Comic, Interviews & Porträts

»Ich schreibe immer wieder die Geschichte meiner Eltern«

Der kanadische Comiczeichner Seth alias Gregory Gallant im Gespräch über die Ungenauigkeit der Erinnerung, die Last der Nostalgie und seine Erwartung, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. In diesen Tagen erscheint sein lang erwartetes, neues »Palookaville«-Album.

Mr. Galland, in Ihrem neuen »Palookaville«-Band tauchen Sie tief in Ihre Jugend ein. Kommt jetzt endlich die große autobiografische Erzählung, auf die Ihre Fans schon lange warten?
Ja, ich arbeite ja schon eine Weile daran. Kindheit und Jugend sind fertig und ich bin bei knapp 150 Seiten. Es werden mindestens noch einmal so viele, bis ich im Alter von dreißig Jahren angekommen bin. Es wird also noch ein bisschen dauern. Über die Jahre danach will ich noch nicht schreiben, ich bin noch nicht soweit.

Waren die so belastend?
Ich lebte damals in einer toxischen Beziehung. Wir waren zehn Jahre zusammen, das war keine gute Phase in meinem Leben. Ich möchte mich jetzt nicht damit auseinandersetzen.

Follow the link, if you want to read my conversation with Seth in the original english version.

Aber irgendwas scheint Sie ja an der Vergangenheit und den Erinnerungen zu reizen, so oft, wie Sie darin eintauchen?
Für mich sind Erinnerungen das Wichtigste im Leben. Je älter ich bin, desto öfter denke ich an meine Jugend. Diese Erinnerungen fühlen sich manchmal echter an als die Gegenwart. Die Erinnerung ist der Fluss, in dem wir schwimmen. Je älter ich werde, desto mehr denke ich darüber nach, dass wir nur diese kurze Zeitspanne haben. Die Erinnerung scheint mir die einzige Möglichkeit, dem einen Sinn zu geben. Verrückt ist, dass die Erinnerung eine so ungenaue und unzuverlässige Aufzeichnung unseres Daseins ist. Je älter man wird, desto mehr erkennt man, dass die eigenen Erinnerungen wahrscheinlich ungenau sind.

Inwiefern?
Nun, je älter ich werde, desto weniger glaube ich, dass meine Erinnerungen korrekt sind. Aber das scheint auch nicht wichtig zu sein. Die Erinnerungen selbst und die Lebensgeschichte, die man sich erzählt, sind das eigentlich Interessante. Ich glaube nicht, dass es die eine wahre Lebensgeschichte gibt, weil man sein Leben ständig umschreibt. Wenn man mich als Zwanzigjährigen nach meiner Kindheit gefragt hätte, hätte ich eine andere Geschichte erzählt, als ich sie heute erzähle. Nicht, weil sich Ereignisse geändert haben, sondern weil ich damals eine andere Agenda hatte. Mit zwanzig hatte ich wahrscheinlich ziemlich genaue Erinnerungen. Jetzt habe ich nur das, was aus irgendeinem Grund hängen geblieben ist. So poliert man seine Erinnerungen im Laufe der Jahre auf; manches verschwindet, anderes strahlt in vollem Glanz.

Seth: Palookaville 24. Drawn & Quarterly 2023. 112 Seiten. 29,95 $. Hier bestellen.

Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Im neuen »Palookaville«-Album erzähle ich die Geschichte einer Affäre, die ich mit der Frau meines Chefs hatte. Darüber hatte ich schon mal mit Anfang dreißig einen Comic gezeichnet. Den habe ich jetzt natürlich herausgeholt, um ihn durchzusehen. An die Hälfte von dem, was ich damals zeichnete, konnte ich mich gar nicht mehr erinnern. All das ist verblasst. Wenn ich damals nicht diesen Comic gemacht hätte, wären viele dieser Details einfach verschwunden.

Erinnerungen sind nur »Stücke und Einzelteile«, lese ich bei Ihnen. In Ihren Comics bauen Sie sie mit kleinen Details, mit Objekten, Innenräumen, Zeichen, Symbolen wieder auf. Es liest sich wie ein Monolog der Dinge über die Zeit und ihre Vergänglichkeit. Was erzählen Objekte über den Menschen?
Ich bin ein Sammler, Objekte finde ich unheimlich faszinierend. Sie haben eine große Macht. Als Kind wuchs ich mit sehr alten Eltern auf, meine Geschwister waren also schon ausgezogen, als ich klein war. Das Haus war voller alter Sachen und ich habe sie geliebt. Das hat sich mir irgendwie eingebrannt. Ich kann mich erinnern, dass ich als Kind in alten Fotos gewühlt habe. Mein Vater hatte tonnenweise alte Hefte und Papiere aus seiner Zeit bei der Luftwaffe oder als Pfadfinderführer. Ich habe schon als Kind begonnen, mir Objekte einzuprägen. Und das hat mich zum Sammler gemacht. Es liegt eine große Kraft in der Zusammenstellung von Objekten. Mein Haus ist sehr kuratiert, manchmal fühlt es sich wie ein Museum an. Manchmal frage ich mich, was es bringt, all diese Dinge anzuhäufen und zusammenzustellen. Wir sind nur kleine Wesen auf einem großen Ball, aber wir haben eine Kiste und werden sie mit Dingen füllen, die unser Leben ausmachen. Das hat etwas Magisches. Jedes einzelne Ding in diesem Haus ist ein Gegenstand, den ein Mensch geschaffen hat. Nichts hier ist von Bedeutung, aber alles bedeutet mir etwas. Welche Magie auch immer dahinter steckt, sie gibt meinem Leben einen Sinn. Objekte sind mächtig, wir schreiben mit ihnen unsere Lebensgeschichte.

Seth 1992, Foto von Rick McGinnis

Der 1962 geborene Zeichner und Illustrator Seth heißt mit bürgerlichem Namen Gregory Gallant und hat in den Neunziger Jahren mit Chester Brown und Joe Matt die kanadische Comicszene wachgeküsst. In einer Generation der Ausnahmekünstler ragt der sympathische Hipster heraus. Mehrfach preisgekrönt sprechen seine Comics mit Titeln wie »Eigentlich ist das Leben schön« oder »Vom Glanz der alten Tage« für sich. In seinem neuen Album nimmt er seine Leser:innen einmal mehr mit auf eine berührende Zeitreise.

Sie sagen, eines der wichtigsten Ziele des Lebens sei es, eine Lebensgeschichte zu schreiben, indem man Dinge sammelt und kuratiert. Worum geht es in Ihrer Lebensgeschichte?
Mit meiner Arbeit versuche ich ein System zu finden, um zu greifen, was in meinem Kopf vor sich geht. Meine Lebensgeschichte ist ansonsten ganz simpel, fast langweilig. Irgendwann bin ich zur Schule gegangen, dann war ich Punkrocker und später ein nostalgischer Typ, der Comics macht. Das ist alles wenig spektakulär.

