25 Jahre hat der türkische Karikaturist Ersin Karabulut die Politik aufs Korn genommen. Inzwischen lebt er in Paris, im europäischen Zentrum der Neunten Kunst. In seinem Comic »Das Tagebuch der Unruhe«, dem ersten von drei geplanten Bänden, erzählt er seine Lebensgeschichte und die seines Landes. Ich konnte mich im Oktober mit ihm über die Geschichte der türkischen Satire-Zeitschriften, seinen Werdegang und den richtigen Ton für schwierige Themen unterhalten.
Herr Karabulut, wir leben in beängstigenden Zeiten, an den Grenzen Europas toben Konflikte. Wie schwer ist es für Sie, in diesen Tagen ihren Sinn für Humor zu wahren?
Ich versuche erst gar nicht, in allem etwas Komisches zu finden. Ich will mit anderen Menschen kommunizieren, das war schon immer mein Anliegen. Ich sehe mich also nicht unbedingt als humoristischen Künstler. Ich schreibe manchmal sehr düstere Geschichten. Aber für Karikaturisten ist das gerade eine schwierige Zeit. Ich kenne das ja selbst, habe 15 Jahre lang als Chefredakteur ein Magazin geleitet. Nach den Ereignissen, von denen ich im ersten Band erzähle, habe ich 2007 mit Freunden das Magazin UYKUSUZ gegründet. UYKUSUZ bedeutet in etwa »Schlaflos«. Wir mussten auch jede Woche ein Cover machen, ganz egal, ob nach CHARLIE HEBDO oder während des Syrienkriegs. Das ist oft schwierig. Aber jetzt, wo ich unabhängiger bin, möchte ich einfach Dinge erzählen. Ich bin kein Karikaturist mehr, sondern ein Geschichtenerzähler.
Führt eine schwierige Weltlage automatisch zu düsteren Geschichten?
Ich weiß nicht. Ich habe mehr als zwanzig Jahre für türkische Satire-Magazine gearbeitet. Es gab Zeiten, in denen ich mich auf dunklere Pfade begeben habe und andere, in denen es sehr lustig war. Jetzt aber gehe ich einen anderen Weg. Ich muss nicht mehr wöchentlich Zeichnungen produzieren. Ich mache jetzt nur noch Comics, für die ich ungefähr zwei Jahre brauche, bis sie fertig sind. Ich muss mich nicht mehr täglich zu irgendwas äußern, stehe nicht unter permanentem Produktionsdruck, das ist ein viel angenehmeres Leben. Das Leben als Karikaturist ist beunruhigend, angespannt, man liest die ganze Zeit Nachrichten und rennt der Weltlage hinterher. Ich schaue natürlich immer noch Nachrichten, aber ich versuche mich einzuschränken. 2016 hatte ich eine schwere Depression, weil ich nur noch auf Twitter unterwegs war und mir all den Mist reingezogen habe. Ich saß damals mit zitternden Händen am Rechner. Natürlich spielten auch der politische Druck eine Rolle, der auf uns und das Magazin ausgeübt wurde. Ich erzähle davon im zweiten Teil meiner Comic-Trilogie, ich will daher nicht zu viel spoilern. Ich ging damals zum Arzt, der mir sagte, ich soll mal raus aus dem Hamsterrad, die Welt sehen und vor allem aufhören, ständig Nachrichten zu lesen. Seitdem versuche ich mich einzuschränken, aber ich bin zu neugierig. Es ist ein ständiger Kampf, sich von den News fernzuhalten.
Sie haben gesagt, dass Sie UYKUSUZ vor nicht allzu langer Zeit eingestellt haben. In Ihrem Comic erzählen sie von ihrer Kindheit und Jugend in den 80er und 90er Jahren, die eine gute Zeit für Satire- und Humorzeitschriften waren. Was hat sich seither geändert?
