoffnung auf das Karma, flucht einer der Untoten in Karunatilakas großartigem Geisterroman, sei ohnehin nur »kalkulierter Dünnschiss, um die Armen unten zu halten«.

Shehan Karunatilaka, winner of the Booker Prize 2022, at the winner ceremony at the Roundhouse, London. Credit – Booker Prize Foundation

Das Leben mit und nach dem Tod steht in »Die sieben Monde des Maali Almeida« im Mittelpunkt. Der Roman wurde im vergangenen Jahr mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet und machte den 1975 in Galle geborenen Autor über Nacht zu einem der bedeutendsten Autoren seines Landes. Lange galt Karunatilaka als Geheimtipp, schon sein Debütroman »Chinaman«, der von einem verschollenen Kricketspieler, einem trinkenden Journalisten und den sozialen Verwerfungen in Sri Lanka handelt, erhielt 2012 den Commonwealth Book Prize. Während er Rocksongs, Reiseerzählungen, Dreh- und Kinderbücher schrieb, arbeitete er an einem Manuskript, dass bereits 2020 in seiner Heimat unter dem Titel »Chats with the Dead« erschien. Zwei Jahre später sorgte eine neu angeordnete und etwas erweiterte Fassung dieses Romans über einen ungläubigen Kriegsfotografen unter dem neuen Titel »The Seven Moons of Maali Almeida« für Furore.

Die Geschichte von Maali Almeida führt mitten hinein in das mörderische Chaos des Bürgerkriegs von Sri Lanka. Seit Jahren schon toben politische und ethnische Konflikte, als der schwule Kriegsfotograf und ungläubige Zocker Maali Almeida im Sommer 1990 ermordet wird. Von der Tat erfährt man zunächst nichts, der Roman setzt damit ein, wie Almeida »verkatert und gedankenleer« in einem »endlosen Wartezimmer« erwacht. Kurz glaubt er, zu viele Glückspillen von seiner besten Freundin Jaki eingeworfen zu haben. Doch schnell wird klar, dass diese überbevölkerte »Steuerbehörde«, in der alle ihre Rückzahlung beantragen wollen, weniger Miltons verlorenem Paradies, als vielmehr Dantes Vorhölle gleicht.

Angesichts des allgegenwärtigen Todes im Sri Lanka der achtziger Jahre ist es wenig verwunderlich, dass sich in dieser grotesken Unterwelt die Massen drängeln. In ihr begegnet der von seinem Tod wenig überraschte Fotograf zahlreichen Opfern des Krieges: einer massakrierten tamilischen Aktivistin, einer getöteten Anwältin, einem ermordeten Polizisten, einer verbrannten Mutter und zahlreichen Heranwachsenden, die Gift geschluckt haben, um dem Militärdienst aus dem Weg zu gehen. Sie alle irren durch den Bardo und hoffen, beim Sri-Lanka-Roulette von dem Grauen erlöst zu werden, das sie gesehen und erlitten haben.

Shehan Karunatilaka: Die sieben Monde des Maali Almeida. Übersetzt von Hannes Meyer. Rowohlt Verlag 2023. 544 Seiten. 30 Euro. Hier bestellen.

Der Tod ist ein willkürlicher Schnitter, und so weiß man zunächst nicht, ob Almeida seine Fotos oder nicht doch eher seine Spielsucht, seine Homosexualität oder sein Atheismus zum Verhängnis geworden sind. Wie alle hat er nun sieben Tage und Nächte Zeit, bevor er selbst am Roulettetisch das Glücksrad drehen muss. Sieben Monde, um die Menschen zu erreichen, denen er am meisten vertraut, damit die einige seiner Fotos an die Öffentlichkeit bringen.

Das hat natürlich etwas von Shakespeare, die Frage nach »Sein oder nicht sein« stellt sich selbst im Totenreich. Und Almeida will sein, trotzt ganz im Sinne Hamlets den Attacken des Schicksals und greift zu den Waffen, die ihm zur Verfügung stehen: seinen Fotografien. Sie sind der heilige Gral in dieser Geschichte, den viele jagen. Denn Maali Almeida hat nicht nur Aufnahmen für verschiedene Tageszeitungen gemacht, sondern war auch im Auftrag des singhalesischen Militärs, einer zweifelhaften tamilischen NGO und die britische Botschaft aktiv.

Seine Fotografien zeigen Menschen, die um ihr Leben flehen, die bei lebendigem Leib verbrannt oder mit ihren Gedärmen an Bäume gefesselt wurden. Und jene, die ihnen das antun. Wer in diesem Roman nach positiven Figuren Ausschau hält, muss ziemlich lange suchen und nicht zu genau hinschauen. Karunatilakas Geschichte führt in das dunkle Zentrum eines jeden Krieges, wo Militär, Geheimdienst und Rebellen, Politiker, Journalisten und Warlords ihre eigenen Ziele verfolgen und sich jeder auf andere Weise schuldig macht. Sie führen in Hinterzimmer und Folterkeller, wo Glücksritter und Helfershelfer, Unglücksraben und brutale Bestien verhängnisvoll aufeinandertreffen. Entsprechend hoch ist das Interesse verschiedener Akteure, in ihren Besitz zu gelangen. Und niedrig die Schwelle, dafür über Leichen zu gehen.

