Comic

Ein selbstherrlicher Blick zurück

Was hat das Genre des »Graphic Memoir« nicht schon an kunstvollen Werken hervorgebracht? Marjane Satrapis »Persepolis«, Alison Bechdels »Fun Home«, David B.s »L’Ascenscion du Haut Mal«, David Smalls »Stitches«, Mimi Ponds »Over Easy«, Harvey Pekars »American Splendor« oder Art Spiegelmans »Mouse« sind nur einige der besten Beispiele. Nun erscheint mit »Amazing, Fantastic, Incredible. A Marvelous Memoir« ein überaus zweifelhaftes Biopic, in dem Comic-Ikone Stanley Martin Lieber alias Stan Lee auf seine Jahre bei Marvel Comics zurückblickt.

Für seine Erinnerungen hat sich Lee, der Ende Dezember seinen 93. Geburtstag feierte und kürzlich zu den dreißig für den Großen Preis von Angoulême nominierten männlichen Comicschaffenden gehörte (inzwischen ist die Abstimmung vollkommen freigegeben), Unterstützung gesucht. Peter David, Autor von Serien wie Hulk, Captain Marvel und Wolverine, hat mit Lee das Skript geschrieben, zeichnerisch umgesetzt wurden Lees Erinnerungen von Colleen Doran, Zeichnerin unter anderem von The Sandman, Wonder Woman und der Legion of Superheroes. Geholfen hat diese respektable Besetzung allerdings nicht, Amazing, Fantastic, Incredible ist ein selbstherrliches Machwerk, in dem sich der Autor der Fantastic Four und den legendären X-Men, von Hulk, Dr. Strange und Spider-Man als Superheld der Comicbranche präsentiert.

Schon auf dem Titel seiner Memoiren sieht man Lee in Jubelpose vor dem Gegenlicht eines grellen Scheinwerfers stehen, um ihn herum Blätter mit einigen der von ihm erfundenen Superheldencharaktere. Ein Cover, das repräsentativ für das ganze Werk steht, denn viel mehr als Blendwerk und schrille Selbstinszenierung bietet dieser Comic nicht. Schon auf der ersten Seite feiert sich Lee als »the featured star of a real, grown up book« und »the hero of my own life story« feiert.

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Auf den Folgeseiten macht das sogar noch ein wenig Sinn, denn dort erzählt er von seiner Kindheit inmitten der Weltwirtschaftskrise, vom Vater, der an der Arbeitslosigkeit verzweifelt und dem jungen Stan Lee, der schon in jungen Jahren beginnt, mit Gelegenheitsarbeiten seine Familie zu unterstützen. Hier beginnt ein Junge, sein forderndes Leben zu meistern. Aber schon hier beginnt die mythische Überhöhung dieses »Helden«. Lee erinnert sich, dass er als Kind viel gelesen habe. Mark Twain, Jules Verne und Edgar Allen Poe hätten es ihm angetan, Geschichten wie Tom Swift oder Tarzan of the Apes habe er verschlungen. Alles gut und schön. Dass aber der Junge, der wenige Seiten später wieder von Robin Hood schwelgt und sich in Ritter-Geschichten verliert, zeitgleich auch nahezu den gesamten Kanon der Weltliteratur inhaliert haben soll – von Victor Hugo über Charles Dickens und George Bernhard Shaw bis hin zu William Shakespeare – erinnert doch eher an Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung.

Stan Lee lässt in seinen Erinnerungen seine zweifellos einmalige Karriere als Comicautor Revue passieren, angefangen vom Assistenten bei Timely Comics bis hin zur Chairman Emeritus-Rolle und Kinomagnaten. Er begann ganz unten, als Kopierassistent von Joe Simon und Jack Kirby, die bei Timely für Captain America verantwortlich waren. Nach wenigen Monaten schrieb Lee mit »Captain America Foils the Traitor’s Revenge« seine erste Storyline für die Erfolgsserie. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er für die Training Film Division der US-Army, schrieb für die Air Force einen Marching-Song und zeichnete für die Bodentruppen in Europa ein Propagandaposter, auf dem er die Soldaten zum Schutz vor ansteckenden Geschlechtskrankheiten mahnte.