Zunächst einmal haben satirische Zeitschriften in der Türkei eine lange Tradition. Es gab sogar während des Osmanischen Reiches humoristische Gazetten. Aber in den siebziger und achtziger Jahren gab es einen Boom, damals verkaufte die Zeitschrift GIRGIR zeitweise 400.000 Exemplare pro Woche. Das war neben den Auflagen des amerikanischen MAD MAGAZINE und des russischen KROKODIL MAGAZINE die dritthöchste Auflage der Welt. Das lag aber nicht nur an der Qualität der Zeitschrift. Man muss sich vorstellen, es gab damals nur einen staatlichen Fernsehsender. Die Magazine boten eine Alternative, das, was die Leute im Alltag erlebten, einzuordnen und echte Geschichten zu erzählen. Das hat die Leute wirklich interessiert. In den neunziger Jahren wurden die Magazine dann politisch einflussreicher, weil die Mainstream-Medien nicht alles erzählt haben. Als Underground-Medien wusste jeder sofort, wo sie politisch einzuordnen waren. Ich habe meinen kritischen Geist den Humor-Magazinen zu verdanken. Es war ein Glück, solche Zeitschriften zu haben. Denn wenn man den Fernseher einschaltete, bekam man nur die Propaganda der Regierung. Im LeMan-Magazin stieß ich auf neue Perspektiven auf die politischen Verhältnisse. Dann kam die Privatisierung des Fernsehens und das Internet. Vor allem das Internet hat alles verändert.
Das heißt, es war gar nicht der anhaltende politische Druck, der Sie dazu gebracht hat, UYKUSUZ dichtzumachen?
Die Leute wollen immer von mir hören, dass wir wegen Erdogan das Magazin eingestellt haben. Aber das ist nicht richtig. Natürlich hat Erdogan die Türkei dahin gebracht, wo wir jetzt stehen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der junge Leute keine Zeitschrift mehr kaufen, die eine Erdogan-Karikatur auf dem Cover hat. Sicherlich spielt da auch der politische Druck eine Rolle. Viel entscheidender aber ist die enttäuschte Abkehr derjenigen, die seit Jahren darauf hoffen, dass sich Dinge verändern. Sie sind gelangweilt von den immer gleichen Karikaturen, weil die zu keiner Veränderung führen. Und auch wir Zeichner sind gelangweilt. Immer wieder haben wir die politischen Verhältnisse kritisiert, haben überspitzt die Absurditäten und Verfehlungen von Erdogan und seinen Leuten aufs Korn genommen. Und was ist passiert? Nichts.
Das ist wie mit der Kritik von eingefleischten Sozialisten, die einem irgendwann einfach nur noch leid tun.
Ja, so ist es. Wir langweilten uns mit unseren eigenen Zeichnungen. Auch ich war des Zeichnens irgendwann müde. Ich malte ich nur noch die hässlichen Fratzen von Erdogan und seinen Ministern. Als Kind hatte ich so lustige Sachen gezeichnet. Ich habe meine Leichtigkeit von früher vermisst und innerlich wohl irgendwie aufgegeben. Vielen meiner Kollegen ging es ähnlich. Schließlich gingen die Verkaufszahlen zurück, so dass wir beschlossen, UYKUSUZ einzustellen. Das heißt aber nicht, dass die türkischen Satire-Magazine tot sind. Im Moment gibt es noch das LE MAN Magazine, das älteste, aber es verkauft sich nicht gut. Ich weiß nicht, wie sie sich über Wasser halten können, aber irgendwie gelingt es ihnen. Und es wird neue Wege geben, um Satire online zu vermitteln. Karikaturisten sind einfallsreich, sie werden einen Weg finden.
Als Kind haben Sie davon geträumt, Karikaturist zu werden. Leben Sie Ihren Traum oder hat er sich angesichts der politischen Verhältnisse in einen Albtraum verwandelt?