Ich fand die Entwicklung zum Punkrocker und Nostalgiker spannend.
Bei der Punk-Bewegung ging es irgendwie auch um Nostalgie. Punk war eine Reaktion gegen die Hippies, brachte die 50er Jahre wieder zurück. Als jemand, der mit alten Sachen aufgewachsen ist, war ich davon begeistert. Ich mochte all diese Retro-Trend, die Rockabilly-Musik und die Ästhetik der 50er Jahre. Wahrscheinlich war ich einfach eine Art Hipster. Ich wurde älter und schlauer und fing an, über diese Zeit und meine Faszination nachzudenken. Aber wie die meisten jugendorientierten Sachen war es ziemlich oberflächlich.

Auszug aus »Palookaville 24«

Lassen Sie uns zurück zu Ihrer Lebensgeschichte kommen.
Identität wird sowieso geschaffen. Ich denke, man wird mit einer gewissen Persönlichkeit geboren und hat keine große Wahl. Aber man kann dieser Persönlichkeit etwas hinzufügen oder entfernen, man kann sie verfeinern. Ob man will oder nicht, man baut sich seine Identität auf. Für mich war es schon als Teenager sehr wichtig, dass ich mir meine Identität bewusst schaffe. Ich war immer sehr darauf bedacht, mir ein Image zu schaffen und meine eigene Ästhetik zu verfolgen. Die hat sich im Laufe der Zeit immer wieder geändert, aber war immer eine klare Sache. Ich denke, das ist wichtig, weil man bei der eigenen Identität zwei Möglichkeiten hat. Entweder man erschafft sie selbst oder man lässt sie von anderen für sich erschaffen. Und für mich war es wichtig, selbst die Verantwortung dafür zu tragen. Und wie bei allem: Wenn man es tut, wird es wahr. Es steckt also viel Wahrheit in dem Spruch »fake it till you make it«. Wenn man Dinge immer wieder macht, dann sind sie irgendwann nicht mehr nur vorgetäuscht. Man ist dann einfach, wer man ist.

So wie aus Gregory Gallant der Comiczeichner Seth wurde.
Ehrlich gesagt wünschte ich, ich hätte das nie getan. Ich mag den Namen Gregory Gallant, das ist ein guter Name. Als Teenager habe ich meine eigene Comic-Firma gegründet und sie hieß Gallant Comics, was ein ziemlich cooler Name ist. Aber in meinen 20ern wollte ich als Nachtclub- und Punkrock-Kid einen dramatischen, gruftigen Namen haben. Also nahm ich Seth und drängte alle, mich so zu nennen. Seitdem bin ich Seth und inzwischen bin ich das schon 30 Jahre zu lange, um es rückgängig zu machen. Jetzt muss ich damit leben. Ich bin froh, dass Seth ein echter Name ist. Ich hätte mir damals auch so etwas wie »Monster Zero« aussuchen können. Stell Dir vor, Du hättest dann ein Leben lang diesen schrecklichen Namen am Hals. Seth ist wenigstens ein richtiger Name, und die meisten denken auch, dass das mein richtiger Name ist. Das ist also in Ordnung.

Seth 2018 | Foto: Rick McGinnis | http://someoldpicturesitook.blogspot.com/

Und wie kam es zu Ihrer Liebe zu alten Dingen, zu Ihrem Stil?
Das fing natürlich bei meinen Eltern an. Sie waren einfach alt und ich habe viel davon aufgesogen. Ich bin mit der Popkultur der 30er, 40er und 50er Jahre aufgewachsen, weil ich als Kind so viel ferngesehen habe. Und ich habe nicht darüber nachgedacht. Für mich war es einfach das, was im Fernsehen gezeigt wurde. All diese alten Hollywood-Filme, die ganze Popkultur, all das Zeug aus den 30er Jahren, die Musik… das blieb einfach in meinem Hinterkopf. Erst in den 80er Jahren fing ich an, über diese Kultur nachzudenken. Das taten viele Leute in meinem Alter. Deshalb war das Interesse an B-Movies zu dieser Zeit so groß. Es gab auch eine Menge Retro-Kram, der angesagt war.
Ich habe immer sehr darauf geachtet, mir ein eigenes Image und eine eigene Ästhetik zu schaffen. Beides hat sich im Laufe der Zeit immer wieder etwas geändert, aber war stets meins. Ich bin mit der Popkultur der 30er, 40er und 50er Jahre aufgewachsen, diese Jahre haben mich geprägt. In meinen Zwanzigern hatte ich diese Punkrock-Phase, Anfang Dreißig interessierte mich das nicht mehr. Ich hörte Blues und Jazz und begann, mein Leben mit dem Material der 30er und 40er Jahre zu füllen. Für mich war das damals die großartigste Zeit, in der man leben konnte. Die Popkultur meiner Zeit lehnte ich ab, nur diesen Namen hab ich behalten. Irgendwie war ich ziemlich versnobt. Ich wollte nur »wirklich gute« Filme sehen und Romane lesen. Superhelden-Comics fand ich blöd und so weiter. Aber wie bei allem, was man so macht, hat sich das im Laufe der Jahre zurückentwickelt. Inzwischen rede ich gut und gerne eine Stunde über Jack Kirby und Marvel Comics. Es muss auch nicht jeder Film, den ich sehe, großartig sein. Und ich glaube keine Sekunde mehr daran, dass die 30er oder 40er Jahre die größte Zeit waren.

Der Abstand zwischen Ihrem Lebensabschnitt und der Zeit, die Sie interessiert, bleibt aber offenbar derselbe. Heute schwelgen Sie in den 80er Jahren.
Das liegt daran, wie wir die Vergangenheit betrachten. Früher gab es eine Reihe von Büchern, die »Saturday Book« genannt wurden. Das waren jährlich erscheinende Bücher, die in den 40er Jahren begannen und bis Mitte der 70er Jahre liefen. Sie erschienen einmal im Jahr als großes Kompendium voller Nostalgie und Sammelleidenschaft. In den 40er Jahren drehte sich alles um die viktorianische Ära. Es ging also um Musik, Karten und die Romane dieser Zeit. In den 70er Jahren dreht sich alles um die 20er Jahre. Es ist offensichtlich nur ein natürlicher Impuls, dass sich die Menschen, wenn sie älter werden, auf Verschiebungen konzentrieren. Jetzt denke ich ständig an die 70er Jahre, weil das meine Kindheit war. Wenn ich heute junge Leute über die 70er Jahre reden sehe, wird mir klar, dass sie keine Ahnung haben, weil sie nicht dabei waren.