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An diese Wehrjahre schlossen sich die Lehrjahre an, in denen Lee mit den Folgen der Wertham-Debatte und dem daraus folgenden Regelwerk der Comics Code Authority (CCA) umzugehen lernen musste. Eine Anekdote, die sich ihm eingebrannt hat, ist die der Spiderman-Geschichte, in der er auf Bitten der amerikanischen Behörden eine Warnung vor dem Genuss von Drogen unterbrachte. Die CCA verhinderte die Veröffentlichung der Geschichte, nicht, weil darin einzelne Drogen erwähnt oder gar deren Anwendung dargestellt wurden, sondern allein weil das Wort »Drogen« darin vorkam. Der Verlag gab den Comic ohne CCA-Prüfsiegel heraus und leitete so den Beginn der späteren CCA-Reformen ein.

Lee stieß zu Timely/Marvel, als es dem großen Konkurrenten National/DC deutlich besser ging. Mit Batman, Superman und den Superhelden der Justice League landete die Konkurrenz einen bis dato einmaligen Comichit, während die in die Jahre gekommenen Marvel-Heros – etwa Carl Burgos’ Human Torch oder Captain America von Jack Kirby und Joe Simon – vor sich hindümpelten. Marvel-Gründer Martin Goodman war es, der Stan Lee überredete, die verbrauchten Helden als Team wiederzubeleben.

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Die Geburtsstunde der Fantastic Four, der von Jack Kirby gezeichneten Marvel-Alternative zur Justice League, war zugleich der Beginn des Aufstiegs einer ganzen Superhelden-Armee, mit der Lee und Marvel den US-Markt erobern sollten. Lees Charaktere hatten im Gegensatz zu den fehlerlosen DC-Helden eine menschliche Seite, waren tief im Inneren verletzt. Die Superheldenqualitäten von Peter Parker, Bob Banner oder Stephen Strange wurzeln in einem Trauma. Sie sind ihren Lesern ähnlich, die Identifikation mit unperfekten Figuren wie Hulk (ein Outcast), Spider-Man (ein ängstlicher Teenager) oder Sergeant Fury und seinen Truppen (von Angst und Wut getriebene GIs) fiel deutlich einfacher als die mit den perfekten DC-Helden.

Das Golden Age des Marvel-Verlags ist aber auch auf die für ihre Zeit genialen zeichnerischen Umsetzung durch Künstler wie Jack Kirby (Justice League, Thor, The Hulk, The AvengersNick Fury Agent of S.H.I.E.L.D, X-Men) oder Steve Ditko (The Amazing Spider-Man, Creeper, Dr. Strange) zurückzuführen. Beide verließen Stan Lee im Streit. Wer hofft, in dem Comic etwas zum Verhältnis zwischen Stan Lee und seinen Zeichnern zu erfahren, wird maßlos enttäuscht. Nahezu unangetastet bleiben auch die Streitigkeiten um die Urheberschaft der Superhelden-Comics. Anlass der Auseinandersetzungen war Lees spezieller »Marvel-style of comic scripting«. Statt eines ausgearbeiteten Storyboards hatte Lee den Zeichnern stets nur knappe Storylines übergeben. Die Zeichner entwarfen die eigentliche Geschichte in Bildern, Lee fügte Text und Dialoge erst nach dem elaborierten Art-Work von Ditko, Kirby und Co. ein.

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Dass Lee wie ein Grundschüler die Zeichnungen nur noch mit Texten ausmalte, hinderte ihn nicht daran, sich selbst zum Spin-Doctor zu erklären und seine Zeichner zu den Co-Autoren zu degradieren. Ein selbstkritischer Blick wäre angebracht, in Amazing, Fantastic, Incredible sucht man ihn vergeblich. Auch seine Ausführungen über die Beziehungen und Mechanismen in der Comicbranche, die er wie kein anderer kennt, bleiben oberflächlich. Stan Lee, der im Laufe der Jahre vom unbekannten Kopierassistenten über den verehrten Starautoren und anerkannten Verleger bis hin zum umjubelten Repräsentanten eines multimedialen Konzerns jede erdenkliche Rolle eingenommen hat, begnügt sich in seinem »Graphic Memoir« mit der Selbstbeweihräucherung als Ikone und Vater der »Marvel Magic«.