Ich lebe meinen Traum, voll und ganz. Ich kann hier in Deutschland sitzen und mit Ihnen über meine Comics sprechen, was kann ich mehr erwarten? Mein Vater hat immer geglaubt, dass Künstler überall anders leben, nur nicht in der Türkei. Er dachte immer, an die echte Kunst kommen Türken nicht heran. Es gab damals keine Ausbildung dafür und auch kaum Kontakte nach außen. Meine künstlerische Existenz aber beweist das Gegenteil. Menschen in aller Welt verstehen unsere Geschichten, weil sie sich gar nicht so sehr von unseren unterscheiden. Das zu erleben ist traumhaft.
In Ihrem Comic zeichnen Sie sich selbst in der Mitte von Superhelden. Ist ein Cartoonist, ein Superheld?
Ich will nicht sagen, dass ich ein Superheld bin, aber wenn man mit dieser Art von politischem und sozialem Druck umgehen muss, braucht man schon eine gewisse Widerstandskraft, um weiterzumachen. Sonst macht man das nicht lange mit. Es gibt bessere und deutlich besser bezahlte Jobs. Aber mit dieser Erkenntnis endet ja gewissermaßen der erste Band meiner Trilogie. Ersin lernt, dass es bei der Arbeit als Karikaturist nicht nur um Ansehen, Geld oder den Erfolg bei Frauen geht, sondern dass man als Karikaturist eine Haltung hat. Vielleicht klingt das naiv, aber das hat etwas Heroisches. Und ich bin gern ein Teil davon.
Haben Sie die Superhelden, die man dort sieht, wirklich begleitet?
Ja, ich habe all ihre Geschichten in meiner Kindheit gelesen. Ich bin mit »Asterix«, »Lucky Luke«, »Tim und Struppi«, mit »Batman« und »Superman« aufgewachsen. Man konnte die Comics in der Türkei kaufen, überall gab es außerdem billige Kopien davon. Manche Comics lagen auch den Zeitungen bei. Das war eine Zeitlang eine Verkaufsstrategie, Comics konnten die Auflagen in die Höhe treiben. Meine »Tim und Struppi«-Kenntnisse habe ich dieser Methode zu verdanken. Denn wenn ich meinen Eltern sagte, dass ich mir ein Comic kaufen wollte, gaben sie mir oft kein Geld. Aber wenn ich sagte, ich hole mir eine Zeitung, dann gaben sie mir Geld. Und so bekam ich auch einen Comic.
Sie sind in einer kemalistischen Familie aufgewachsen. Was bedeutet das? Was zeichnet Kemalisten aus?
Die meisten Kemalisten würden sich als modern bezeichnen. Und gewissermaßen ist da auch etwas dran, selbst ich kann dem etwas abgewinnen. Aber es gibt auch Aspekte, die ich nicht teile. Kemalisten sperren sich gegen Kritik an Atatürk und seiner Politik. Das ist für mich viel zu ideologisch.
Und das haben Sie in dem Ausmaß erst verstanden, als sie als Jugendlicher anfingen, Satire-Magazine zu lesen? Oder worin besteht die andere Perspektive die ihnen diese Zeitschriften aufgezeigt haben?
Ich habe einfach verstanden, dass die Dinge nicht schwarz und weiß sind. Das Gefährlichste ist doch, wenn konservative Leute andere beschuldigen, konservativ zu sein und sich selbst als Liberale oder moderne Menschen betrachten. Es ist einfach zu sagen: Ich bin ein demokratischer oder moderner Mensch. Entscheidend ist aber nicht, was man von sich behauptet, sondern was man gegen antidemokratische Tendenzen – Rassismus, Repression, Rechtsbeugung – tut. Daran kann man viel eher erkennen, ob eine Person wirklich modern ist. Ich meine, die säkularsten Menschen in der Türkei sehen Erdogan als absolut rückständig an, während sie selbst nicht einmal annähernd in der Gegenwart angekommen sind. Erdogan ist nur ein Ergebnis. Ich versuche nicht, die Erdogan-Fans zu überzeugen oder mit ihnen zu reden, aber ich stelle fest, dass seine Gegner kaum besser sind. Die türkische Gesellschaft ist unheimlich polarisiert. Beide Seiten hassen sich gegenseitig so sehr, dass sie nicht mehr klar sehen können. Vor etwa zwei Jahren habe ich an einer Fernsehsendung teilgenommen, die von einem ehemaligen Karikaturisten moderiert wurde. Er ist ein Erdogan-Anhänger, aber eben auch ein Karikaturist. Insgesamt haben bestimmt 25 Künstler an dieser Fernsehsendung teilgenommen, in jeder Folge eine Person. Und ich eben auch. Dafür wurde ich von den Säkularen beschimpft, ich sei ein Büttel von Erdogan. Das ist eine Art von Extremismus, die mir Sorgen macht. Wir müssen sachlich bleiben und sorgfältig nachdenken.