Wahrscheinlich gehört es zu unserer Lebensgeschichte, dass wir uns unseren eigenen Erfahrungen annähern.
Nostalgie ist einfach unglaublich mächtig. Man muss nicht einmal ein gutes Leben gehabt haben, um nostalgisch auf seine Vergangenheit zurückzublicken. Ich kann mich an Zeiten erinnern, in denen ich nicht sehr glücklich war. Dennoch empfinde ich eine Art Nostalgie für diese Zeiten. Aber wenn ich dorthin zurückkehren könnte, würde ich mich fragen, warum in Gottes Namen ich mir gewünscht habe, hierher zurückzukommen.

Seth’ Werkschau

Sie und Ihr künstlerisches Werk sind mit dem Begriff Nostalgie verbunden. Was ist Nostalgie für Sie?
Ich mag den Begriff nicht, aber ich habe mich an ihn gewöhnt. Das musste ich auch, denn es gibt keinen Text über mich und mein Werk, in dem nicht »Nostalgie« vorkommt. Meine Arbeit beschäftigt sich ständig mit der Vergangenheit oder meiner Vergangenheit. Das ist mein Hauptthema. Ich mag das Wort nicht, ich habe mich daran gewöhnt. Ich mag es nicht, weil es so vermarktet wird. Wenn man in den 60er Jahren oder früher mit jemandem über Nostalgie gesprochen hätte, hätte er wahrscheinlich eine andere Vorstellung von Nostalgie gehabt als wir. Heute ist Nostalgie ein Produkt, das verkauft wird. Ich bin in der ersten Welle der Nostalgiekultur aufgewachsen. Damals begannen all die Hippies, alte Sachen aus den 20er und 30er Jahren zu kaufen. Und die Industrie begann, massenhaft Poster von W.C. Fields oder Laurel und Hardy zu verkaufen. Für mich ist Nostalgie seitdem ein abwertender Begriff. Es schwingt etwas Infantiles mit. Wenn man an Nostalgie denkt, denkt man an Menschen, die töricht auf die Vergangenheit zurückblicken. Man denkt nicht an eine großartige Sache. Nostalgiker stellen sich eine einfachere Zeit vor, die es nie gab. Das tue ich als Privatperson auch. In meiner Arbeit versuche ich, mit Vergangenheit und Erinnerungen anders, nüchterner umzugehen. Ich würde zum Beispiel nicht sagen, dass es in »Clyde Fans« um die Sehnsucht nach einer glücklicheren Zeit in der Vergangenheit geht. Die Figuren sind auf jeder Seite unglücklich. »George Sprott« blickt auf seine eigene bewegte Vergangenheit zurück. In all meinen Werken – auch in dem Memoir, an dem ich gerade arbeite – geht es eher um den Zusammenbruch von Erinnerungen als um deren Genauigkeit.

In meinen Augen verwenden Sie Nostalgie als Werkzeug, um über das Vergehen von Zeit und Erinnerung nachzudenken.
Man schreibt halt über das, worüber man nachdenkt. Und die meiste Zeit des Tages beschäftige ich mich damit, wie Zeit und Erinnerung funktionieren. Ich kann mich erinnern, dass ich mich schon als Teenager für meine Kindheit interessiert habe. Damals dachte ich, verstanden zu haben, wie die Zeit vergeht. Jetzt bin ich sechzig Jahre alt und es fühlt sich an, als wäre mein Leben an mir vorbei gerauscht. Als ich um die 40 Jahre alt war, hörte ich einen alten Mann im Radio über das Altwerden sprechen. Er sagte: Erst bist du 20 Jahre alt, dann 30, dann 40 und 50 Jahre. Und dann bist du plötzlich 80 Jahre alt. Das hat mich erschrocken, weil es wohl wahr ist. Die Zeit ist einfach plötzlich vorbei. Die Zeit vergeht langsamer, wenn man jünger ist. Und diese Erfahrung, dass die Zeit vergeht, ist so interessant. Die einzige Möglichkeit, damit umzugehen, ist die Erinnerung.

Vielleicht ist es mit dem Lebensalter wie mit einem guten Buch: Am Anfang hat man noch hunderte Seiten vor sich und es plätschert vor sich hin. Aber ab einem bestimmten Punkt vergeht es wie im Flug.
Da ist was dran. Ich denke, das Älterwerden ist wichtig, weil man sonst nicht gehen will. Man muss sich abnutzen, sonst ist man 80 Jahre alt und noch nicht bereit zu gehen.

Ein gut verkorkster Typ. Seth beim Aufbau seines Puppenspiels »The Short Apology of Albert Batch« | Foto: Luc Chamberland

Ihr Alter Ego in »Eigentlich ist das Leben schön« behauptet, dass es zwei Typen von Menschen gibt: »die gut Verkorksten und die schlecht Verpfuschten«. Was für ein Typ sind Sie denn?
Ich bin ein gut verkorkster, glücklicher Typ. Als ich jünger war, hätte ich mich gegen diesen Gedanken gewehrt und behauptet, dass ich ein launischer oder ein melancholischer Mensch bin. Aber das stimmt meines Erachtens nicht. Ich verbringe viel Zeit damit, über die Vergangenheit nachzudenken, das macht mich nicht unglücklich. Ich zitiere immer diesen Satz von Charles Schulz. »Was ist gute Trauer? Trauer ist nicht gut. Aber gute Trauer wäre eine Art von Trauer, die angenehm ist. Und ich denke, das ist es, was Melancholie ist. Zurück mit einer Art von angenehmem Gefühl. Es ist bittersüß, wie man sagt.« Ich fühle das sehr oft, aber in meinem täglichen Leben bin ich ein glücklicher Mensch. Die Dinge haben sich in meinem Leben wirklich gut entwickelt. Natürlich gibt es in meinem Leben auch traurige Dinge, wie bei allen anderen auch. Aber ich habe das Gefühl, dass ich kein Mensch bin, der einen Groll gegen irgendetwas hegt. Ich bin ein sehr sozialer Mensch. Ich habe ein glückliches Leben. Ich liebe meine Frau und wir sind seit 22 Jahren verheiratet. Und solange ich nicht schrecklich krank werde, ist alles in Ordnung. Verkorkst bin ich in dem Sinne, als dass auch ich Schwierigkeiten in meiner Kindheit und mit meinen Eltern hatte. Aber ich bin nicht auf die schlechte Art verkorkst, sondern stehe auf der guten Seite.