Die sieben Monde werden für den Fotografen zum Wettlauf gegen die Zeit, denn er will mit seinen Bildern die Drahtzieher und Profiteure dieses Krieges entlarven. Und während seine Freunde im Diesseits ins Visier dieser Dunkelmänner geraten, versucht Almeida aus dem Jenseits, sie zu seinen versteckten Aufnahmen zu führen. Dabei bedient er sich seiner lebenslangen Leidenschaften für das Glücksspiel und die Musik von Freddy Mercury, die eines von vielen Motiven ist, mit denen Karunatilaka seinen Roman in die queere Literatur einschreibt.

Die grausame Wirklichkeit des Bürgerkriegs in Sri Lanka wird im Text sprachlich aufgehoben, um sie mit schwarzem Humor und Sarkasmus in all ihren Dimensionen – politisch, historisch, kolonial und mythologisch – greifbarer zu machen. Dazu trägt auch die gleichermaßen distanzierende wie einnehmende Du-Perspektive bei, in der diese Geschichte erzählt wird. Dieses Du führt nicht nur konsequent vor Augen, dass das Ich des Erzählers bereits zu Beginn des Romans in Einzelteilen von zwei windigen Figuren entsorgt wurde. Es entspricht auch der Stimme in unserem Kopf, die zu uns selbst spricht. Also liest man diese Erzählung aus dem Mund eines Untoten, der dem eigenen Geist dabei zusieht und zuhört, die letzten Dinge zu ordnen. Diese Perspektive eröffnet die Möglichkeit, den Roman nebst Handlung in eine Wirklichkeit zu führen, die sich mehr als nur der irdischen Lesart verpflichtet sieht.

Die sieben Monde des Maali Almeida ist eine Geisterstory, erinnert an Romane wie Michail Bulgakows »Meister und Margarita«, George Saunders »Lincoln im Bardo« oder Alain Mabanckous aktuellen Roman »Das Geschäft der Toten«. Zugleich finden sich Parallelen zu magisch-realistischen Klassikern wie Salman Rushdies »Mitternachtskinder« oder Gabriel García Márquez »Hundert Jahre Einsamkeit«.

Die echte Welt wird hier nur noch durch den Nebel des Todes betrachtet, was in diesem Fall ein ziemlich cleverer Schachzug ist. Denn das Morden in Sri Lanka nahm jahrzehntelang kein Ende. »Die Nation ist in Ethnien aufgeteilt, die Ethnien in Lager, und die Lager gehen einander an die Gurgel«, fasst Karunatilakas allwissender Erzähler die politische Atmosphäre zusammen. »Die Regierungstruppen, die Separatisten im Osten, die Anarchisten im Süden und die Friedenstruppen im Norden sorgen alle für Leichen in Hülle und Fülle.«

In einem realistischen Roman wären diese Leichen Tatsachen, die stumm für sich sprechen müssen. In dieser Geschichte wandeln sie wie Zombies durch die Unterwelt und erzählen dem untoten Fotografen auf seiner siebentägigen Odyssee ihre Geschichten. So verhilft Karunatilaka den Toten von Tamil Eelam zur Sprache. Einfache Bauern, politische Aktivisten, ausländische Touristen, selbst magische Tiere berichten von ihrem Martyrium aus erster Hand. Sie schildern den Schmerz, mit dem sich brennendes Fleisch vom Knochen löst, Gift durch Gedärme frisst und Granatensplitter in den Körper bohren. Ihre Berichte sowie die sprechenden Fotografien von Maali Almeida verankern diesen ebenso fantastischen wie fantasievollen Roman in der brutalen Wirklichkeit dieser Zeit.

Karunatilaka vertraut seine Erzählung einem düsteren Sarkasmus an, zu dem nur jene fähig sind, die nichts mehr zu verlieren haben. Denn wer könnte treffender über die Sinnlosigkeit des Sterbens nachdenken als die, die es längst hinter sich haben. Die Geister und Dämonen in diesem Paralleluniversum lösen die herkömmliche Ordnung von Körper und Geist, Leben und Tod und Gut und Böse auf.

Hannes Meyer hat diesen brillanten Bericht aus dem surrealen Reich zwischen Leben und Tod mitreißend ins Deutsche übersetzt. Seine lebendige Übertragung lässt dieses prächtige Meisterwerk in aller Kraft dunkel leuchten. Karunatilaka führt die Gleichzeitigkeit von Kolonialismus, Rassismus und Korruption vor Augen und entlarvt mit den Mitteln der Literatur eindrucksvoll die grausame Wirklichkeit des Krieges. Eine Wirklichkeit, die es für nicht wenige Figuren in diesem Roman attraktiver macht, sich über eine Dachkante in die Hoffnung auf ein Paradies zu stürzen. Sri-Lanka-Roulette eben.