Beim Lesen Ihres Buches hatte ich den Eindruck, dass Sie über den Aufstieg zweier Superhelden sprechen. Der eine ist der Karikaturist und der andere ist ein Erdogan.
Ja, und Erdoğan ist der Bösewicht in diesem Buch. Das ist doch genial. Aber es ist ein Zufall, man kann es auch Schicksal nennen. Aber klar, ich will eine Geschichte erzählen, also überlege ich mir schon, wie ich die Dinge inszeniere. Und dabei ist mir eben aufgefallen, dass ich zu dem geworden bin, der heute hier sitzt, und Erdogan zu dem geworden ist, der heute die Türkei regiert.
Sie sprachen vorhin von einer gespaltenen Gesellschaft. Wie konnte es so weit kommen?
Ich glaube, ein Teil der Türken hegt Ressentiments gegenüber den vermeintlich modernen, gebildeten und säkularen Menschen. Dieser Teil meint, in deren Schatten gestanden zu haben. Sie sind verärgert und um sich zu rächen, wählen sie jetzt Erdogan, obwohl er das Land heruntergewirtschaftet hat. Davon werde ich im zweiten Album erzählen, daher sei hier nicht zu viel verraten. Ich will Ihnen aber eine Anekdote erzählen, die vielleicht diese Polarisierung erklärt. Ich habe vor Jahren einen Artikel über die Veränderungen in der Türkei geschrieben. Er war in Form eines Briefes verfasst, der in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde. Mir ging es nur darum, zu beschreiben, was vor sich geht. Der Brief ging viral und ich bekam viele Antworten. Eine war interessant. Der Leser schrieb mir in etwa Folgendes: »Hören Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind. Aber ich habe Ihren Brief gelesen. Sie sind wahrscheinlich gebildet, haben sicherlich eine Schwester oder einen Bruder, kommen mutmaßlich aus einer wohlhabenden Familie und haben gewiss eine Freundin. Ich hingegen bin nie auf eine Mittelschule gegangen, habe neun Geschwister, komme aus armen Verhältnissen und habe nie die Hand einer Frau angefasst. Ich verrate ihnen was, was Ihnen andere nicht sagen werden. Ich bin nicht glücklich in diesem Land. Und solange Leute wie ich nicht glücklich bin, werden auch Sie in diesem Land nicht glücklich werden.« Es erfordert Mut, das so offen zuzugeben. Aber es war für mich schockierend, denn genau das passiert in der Türkei. Es gibt da einen Teil der Bevölkerung, der es dem anderen Teil nachträgt, benachteiligt zu sein. Das ganze Land braucht eine Therapie. Türkische Politiker machen sich diese Traumata und Ressentiments zu nutze, ohne dass ich es genau erklären könnte. Mir ist die türkische Politik ein Rätsel. Gibt es überhaupt eine türkische Politik? Und gibt es eine Opposition? Nicht einmal da bin ich mir sicher. Seit den letzten Wahlen halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass die für Erdogan arbeiten. Da haben die einen Kandidaten aufgestellt, der in allen Umfragen am schlechtesten abgeschnitten hatte. Alle sagten, dass er verlieren würde, aber die Opposition macht ihn zum Kandidaten. Was soll man schon davon halten?