Was empfinden Sie, wenn Sie sich die Welt um sich herum ansehen? Leiden Sie an der Moderne?
Man definiert sich über die Umgebung, in der man lebt. Wenn ich also im Jahr 1940 leben würde, wäre ich wahrscheinlich nicht so glücklich darüber. Vielleicht würde ich in meiner Vorstellung im Jahr 1870 leben wollen. Es gibt immer eine gewisse Art von Widersprüchlichkeit. Das ist einer der Gründe, warum mein Leben so geworden ist, wie es ist. Ich halte nicht viel von der modernen Kultur, ich habe mich angepasst. Ich habe einen Computer, aber ich halte seinen Einfluss auf ein Minimum beschränkt. Ich habe kein iPhone oder so. Meine Frau hat eins, obwohl ich versucht habe, sie davon abzuhalten. Die Wahrheit ist schlicht: Ich mag die Vergangenheit, weil sie vergangen ist. Ich liebe alte Orte. Die Suche nach der Vergangenheit ist manchmal reizvoller als die Vergangenheit selbst. Der Gedanke, dass Dinge verweilen, hat eine andere Qualität als die Ästhetik der Dinge. Mein Interesse an der Vergangenheit ist auch darauf zurückzuführen, dass ich in der Moderne lebe, die ich oft unangenehm finde. Die Stadt, in der ich lebe, ist hässlich. Es werden nur moderne Gebäude gebaut. Vielleicht werden sie in 50 Jahren besser aussehen, aber im Moment ist die Ästhetik zum Davonlaufen.

Das ist hier nicht anders. Neubauten fehlt jede Ästhetik, sie sind einfach nur funktional. Wir leben in einer Zeit der Funktionalität, nicht der Ästhetik. Zur Moderne gehört auch das restriktive Rauchverbot. Wie ist das für einen großen Raucher wie Sie?
Ich war ein leidenschaftlicher Raucher, habe vor zehn Jahren aufgehört. Aber ich habe es geliebt. Eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, dass Art Spiegelman und ich die letzten Raucher waren. Als ich aufhörte, hatte ich das Gefühl, ihn im Stich zu lassen. Art raucht immer noch und wird es bis zu seinem Lebensende tun. Ich habe im Grunde genommen aus demselben Grund aufgehört wie jeder andere Mensch auch, nämlich aus Angst vor dem Tod. Ich habe früher enorme Mengen geraucht, drei Päckchen pro Tag. Ich habe immer geraucht, sogar unter der Dusche. Es ist einfach eine tolle Beschäftigung, die ich manchmal auch vermisse. Wenn sie nur nicht so gefährlich wäre.

Fragen Sie mich nicht warum, aber wenn ich an eine filmische Adaption Ihres Werkes denke, kommt mir immer Wes Anderson in den Kopf. Haben Sie jemals daran gedacht?
Oh natürlich, ich liebe den Film, aber ich werde selbst nie einen Film machen. Ich bin 60 Jahre alt, das ist zu spät, um das zu lernen. Aber es wäre interessant, an einer Verfilmung meines Werks beteiligt zu sein. Wes Anderson ist eine gute Wahl, wenngleich ich kein großer Fan seiner Filme bin. Aber ich liebe seine künstlerische Herangehensweise und die Art, wie er Filme konstruiert. Ich habe zuletzt »The French Dispatch« von ihm gesehen. Er hat mir gefallen. Ich habe ihn nicht geliebt, aber ich habe ihn genossen. Ich mochte einige Details nicht, aber als ich nach Hause kam, dachte ich, dass dies sehr dem ähnelt, was ich in meinem neuen Buch zu tun versuche. Die Art und Weise, wie er die Geschichte strukturiert und sich auf die Gestaltung der Objekte konzentriert. Und ich mag seine Ästhetik. Aber seine Filme sind mir zu hektisch, es passiert einfach zu viel. Als ich »Hotel Budapest« sah, mochte ich die ersten 20 Minuten. Aber dann verließen sie das Hotel und es wurde zu viel. Wäre er doch einfach im Hotel geblieben. Aber im Allgemeinen ist der Film ein so großartiges Medium. Aber selbst wenn ein Wunder geschähe, hätte ich keine Zeit, um zu lernen, wie man einen Film macht. Man braucht ein ganzes Leben, um einen guten Film zu machen.

Sie könnten sich einen Regisseur suchen.
Ja, aber man muss den richtigen Regisseur finden. Es ist nicht leicht, mit Leuten zusammenzuarbeiten, jemanden zu finden, mit dem man wirklich zusammenarbeiten kann. Entweder man trifft Menschen, zu denen man die ganze Zeit aufschaut oder Leute, die man nicht genug respektiert. In beiden Fällen ist es Zeitverschwendung. Oder man findet jemanden, der wirklich großartig ist und der dann doch nur ein Assistent wird.

Seth, Chester Brown & Joe Matt, Parkdale, 1992 | Foto: Rick McGinnis

Schade, dass weder Chester Brown noch Joe Matt oder Art Spiegelman Cineasten sein werden.
»Paying for it« von Chester Brown wird gerade adaptiert. Aber wir werden sehen, wie sie das handhaben. Es ist ein lustiges Thema.

Joe Matt, Chester Brown und Sie sind als die Toronto-Three bekannt. Was bedeutet Ihnen diese Freundschaft?
Ich liebe diese Jungs, aber wir leben nicht mehr in der gleichen Stadt und sehen uns deshalb nicht mehr so oft. Wir fanden uns in der Welt vor dem Internet. In den 80er und frühen 90er Jahren gab es in ganz Nordamerika höchstens 50 Cartoonisten, die die Art von Arbeit machten, an der wir interessiert waren. Egal in welcher Stadt man lebte, wenn es da einen anderen Cartoonisten wie dich gab, war er dein Freund. Man hat sich das nicht ausgesucht, das war eine Art Schicksal. Meine Begegnung mit Joe und Chester war also reiner Zufall, weil wir damals alle in Toronto lebten. Wir hatten völlig unterschiedliche Hintergründe, aber ein gemeinsames Ziel: wir waren alle an der gleichen Art von Cartooning interessiert. Als wir dann zusammenkamen, haben wir uns sehr schnell angefreundet. Unsere Persönlichkeiten sind jedoch sehr unterschiedlich. Das wird jetzt, Jahre später, viel deutlicher. Ich habe Chester erst vor einer Woche gesehen und wir haben die ganze Zeit über Verschwörungstheorien geredet, für die er sich interessiert. Mich interessiert dieser Quatsch nicht die Bohne, ich habe kein Interesse an dieser Querdenker-Welt. Aber er steckt bis zum Hals im Kaninchenbau. Er war schon immer so. In den 80er Jahren wollte er mich davon überzeugen, dass Shakespeare nicht seine eigenen Stücke geschrieben hat. Aber das war in Ordnung. Wenn er jetzt davon redet, dass Covid eine Lüge ist, bin ich weniger nachsichtig. Auch wenn wir mit zunehmendem Alter weniger gemeinsam haben, sind Chester und Joe immer noch alte Freunde. Und daran wird sich auch nichts ändern.