Vor allem die in der Selbstzufriedenheit entstehenden Lücken machen es unumgänglich, auf zwei andere Werke hinzuweisen, die bereits vor Jahren erschienen sind. Sowohl The Secret History of Marvel Comics (2012) von Blake Bell und Michael J. Vassallo als auch Sean Howes Marvel Comics: The Untold Story (2013) lassen hinter die Kulissen der Verlagsgeschichte blicken und beleuchten die Bedeutung der wichtigsten Marvel-Akteure. Während Bell und Vasallo die Rolle von Martin Goodman als gewieftem Verleger reflektieren (hier geht es zum Buch-Blog mit Updates und aktuellen Informationen), geht Howes in seiner nicht autorisierten (und deshalb umso glaubwürdigeren) Verlagshistorie auf die Hintergründe der einzelnen Serien und die Frage der geistigen Autorenschaft ein. Lees Beziehung zu Ditko und Kirby wird dort deutlich kritischer dargestellt, sein dreistes (aber letztendlich erfolgreiches) Reklamieren der Urheberschaft anhand von Korrespondenzen, Comic- und Interviewauszügen in einem anderen Licht dargestellt. Howes Blick ist ein notwendiges Korrektiv, will man einen ausgewogenen Blick auf Stan Lee erhalten.

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Amazing, Fantastic, Incredible. A Marvelous Memoir ist Stan Lees selbstgefälliges Comic-Selfie, in dem er sich als Ikone der Neunten Kunst in Szene setzen lässt und damit selbst schadet. Lee arbeitete neben Steve Ditko und Jack Kirby unter anderem auch mit Sol Brodsky, Artie Simek, John Byrne, Larry Lieber, John Romita, Bob Kane, Neal Adams oder Walt Simonson zusammen, aber seine Verdienste als Talentscout und Geschichtengeber verschwinden im Glanz der Selbstherrlichkeit.

Gleiches gilt für sein geradezu utopisches Gefühl der Community-Pflege. Mit der »Merry Marvel Marching Society« (M.M.M.S.) und später mit den »Fans of ol’ Marvel« (FOOM) gründete er die ersten erfolgreichen Comichelden-Fanclubs überhaupt, mit »The Voices of Marvel« rief er eine Art Fanzine-Podcast ins Leben, als noch niemand ahnen konnte, dass das mal Standard sein würde. Aber auch das geht in den schrill-bunten Ausführungen dieses dauergrinsenden Ich-Erzählers, die an comicale LSD-Trips erinnern, nahezu vollkommen unter.

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Stan Lee, Peter David & Colleen Doran: Amazin. Fantastic. Incredible. A Marvelous Memoir. Simon & Schuster 2015. 192 Seiten. 30 $. Hier bestellen

Auf den letzten Seiten erhalten Lesende noch einmal einen Überblick, welchen Promis er als Elder Statesman des Marvel-Universums über den Weg gelaufen ist. George W. Bush, Hillary und Bill Clinton, George Clooney. Er hat wohl auch mal Paul McCartney und die Band KISS getroffen. In der eigenwilligen Aufzählung der eigenen Bedeutsamkeitsbeweise darf natürlich auch der Stern auf dem Walk of Fame in Hollywood nicht fehlen, wo er schließlich die Filmsektion des Marvel-Medienkonzerns leitet. Konsequenterweise ist das auch nicht der Fall.

Dieses »Graphic Memoir« ist peinlicher Personenkult und stellt als solcher wohl die Schattenseite von Stan Lee heraus. Wer auch immer Bedarf hat, diese Kennenzulernen, bekommt hier die Gelegenheit.

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