Ihre erste abgedruckte Karikatur zeigt einen Mann, der Bier aus einem mannshohen Glas trinkt. Im Kommentar steht, dass seine Frau ihm nur ein Glas Bier pro Tag erlaubt. Das ist ein so flacher Witz, dass ich überrascht war, dass es ausgerechnet der in ein Magazin geschafft hat. Oder gibt es da eine versteckte türkische Bedeutung?
Nein, es ist einfach ein billiger Witz, den man überall auf der Welt versteht. Das einzige Türkische daran ist, dass der Kerl ein sehr stereotypes türkisches Aussehen hat.
Nichts desto trotz haben Sie es damit in die Zeitschriftenszene geschafft.
Ja, ich war damals auf der Highschool. Ich war damals noch auf der Highschool, ging dann zur Universität, um Grafikdesign zu studieren.
Und wurden der Typ, der von den Mädchen auf der Straße erkannt wird.
Ja (lacht). In meinen Zwanzigern war ich wirklich beliebt bei den Frauen. Sie haben mich an meinem Pullover erkannt, den auch meine Cartoon-Figur trägt. Von dem hatte ich mehrere Exemplare, damit man mich auf der Straße erkennt. Ich wollte damals einfach nur Spaß haben.
Wie erklären Sie sich den Erfolg Ihrer autobiografischen Cartoon-Serie, aus der jetzt der Comic irgendwie auch hervorgegangen ist?
Ich habe Dinge erzählt, die sich die Leute nicht erzählen würden. Es gibt also einen gewissen Grad an Intimität. Man plaudert kleine Geheimnisse aus, dass man auf den besten Freund neidisch ist, heimlich Süßigkeiten isst oder was weiß ich. Kleine Dinge, über die wir nicht reden. Und die Leute können an diese persönlichen Geschichten anknüpfen. Immer wieder sagten mir Leute: »Hey, das bin ich, mir geht es ganz genauso.« Also habe ich mich auf solche Geschichten konzentriert. Das fällt mir auch nicht schwer, ich spreche gerne über solche Dinge, auch im Alltag.
Gibt es im Leben eines Cartoonisten einen Moment, in dem man anfängt, strategisch zu denken?
Wenn man das professionell machen will, muss man irgendwann anfangen, geplant vorzugehen. Man entwirft eine Geschichte, schließlich will man ein Produkt verkaufen, und zwar so oft wie möglich. Also muss man da Dinge hineinpacken, die bei den Leuten ankommen. Das ist im Grunde bei allen Kulturgütern der Fall. Filme entstehen auf diese Weise, Stand-up-Comedy, Literatur… Selbstverständlich ist auch dieses Buch so entstanden. Seit 2016 publiziere ich auch in Frankreich, ich war also auch auf vielen Comicfestivals und habe mit dem französischen Publikum gesprochen. Und immer wurde mir die gleiche Frage gestellt: Wie ist das Leben als Karikaturist in der Türkei? Irgendwann dachte ich mir also: Okay, wenn die das wirklich wissen wollen, dann mache ich das. Und da ging es mir nicht nur darum, etwas gut zu verkaufen. Ich war jahrelang Karikaturist in der Türkei, hatte meine autobiografischen Serien, da war also genau mein Ding. Ich musste es nur richtig machen. Denn das ist so ein One-Shot-Ding. Ich habe nur eine Chance, das zu erzählen. Ich kann nicht irgendwann kommen und sagen, ach halt, das hab ich damals nicht gut erzählt. Ich habe also eine Verantwortung für dieses Projekt, für das es in der Türkei kein Vorbild gibt. International gibt es natürlich autobiografische Geschichten: »Maus«, »Persepolis« oder »Der Araber der Zukunft«. Als der erste Band in Frankreich veröffentlicht wurde, wurde ich kritisiert, weil nicht genug historische Fakten in der Geschichte verarbeitet seien. Aber ich will nie ein Geschichtsbuch schreiben. Wenn jemand etwas über die türkische Geschichte wissen will, soll er auf Wikipedia nachschauen.