Kommen wir zurück zu Ihrer Arbeit. »Palookaville« – übrigens, mit Bindestrich oder ohne Bindestrich?
Das spielt eigentlich keine Rolle. Ich habe es im Laufe der Jahre geändert, ich brauche keinen Bindestrich mehr.

Gut. Dann wäre das geklärt. Aber zurück zu meiner Frage. In »Palookaville« haben Sie die Geschichten von »Eigentlich ist das Leben schön« und »Clyde Fans« Stück für Stück veröffentlicht. Verändert sich die Wahrnehmung Ihrer Geschichten, wenn sie aus den »Palookaville«-Heften in einem Comicbuch wie »Clyde Fans« zusammengefasst werden?
Ich bin mir nicht sicher. Ich habe es aus reiner Zweckmäßigkeit getan. Das Format spielte für die Veröffentlichung auch eine Rolle. Das Format eines Comics bestimmt, wie man ihn strukturiert. Als ich anfing hatte ich 24 Seiten pro Heft zur Verfügung. Die ersten paar Comics, die ich gemacht habe, waren also 24 Seiten lang. So viel Zeit hatte ich also immer für eine Geschichte. Irgendwann habe ich mir überlegt, eine zweiteilige Geschichte zu machen. 24 Seiten bilden dann ein Kapitel und man muss sie so gestalten, dass jedes Kapitel normal endet. Dann dachte ich, das mir auch das nicht reicht. Dann macht man eben Comics, die aus drei, vier oder noch mehr Kapiteln bestehen oder baut Kapitel, die sich aus mehreren Heften zusammensetzen. Heute spielen diese Seitenzahlen keine Rolle mehr. Im Hardcover kann ich eine Geschichte aus beliebig vielen Seiten zusammensetzen. Seitdem benutze ich die »Palookaville«-Ausgaben wie einen Blog. Ich stelle einfach Dinge zusammen, an denen ich gerade arbeite. Später werden sie dann in eine endgültige Form gebracht, die ich bereits im Kopf habe. Ich bin sicher, dass es für Leser:innen einen Unterschied macht, weil man jeden der einzelnen Abschnitte als eigenes Werk sieht. Aber das täuscht, für mich sind sie einfach nur Teil dessen, woran ich gerade arbeite. Das Album, an dem ich gerade arbeite, wird nicht in Episoden erscheinen, sondern als komplettes Werk.

Clyde Fans. Drawn & Quarterly 2019. 488 Seiten. 59,95 $. Hier bestellen.

Sie sprechen hier von Ihren Memoiren mit den Objekten?
Ja. Das sollen um die vier-, fünfhundert Seiten werden, gerade bin ich bei knapp 200 Seiten. Es wird also noch ein paar Jahre dauern, bis das Buch fertig ist. Und ich möchte, dass die Leute alles in einem Rutsch durchlesen und alles auf einmal im Kopf haben. »Clyde Fans« ist über 20 Jahre lang verteilt erschienen, kaum jemand wusste noch, was da vor sich ging. Als dann die Geschichte als komplettes Buch erschien, war das für alle ein neues Leseerlebnis.

Die Geschichte der Matchcard-Brüder Abe und Simon läuft für mich auf die große Frage hinaus, welcher der beiden Brüder eigentlich in einer Fantasiewelt lebt. Der ältere Bruder Abe, der an die Idee eines fairen Marktes glaubte, oder der jüngere Simon, der sich an die Vergangenheit klammerte, weil er die Gegenwart nicht ertragen konnte? Was ist Realität und was ist Tragödie?
Keinem der beiden Brüder ist es gelungen, eine tragfähige Lebensgrundlage zu schaffen. Beide leben in einer Fantasie. Sie haben um sich herum eine künstliche Welt aufgebaut. Die Sympathien fliegen zu Simon, weil er der Zerbrechlichere der beiden ist, aber ich halte keinen von beiden für den besseren oder erfolgreicheren Menschen. Irgendjemand hat gesagt, dass »Clyde Fans« ein wirklich deprimierendes Buch sei, weil es auf jeder Seite nur um Versagen geht. Das stimmt. Ich habe es nicht deprimierend machen wollen, aber es fehlt Leichtigkeit. Es gibt keine Momente der Freude. Ich würde nicht noch einmal so düsteres Buch schreiben. Aber damals entsprach es meiner Vorstellung, wie das Leben so läuft. Meine Memoiren haben viel mehr Leichtigkeit, sind unbeschwerter. Ich glaube, sie spiegeln meine eigene innere Veränderung.

Mir scheint, Sie hegen eine Faszination für Menschen, die mit ihrer Zeit hadern. Gebrochene Figuren wie Abe und Simon Matchcard in »Clyde Fans«, »George Sprott« oder »Wimbledon Green«, deren Imperien unter den Herausforderungen ihrer Zeit zusammenbrechen.
Es ist wahrscheinlich immer die gleiche Geschichte. Wenn man jung ist, denkt man, dass man alle möglichen Bücher schreiben wird. Aber wenn man älter wird, merkt man, dass es immer wieder die gleiche Geschichte ist. Und aus irgendeinem Grund kann man sich die Geschichte nicht aussuchen. Das Buch, an dem ich gerade arbeite, ist auch wieder dieselbe Geschichte. Das war mir so nicht klar, als ich es begann. Am Anfang dachte ich, dass noch niemand so ein Buch gemacht hat, wie es beabsichtige. Aber als ich dann anfing, dachte ich schnell, dass es so ähnlich wie »Wimbledon Green« oder »George Sprott« ist. Dennoch ist der Ausgangsgedanke wichtig im Schaffensprozess. Man überlistet sich immer selbst, indem man von einer neuen Idee ausgeht, am Ende aber doch wieder dasselbe macht.

Aber woher kommt Ihre Faszination?
Ich schreibe wohl immer wieder dieselbe Geschichte, die meiner Eltern. Es ist diese Verbindung zu diesen alten Leuten, die mich antreibt, und die Beziehung, die ich zu ihnen habe. Sie waren komplizierte Menschen, und alles, was ich tue, tue ich mit ihnen im Hinterkopf. Natürlich komme ich da auch vor. Es scheint mir eine Form von Narzissmus, bei dem man immer wieder von sich selbst spricht. Denn letztlich bin ich mein Hauptthema. Mein Interesse an Gegenständen hat mit der Macht zu tun, die ich in sie investiere. Mein Interesse an meinen Eltern ist meine Beziehung zu ihnen. Ich gehöre zu den Künstlern, die sich mehr mit dem eigenen Leben und den eigenen Geistern beschäftigen. Es ist nicht so, dass ich Menschen nicht mag. Ich finde Menschen nett, aber ich brauche ihre Gesellschaft nicht zwingend. Ich habe keine Scheu, mit anderen zu reden, aber ich interessiere mich mehr für das Innenleben. Das Gefährliche daran ist die Einsamkeit. Davor muss man sich in Acht nehmen. Denn sobald sich Einsamkeit einschleicht, ändert sich alles. Dann wird dieses Innenleben schnell sehr unangenehm. Aber ich bin nicht einsam. Ich bin sehr glücklich. Ich habe meine Frau. Sie kümmert sich um alle Probleme, wenn ich mich einsam fühle. Wenn sie sterben würde, hätte ich ein Problem.