Geht es da nicht eher darum, dass die Leute die Hintergründe verstehen wollen?
Ja, ich habe das auch nicht völlig ignoriert. Hatte ich auch nie. Als ich 2017 in die Vereinigten Staaten eine Kunstklasse unterrichtete, hatte ich unsere Titelblätter ausgelegt. Aber die Teilnehmenden waren überhaupt nicht an Politik interessiert. Schon damals sagte ich: »Leute, ihr müsst euch für Politik interessieren, denn Politik ist nichts Abstraktes. In Ländern wie der Türkei kommt sie und packt dich.« Uns ist jedes demokratische Recht, von dem wir immer dachten, es sei selbstverständlich, eines nach dem anderen genommen worden. Und das fängt klein an. Zum Beispiel wurden in der Türkei Porno-Websites verboten. Einer meiner Freunde startete daraufhin eine Kampagne im Sinne von »Don’t touch my porn!« Einige kamen auf uns zu und kritisierten uns dafür. So nach dem Motto: »Wie könnt ihr nur für Pornos Werbung machen?« Aber uns ging es um etwas anderes. Wenn man das einer Regierung durchgehen lässt, dann kommen nach den Pornos andere Dinge. Es war der Moment, um für seine Rechte einzustehen. Auch davon erzähle ich in meinem Comic, denn ich will nicht nur viele Bücher verkaufen, sondern Geschichten erzählen. Bedeutungsvolle Geschichten.
Sie hatten Ihren Durchbruch mit dem Magazin LOMBAK, später zeichneten Sie für PENGUEN und gründeten UYKUSUZ. Warum haben Sie PENGUEN verlassen und Ihr eigenes Magazin UYKUSUZ gegründet?
Karikatur und Satire kann man in der Türkei nicht studieren. Die Magazine entstehen immer, indem sich ein paar Leute zusammentun. Es fängt immer mit einer Clique an, die Spaß daran hat, gemeinsam etwas zu schaffen. Bei PENGUEN arbeiteten wir zu sechst in einem Raum. Irgendwann fingen wir an, zum Frühstück zu gehen, nachdem wir die ganze Nacht durchgearbeitet hatten. Und jedes Mal sprachen wir darüber, was wir machen würden, wenn wir machen könnten wie wir wollen. Denn es gab ein paar Dinge, die uns nicht gefielen. Und Karikaturisten denken immer darüber nach, was sie tun würden, wenn sie selbst eine Zeitschrift machen würden. Irgendwann dachten wir, dass wir es versuchen sollten und gründeten UYKUSUZ. Im zweiten Band wird es auch darum gehen.
In den Vereinigten Staaten wird Art Spiegelmans »Maus« aus den Bibliotheken verbannt. In Frankreich wurde die halbe CHARLIE HEBDO-Redaktion von Terroristen ausgelöscht. Warum sind grafische Inhalte für die Mächtigen so beängstigend?
Ich glaube, Zeichnungen sind stärker als Worte. Das ist die Magie der Zeichnung. Bei Humor ist es etwas anders. Humor ist ein Kind, das an der Krawatte eines dicken Mannes im Anzug zieht. Dieses Kind kann man nicht schlagen, man muss sanft sein.
Ihre Eltern, Freunde und Kollegen haben Sie davor gewarnt, Erdogan und seine Regierung zu kritisieren. Wie hat sich Ihre Satire im Laufe der Jahre verändert? Was hat sich in Ihnen selbst verändert? Sind Sie offener, kritischer oder sarkastischer geworden?
Meine Stimmung ändert sich ständig. Mal bin ich düster, dann aufgeregter, mal hoffnungsvoll, dann wieder völlig verzweifelt. Die kleinsten Dinge können das beeinflussen. Wenn ich mir Nachrichten anschaue, bin ich oft deprimiert. Wenn ich fünf Minuten später in Ruhe einen Kaffee trinke und meine Katzen streichle, ich denke wieder, dass ich das beste aller Leben führe. Ich lebe in Paris, verdiene meinen Lebensunterhalt mit Zeichnen, was will ich denn mehr? Ich versuche einfach, mich gesund zu halten und Dinge zu tun, die ich nicht bereuen werde. Die Ereignisse in der Türkei haben mich aber vorsichtig gemacht. ich halte mich jetzt oft zurück, zögere, mit den Leuten zu sprechen, mit denen ich früher gesprochen, auch wenn ich das an mir selbst nicht mag.
Halten Sie sich zurück, weil Sie skeptischer oder ängstlicher sind, weil Sie nicht wissen, wer Ihnen da gegenüber sitzt?
Ich bin skeptischer geworden, fürchte mich vor ihren Reaktionen. Wenn ich sehe, was in diesem Land vor sich geht, fällt es mir auch schwer, dem Urteilsvermögen der meisten Menschen zu vertrauen. Ich sehe auch die Leute, mit denen ich früher viel abgehangen habe, kaum noch. Eine Weile dachte ich, dass ich dazugehöre, aber inzwischen fühle ich mich ziemlich allein.
Was ist mit Ihren Freunden von UYKUSUZ?
Sie fühlen sich genauso allein, wir leben alle recht isoliert. In Frankreich werden Comiczeichner mehr als Künstler betrachtet, sicher auch in Deutschland. Aber in der Türkei wurden wir nie als Künstler betrachtet. Jetzt fangen einige an, Workshops und kleine Ausstellungen zu veranstalten. Die Leute versuchen also, sich in diesem Geschäft zu engagieren, aber ich merke, dass viele sehr müde sind. ich sage immer, »Kopf hoch. Wenn ihr in der Türkei niemanden findet, der zu euch hält, dann vielleicht woanders.« Aber wir haben jahrelang nicht versucht, Kontakte ins Ausland zu knüpfen. Türkische Zeichner blieben lange Zeit unter sich. Weil wir sehr beliebt waren, dachten wir, es sei nicht nötig, sich mit anderen zu vernetzen. Viel wichtiger aber war, dass wir dachten, niemand würde uns verstehen. Wir gingen immer davon aus, dass die Europäer unsere Probleme nicht verstehen würden. Aber tatsächlich tun sie das. So sehr unterscheiden sich unsere biografischen Erfahrungen nämlich nicht.
Wie ist denn das Leben als Comiczeichner in Frankreich. Sie sprechen kein Französisch, richtig?
Nein, das ist ein großes Problem. Meine Frau ist Französin, das hilft. Aber wir ziehen es vor, miteinander Englisch zu sprechen.
Wollen Sie in Frankreich bleiben oder denken Sie manchmal daran, in die Türkei zurückzukehren?
Ich bin ja gerade erst umgezogen, also ist das nichts, worüber ich jetzt nachdenke. Meine Frau lebt in Paris, sie arbeitet dort in einem Comicladen. Ich bin vor fünf Monaten aus der Türkei gekommen, weil ich mich verändern wollte. Istanbul hat mich deprimiert. Ich werde es bestimmt vermissen, aber dann kann ich ja zurückgehen.
Sind Sie denn sicher, wenn Sie in der Türkei oder in Istanbul sind?