Ist Einsamkeit etwas, was Sie mit Ihren Eltern erlebt haben?
Meine Eltern waren sehr einsame Menschen. Das Leben war für beide eine Tragödie. Sie lebten in einer schrecklichen Ehe, waren wirklich unglückliche Menschen. Meine gesamte Kindheit bestand darin, zwei Menschen zu beobachten, die einander nicht ertragen konnten und dennoch ihr Leben miteinander verhandeln mussten. Ich mochte sie beide, obwohl ich meinem Vater sicherlich mehr Schuld zuschreiben würde als meiner Mutter. Als ich jünger war, war sehr wütend auf ihn. Das mag der Grund sein, warum so viele meiner männlichen Figuren als Heuchler entworfen sind. Aber wie für meinen Vater hege ich auch Sympathie für meine Figuren. George Sprott ist ein ebenso verwerflicher wie sympathischer Charakter. Ich lasse ihn nicht vom Haken, man sieht, wer er ist, mit all seinen Schwächen. So versuche ich mich zeichnerisch damit auseinanderzusetzen, wie man mit sich selbst zurechtkommt? Wenn man älter wird, bereut man oft sein eigenes Handeln. In meinen Memoiren will ich das auch verarbeiten. Meine 20er Jahre bereue ich am meisten. Ich habe das Gefühl, dass ich in der Zeit Menschen schlecht behandelt habe. Ich denke oft darüber nach, aber Fehler in der Vergangenheit kann man nicht korrigieren. Man kann sich entschuldigen, und ich habe mich oft entschuldigt, aber das ändert die Dinge nicht. Es ändert nichts an der Vergangenheit und macht einen nicht zu einem besseren Menschen. Klar, man ist ein besserer Mensch als der, der sich nicht entschuldigt. Aber es ändert nichts an den Verfehlungen der Vergangenheit. Sie existieren und der Umgang mit ihnen ist Teil der eigenen Lebensgeschichte.

Wenn Sie immer wieder die Geschichte Ihrer Eltern erzählen, frage ich mich, warum es so wenige weibliche Figuren in Ihren Comics gibt.
Es stimmt, ich schreibe keine Bücher über Frauen, nicht einmal Bücher für Frauen. Meine Comics handeln von Männern und die Frauen, die darin vorkommen, sind aus der Sicht eines Mannes geschrieben. Aber es gibt Frauen. Es gibt Frauen: die Mutter, die Geliebte, die Pflegerin. Das sind allerdings keine eigenständigen weiblichen Figuren, sie stehen immer in Beziehung zu den männlichen Figuren, über die ich schreibe. Ich kann mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen, ein Buch über eine Frau zu schreiben. Es wäre nur ein Buch über einen Mann, in dem ich eine Frau als Hauptfigur gezeichnet hätte, um so zu tun, als wäre es ein Buch über eine Frau. Das wird wahrscheinlich nicht passieren.

Was ist mit »Beaches«, einer Geschichte aus einer der ersten »Palookaville«-Ausgaben? Ist das nicht eine Geschichte für und mit weiblichen Charakteren?
Auch in »Beaches« geht es nur um eine Geliebte. Die Geschichte handelt von der Erfahrung eines Jungen. Als ich das Material für die Memoiren noch einmal anschaute, wurde mir bewusst, dass ich nie über ihre Position nachgedacht habe. Erst jetzt, mit 60 Jahren, denke ich: Ich war ein 17-jähriger Junge und sie war um die 30 Jahre alt. Sie schlief mit diesem 17-jährigen Jungen, der dann dachte, in diese Frau verliebt zu sein. Er hat damals ständig versucht, mit ihr in Kontakt zu treten. Sie hat das wahrscheinlich sehr belastet. Sie war eine verheiratete Frau, hatte ein Kind und eine Affäre mit einem anderen Mann. Mit dem 17-Jährigen zu schlafen war nur eine weitere Komplikation in ihrem ohnehin schon schwierigen Leben. Ich musste aber erst so alt werden, um das zu verstehen. Vorher habe ich mir keine Gedanken über ihre Situation gemacht. In meinem neuen Album heißt es: Wenn du deine eigene Geschichte schreibst, sind alle anderen nur Statisten. Du bist die Geschichte. Man zieht vielleicht jemanden hinzu, weil es interessant ist, aber in Wahrheit ist es das nur im Verhältnis zu einem selbst.

Die Canadian-Cartooning Trilogy

Das neue Album habe auch ich wie einen Blog gelesen. Neben Fotos und Skizzen gibt es auch einen Film »The Short Apology of Albert Batch«. Gemeinsam mit »Wimbledon Green« und »The Great Northern Brotherhood of Canadian Cartoonists« bildet der Film etwas, das Sie die »Canadian-Cartooning Trilogy« nennen. Was ist das für ein Film?
Es ist ein kleiner Puppenfilm über einen Cartoonisten namens Albert Batch. Er wird in »The Great Northern Brotherhood of Canadian Cartoonists« kurz erwähnt. Ich betrachte diese drei Werke als eine geschlossene Welt von Figuren, die ich mir ausgedacht habe, als ich mich sehr für die Geschichte des kanadischen Cartoons und seine imaginäre Geschichte interessierte. Vieles davon geschah aus dem Stegreif, nahm seinen Anfang in meinem Skizzenbuch. Auch das Puppenspiel war reiner Zeitvertreib. Die Geschichte und das Puppenspiel kamen zufällig zusammen. Damals hatte ich mich für Zeichentrickfilme interessiert, habe dann aber das Interesse verloren.

Ist das nicht meist so?
Ja, man durchläuft verschiedene Phasen. Die Leute kennen mich immer nur von Dingen, die Jahre zurückliegen. Wenn man etwas veröffentlicht, ist man immer Jahre hinterher. Meine öffentliche Identität besteht darin, dass ich ein Typ bin, der sich für alte Comics interessiert, weil ich so viel damit zu tun hatte. Die Wahrheit ist, dass ich mich überhaupt nicht mehr so sehr dafür interessiere. Ich sammle keine alten Zeichentrickfilme mehr oder Nachdrucke von Klassikern wie »Popeye«. Ich verbringe fast meine ganze Zeit mit Romanen. Wenn ich Fans treffe, habe das Gefühl, dass sie mit der Version von mir von vor zehn Jahren sprechen. Aber man ändert sich, man muss neue Arbeiten machen, um herauszukommen, und so baut man sich ständig eine neue Identität.

»The Short Apology of Albert Batch« | Foto: Luc Chamberland

Sie sind auch der Gestalter der John Stanley Library, der Werksausgabe von Doug Wright und von Charles M. Schulz »Peanuts«. Welche Bedeutung haben diese Künstler und ihre Werke für Sie? Wie haben diese Arbeiten Ihren Stil und Ihren Humor beeinflusst?
Jede Phase, die man durchläuft, ist eine Wachstumsphase. Man kann immer etwas von anderen lernen. Eine Zeit lang habe ich mich sehr für Edward Hopper interessiert. Heute denke ich kaum noch an Edward Hopper. Wenn mich jemand nach meinen Lieblingskünstlern fragen würde, käme mir Hopper nicht in den Sinn. Als Künstler ist man immer auf der Suche nach etwas Neuem, schaut sich von anderen Dinge ab. Vor etwa 20 Jahren interessierte ich mich sehr für einen kanadischen Künstler namens Thoreau MacDonald, der sehr kleine Federzeichnungen von Landschaften anfertigte. Das hat mich sehr beeinflusst. Auch McDonald schaue ich mir kaum noch an, aber das war eine sehr wichtige Phase, die mich von Robert Crumb zu Thoreau McDonald brachte. In solchen Phasen lässt man frühere Begeisterung immer hinter sich, aber man behält, was man in der Zeit gelernt hat. Irgendwann vergisst man, woher man was gelernt hat, und es wird einfach ein Teil von einem selbst. Manchmal schaut man sich aber auch alte Arbeiten an und erkennt den Einfluss von jemandem. Das ist Teil des künstlerischen Prozesses. Man nimmt Dinge auf, übernimmt sie und lässt sie in seine Arbeit einfließen. Irgendwann kommt man an einen Punkt, an dem all das Geklaute verloren geht, sich vermischt und zu etwas Neuem wird.

Band 1-9 der von Gregory Gallant betreuten Werkausgabe von Charles M. Schulz’ »Peanuts«

Mir sind mehrere »Keep On Truckin«-Zitate in Ihrer Arbeit aufgefallen.
Ich liebe Crumb, aber er ist jetzt total out. Er ist politisch sehr unkorrekt. Aber er ist einer der wenigen Künstler, für die ich auf eine Bühne gehen und sie verteidigen würde, wenn ich müsste.

Haben Sie über dieses aufgreifen und anvertrauen auch Ihren erkennbaren Stil entwickelt, diese Kombination aus runden Strichen und matten Farben, Rhythmus und Raum?
Genau so, ohne dass ich exakt beschreiben könnte, von wem was kommt. Wenn ich die Künstler aufzähle, die mich interessieren, führt uns das in die Vergangenheit. Für mich war Charles M. Schulz sehr wichtig. Seinen Rhythmus, diese Fähigkeit, Ruhe in den Strips zu haben, habe ich schon als Kind bewundert. Aber darüber habe ich damals nicht nachgedacht. Mit 15 habe ich Jack Kirby kopiert, der bis heute einer der wichtigsten Zeichner ist. Das wird viele überraschen, weil man Jack Kirby in meinen Zeichnungen kaum wiederfinden wird. Später entdeckte ich Hergé und Yves Chaland. Von Chaland habe ich gelernt, wie man den Pinsel benutzt, bei Hergé habe ich abgeschaut, wie er die Landschaft in seinen Werken einsetzte. Dann beschäftigte ich mich mit den Cartoonisten des New Yorker und ihrer Ästhetik der Pinselführung, den grauen Schattierungen und ihrer Komposition eines Gag-Cartoons.

So könnte ich immer weitermachen: Daniel Clowes, Chris Ware, Chester Brown, Robert Crumb bis hin zu Künstlern wie Edward Hoppy. Ich käme problemlos auf über einhundert Leute, aus deren Arbeiten man immer etwas lernen kann. Als ich 20 Jahre alt war, habe ich mich gefragt, wie ich einen eigenen Zeichenstil finden könnte. Ich kann mich daran erinnern, dass ich mich hingesetzt habe und einen Strip im Stil von Edward Gorey gezeichnet habe, und dann habe ich etwas ausprobiert, das eher dem Stil von Gilbert Hernandez entsprach.

Die »Beaches«-Story erinnert an die Hernandez Brothers.
Ja, ich war ein großer Fan der Hernandez-Fan. Als junger Zeichner denkt man noch, dass man sich einen Stil aussucht. Bis man begreift, dass es der Stil ist, der dich aussucht. Es passiert einfach. Und irgendwann wird man ihn auch nicht mehr los. Man kann ihn zwar ändern, aber das ist ein sehr langsamer Prozess der Veränderung.

Wie kommt es, dass Blau Ihre Lieblingsfarbe ist?
In meinen Anfängen mit Chris Oliveros konnten wir uns keine Farbe leisten. Ich fragte: Kann ich einen Grauton haben? Er meinte, ja, wir können einen Grauton machen. Dann sagte er irgendwann, ich könnte eine Farbe haben. Ich wählte Blau, denn Blau schien eine melancholische Farbe zu sein. Auch wenn ich inzwischen auch andere Farben verwende, ist Blau meine Lieblingsfarbe geblieben. Blau ist die Farbe, mit der ich am häufigsten arbeite.

Als ich Ihre Kurzgeschichten las, war die Farbpalette für mich wirklich irritierend, fast schockierend.
Ich bin im Laufe der Jahre immer heller geworden. Ich habe eine Menge Cover für Taschenbücher gemacht, und die wurden immer heller und heller. Ich habe mich bis zu einem gewissen Grad von den matten Farben entfernt, mit denen ich früher immer gearbeitet habe.

Auszug aus »Palookaville #24«

Seit Sie sich für Comics interessieren, hat die Kunstform einen kulturellen Aufschwung erlebt. Zuerst sah es so aus, als würde sie komplett aussterben, Comicläden wurden geschlossen und so weiter. Wissen Sie, was dann passiert ist?
Ich kann nicht erklären, was passiert ist, aber ich weiß noch genau, wann es passierte. In den späten 90er Jahren lief es ziemlich schlecht, und Chris Oliveros sprach mit uns darüber, dass Drawn & Quarterly vielleicht dichtmachen muss. Auch Fantagraphics ging es damals sehr schlecht. Sie begannen damals ihre pornografischen Comics, um sich zu retten. Chester Brown und ich dachten darüber nach, wieder auf Xerox-Druck umzusteigen. Wir waren darauf vorbereitet. Ich hatte damals mit Comics sowieso nicht viel Geld verdient, das meiste verdiente ich als Illustrator. Aber es sah wirklich düster aus. In den späten 80er und frühen 90er Jahren gab es eine echte Begeisterung für Underground Comics, alle dachten, dass es so funktionieren würde. In den 90ern schrumpften die Verkäufe dann stetig. Als der Crumb-Film von Terry Zwigoff Mitte der 90er herauskam, bekam er eine Menge Aufmerksamkeit. Und innerhalb von ein paar Jahren wurden Comics zum kulturellen Mainstream.