Gegen mich läuft kein Prozess oder so. Aber es laufen immer noch Verfahren gegen UYKUSUZ, wegen drei Karikaturen, zwei Titelseiten und einer Karikatur, hat man uns vor Gericht gezerrt. Die Anschuldigungen gehen weiter, beziehen sich aber nicht auf mich persönlich. Es gibt also keine rechtlichen Gründe, die mich daran hindern würden, in die Türkei zu reisen. Aber natürlich habe ich Angst, dass sie mich aus irgendeinem Grund inhaftieren könnten. Vor einem Jahr hing eine meiner Zeichnungen – eine Illustration, die Monster zeigt, die Touristen fressen – auf dem Istanbuler Comicfestival aus. Einer von Erdogans Ministern machte ein Foto davon und postete es auf Twitter. Daraus wurde ein Shitstorm, so nach dem Motto, ich sei doch ein kranker Typ. Da habe ich verstanden, dass es nicht viel braucht, um in deren Visier zu geraten. Das ist beängstigend. Als wir auf der Titelseite von UYKUSUZ eine Erdogan-Karikatur brachten, sagten uns die Kioske, dass sie das Magazin nicht in ihren Schaufenstern auslegen würden. So weit geht das schon. Es ist eine furchtbare Atmosphäre, wirklich anstrengend.
In Ihrem Comic sagt Ihr Alter Ego: »Unsere Aufgabe wird immer sein, für das einzustehen, was richtig ist.« Woher wissen Sie, was richtig und was falsch ist?
Man kann es nie wissen, sollte aber nie den Versuch aufgeben, danach zu suchen. Es reicht nicht, zu sagen, dass man das ja nie wissen kann. Man muss daran arbeiten, sich selbst gegenüber skeptisch bleiben. Das versuche ich einzuhalten, nicht nur auf der beruflichen, sondern auch auf der privaten Ebene.
Gab es Situationen, in denen Sie dachten oder wussten, dass das, was Sie taten oder zeichneten, falsch war?
Aber natürlich. Ich habe falsche Dinge gezeichnet, falsche Ideen. Deshalb fällt es mir auch so schwer, mir meine früheren Arbeiten anzusehen. Als ich mit meiner autobiografischen Serie anfing, war ich 21 Jahre alt. Was weiß ein 21-Jähriger schon vom Leben?
Im Comic geht es darum, was sie vor zwanzig Jahren erlebt haben. Wo sehen Sie sich denn in zwanzig Jahre?
Ich hoffe, dass ich dann immer noch Comics machen werde. Ich weiß zwar nicht, ob das Buch überleben wird – ich hoffe es, ich mag Bücher – oder in welchem anderen Format Comics erscheinen können, aber wir werden neue Wege finden. Vielleicht hilft ja die künstliche Intelligenz. Wie auch immer, wichtig ist, dass ich im Kopf gesund bleibe. Und vielleicht habe ich bis dahin Geschichten auch in anderen Medien erzählt, ich hätte Lust, einen Film zu machen oder Theaterstücke zu schreiben.
Um Comics und Kino zu kombinieren, ist Frankreich der richtige Ort.
Ja, vielleicht bin ich auf dem richtigen Weg, aber ich muss bei mir bleiben. Manchmal habe ich damit zu kämpfen. Etwa wenn ich die türkischen Nachrichten sehe oder auf Twitter unterwegs bin. Dann rege ich mich auf und werde wütend. Aber vielleicht brauche ich das auch, wer weiß.
Haben Sie denn Hoffnung für Ihr Land?
Ich kann es mir gar nicht leisten, die Hoffnung zu verlieren, denn meine Familie und meine Freunde leben noch dort. Die Türken sind ein spannendes Volk. Sie können ihre Sichtweise schneller ändern als die meisten anderen Menschen. Und ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass dies noch einmal geschieht. Zunächst aber müssen wir die Folgen von Erdogan und seiner Regierung ertragen.
Wie meinen Sie das?
Erdogan ist das Ergebnis vergangener Prozesse, die Folgen seiner Politik werden wir erst später spüren. Wir werden erst erfahren müssen, wohin uns der Hass und die Polarisierung führen. Das mag weh tun, aber erst dann werden sich die Dinge ändern können. Wann das der Fall ist, weiß ich nicht. Für die nahe Zukunft habe ich da wenig Hoffnung.