Vielleicht gibt es eine Verbindung zwischen Kino und Comics. Hier in Deutschland gab es um die Jahrtausendwende eine Welle von Animationsfilmen. Hayao Miyazaki gewann einen großen Preis bei den Berliner Filmfestspielen und so weiter. Vielleicht war das eine Gelegenheit.
Vielleicht war es aber auch der Höhepunkt einer sehr langsamen Invasion. Nachdem Spiegelmans »Mouse« herauskam, nahm die Aufmerksamkeit für Comics in Nordamerika langsam zu. Um die Jahrtausendwende begannen die Medien, über Comics zu berichten. Es gab Artikel in der New York Times, in einigen wichtigen Magazinen, wo das vorher nicht üblich war. Es wurde plötzlich über Comics als ernsthafte Kunst diskutiert. Jetzt haben wir wieder etwas an Boden verloren. Comics sind allgegenwärtiger als jemals zuvor, sind auch billiger geworden. Es gibt eine Menge Schrott.

Ein Teil Ihrer Arbeit ist anderen Comic-Künstlern und ihren Zeichnungen gewidmet. Es ist, als ob Sie gegen deren Vergessen arbeiten. Haben Sie selbst auch Angst, eines Tages vergessen zu werden?
Ja, das habe ich. Aber ich bin da realistisch. Ich werde vergessen werden. Jeder wird vergessen werden, auch Künstler und Schriftsteller. An wen erinnert man sich schon noch, das ist ja eine kleine Anzahl von Menschen. Wenn sich in hundert Jahren noch ein Sonderling für mich interessiert, bin ich mehr als happy. Aber ich erwarte nicht, dass man sich in hundert Jahren noch an mich erinnert. Künstler belügen sich in dieser Hinsicht selbst. Alle hoffen, nach dem Tod bedeutsamer zu sein als zu Lebzeiten. Künstler ist der einzige Beruf auf der Welt, bei dem man nach dem Tod erfolgreicher sein kann als zu Lebzeiten. Also klar träume ich still und leise davon, dass jemand meine Bedeutung erkennt, wenn ich tot bin. Aber die Chancen sind allerdings sehr gering, heutzutage wird viel zu viel produziert. Umso schwerer ist es, kulturell bedeutsam zu bleiben. So bedeutsam wie Shakespeare zu sein, ist natürlich sehr selten. Danach kommen Künstler wie Henry James, ein sehr bekannter und respektierter Autor. Er wird wahrscheinlich noch hundert Jahre lang bekannt sein, obwohl kaum noch jemand Henry James lesen wird. Genauso wenig wie heute noch jemand Stücke von Francis Bacon liest. Viele kennen nur noch den Namen. Bei den Malern ist es vielleicht etwas besser, man muss weniger investieren, um sich El Greco anzuschauen. Aber El Greco ist im Moment nicht angesagt. Seine Kunst ist immer noch eine Menge Geld wert, aber alles hat seine Zeit. Selbst für Madonna, die zu ihrer Zeit eine enorme Persönlichkeit war, wird in 100 Jahren niemand mehr interessieren. Die berühmteste Sängerin des späten 19. Jahrhunderts war Jenny Lind. Wer spricht heute noch über Jenny Lind? Oder über Sarah Bernhardt, die bedeutendste Schauspielerin ihrer Zeit. Die Leute hätten ihr auf der Straße die Füße geküsst. Aber niemand interessiert sich mehr für sie. Ruhm ist sehr kurzlebig. Auch wenn die Vorstellung der Nachwelt für einen Künstler sehr verlockend ist, muss man realistisch sein. Wahrscheinlich wird man sich nicht an mich erinnern. Ich arbeite also für das Jetzt, nicht für die Nachwelt.

Finale Doppelseite in »Wimbledon Green«

Vielleicht wird man sich an Ihre Arbeit erinnern. Ich erinnere mich an das letzte Bild von »Wimbledon Green«. Darauf ist der Schatten des Helden größer als sein eigentlicher Körper. Vielleicht ist das das Schicksal eines jeden Künstlers, dass der künstlerische Schatten, das Werk, größer ist als er selbst.
Das ist wahrscheinlich wahr. Eine Person ist weniger interessant als ihre Kunst. Das Kunstwerk ist eine Schöpfung und hat etwas sehr Mächtiges an sich. Es gibt einen guten Grund, Künstlern nicht zu begegnen. Man muss nicht alles wissen, um das, was sie geschaffen haben, zu behalten. Ich habe zwölf Jahre meines Lebens damit verbracht, die Werke von Charles M. Schulz zu sammeln. Und ich bin dankbar dafür, dass nichts das je zerstört hat. Menschen zu treffen ist ziemlich riskant. Es ist sehr leicht, sich alles kaputt zu machen.

Wenn Sie sich jemanden aussuchen könnten, der einen Comic über Ihr Leben und Ihre Arbeit zeichnen würde. Wer würde das sein?
Hmm, das ist eine gute Frage.

Sie könnten sich selbst wählen.
Nun, dann würde ich mich natürlich selbst wählen. Aber wenn ich eine andere Person wählen müsste, ist das wirklich schwierig. Ich traue anderen Cartoonisten nicht. So wie Chester Browns mich sieht, wäre das schwierig auszuhalten. Ich würde es nicht mögen. Wenn ich an die Cartoonisten denke, deren Arbeit ich mag, bin ich mir nicht sicher, ob ich möchte, dass ihre Aufmerksamkeit auf mich gerichtet ist. Mir fällt keine einzige Person ein, der ich vertrauen würde. Ein Zeichner ist für mich etwas ganz anderes als ein Schriftsteller. Wenn jemand zu mir käme und sagte, er wolle eine Biografie über mich schreiben, wäre ich nicht so besorgt. Aber ein schlechter Comic geht mir persönlich nahe. Selbst einige meiner Lieblingscomiczeichner wie Chris Ware oder Ben Katchor könnten keinen guten Comic über mich machen. Zumindest keinen, der mir gefallen würde.

Warum?
Es ist immer seltsam, wie jemand anderes einen sieht. Ich bin einfach nicht scharf darauf.
Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Es war mir ein Vergnügen.

Die Fotos in diesem Text stammen aus einem Blogbeitrag von RickMcGinnis.

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