Literatur, Roman

Das Leben, nur ein Windstoß

Anthony Doerr ist einer der größten Erzähler Amerikas. Für »Alles Licht, das wir nicht sehen« erhielt er im vergangenen Jahr den Pulitzerpreis für Literatur. Der Roman ist zweifellos eines der eindrucksvollsten und berührendsten Bücher, das vom Kampf ums Überleben und der Unmenschlichkeit des Krieges erzählt. Seine Besprechung bildet den Auftakt einer Doppel-Kritik-Reihe, deren Gegenstück von Sabine Blackmore auf dem Blog Litdocs erschienen ist.

Was ist das Leben angesichts von Krieg und Zerstörung? Diese Frage steht im Zentrum von Anthony Doerrs außergewöhnlichem historischen Roman, der in den USA von Lesern und Kritikern in den höchsten Tönen gelobt, in Deutschland bis heute weitgehend unter dem Radar der medialen Aufmerksamkeit hindurchgerutscht ist (auch zur Verwunderung des herausgebenden C.H.Beck-Verlags, dessen Literaturprogramm weiterhin unterschätzt wird). Das mag mit einer Ignoranz der hiesigen Kritik gegenüber nicht-deutschen Literaturpreisen zu tun zu haben, aber auch mit den abnehmenden Ressourcen für kulturelle Auseinandersetzung in den deutschen Medien. Dies zu diskutieren, muss an anderer Stelle erfolgen. Erst der Pulitzerpreis, mit dem Doerrs Roman nach Donna Tarts Goldfink ausgezeichnet wurde, hat die Aufmerksamkeit deutscher Medien auf den Roman gelenkt, auch weil er sich gegen einige Hochkaräter durchgesetzt hat. Neben Doerrs Weltkriegsroman waren Richard Fords hochgelobter Erzählungsband Frank (im Herbst 2015 bei Hanser Berlin erschienen), Joyce Carol Oates Prosasammlung Love, Dark, Deep und Laila Lalamis Roman The Moor’s Account im Finale von Amerikas wichtigstem Publikationspreis.

Doerrs über zehn Jahre hinweg entstandenen Roman (mehr dazu im Video am Ende des Beitrags)  muss man ganz ohne Übertreibung als literarische Sensation bezeichnen. Es gelingt dem US-Amerikaner, in seiner Geschichte über 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, einen völlig neuen Blick auf die Geschehnisse zu werfen. Es liegt an diesem Blick auf die Dinge, der alle Sinne auf die Wirklichkeit des Weltenbrands richtet und den Krieg in all seiner Gewalt und Brutalität vor dem inneren Auge der Lesenden entstehen lässt. Ein Roman, der das Donnergrollen hören, den Feuerqualm in den Augen spüren und das vergossene Blut riechen lässt, ist selten. Mit Das Licht, das wir nicht sehen liegt einer vor.

Doerr rückt zwei Personen ins Zentrum seines Romans. Dies ist zum einen die blinde Marie-Laure, die mit ihrem Vater, einem Angestellten des Pariser Naturkundemuseums, aus dem besetzten Paris in die Bretagne flieht. Zum anderen ist es der technikbegeisterte Waisenjunge Werner, der mit seiner Schwester in einem Heim des Zeche Zollvereins aufwächst und für Hitlers Napola-Einheit entdeckt wird. Doerr erzählt von der Wirklichkeit des Krieges aus der Perspektive der beiden Kinder, indem er nah an ihnen dran bleibt, die Geschehnisse um sie herum beobachtet und beschreibt.

Den beiden Kindern hat der Amerikaner zwei erwachsene Nebenfiguren zur Seite gestellt, die eine tragende Rolle für den fantastischen Stoff dieses Romans erhalten. Marie-Laures Vater Daniel LeBlanc ist der leitende Schlosser des Pariser Muséum national d’Histoire naturelle und ein Filou, wenn es um das Bauen von Verschlusssystemen geht. Außerdem ist er ein begeisterter Verfechter der noch jungen Technologie des Radios. Heimlich schreibt dieser französische Ernst H. Gombrich kleine Hörstücke über die Geschichte der Welt, die er über einen selbstgebastelten Sender in die Welt funkt. Als er mit seiner Tochter vor der heranrückenden Wehrmacht aus Paris flieht, bekommt er vom Direktor des Naturkundemuseums einen wertvollen Diamanten, den er vor dem Zugriff der Deutschen in Paris in Sicherheit bringen soll. Der Stein, der über eintausend Jahre alt sein und von Japan über Indien nach Frankreich gelangt sein soll, wird als »Sternsaphir« und »Meer der Flammen« beschrieben. Man sagt ihm nach, dass sein Besitzer den Tod nicht mehr zu fürchten braucht. Ob Marie-Laures Vater den echten Stein oder nicht eine der drei Kopien im Gepäck hat, die das Museum hat anfertigen lassen, um die Deutschen vom original abzulenken, wird im Laufe der Erzählung immer weniger klar. Es ist aber auch immer weniger wichtig, denn der Mythos des Steins trägt dazu bei, dass der Stein in LeBlancs Gepäck gleichermaßen seine schützende wie gefahrbringende Wirkung entfaltet.

Anthony Doerr: Memory Wall. Von Anthony Doerr. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. C.H.Beck Verlag 2016. 135 Seiten. 14,95 Euro. Hier bestellen

Gefahrbringend deshalb, weil die Deutschen diesen Stein in ihren Besitz bringen wollen. Den Sonderauftrag, ihn zu finden, hat Feldwebel Reinhold von Rummel erhalten, der einige Expertise im Bereich der Mineralogie mitbringt. Vor allem aber bringt er ein persönliches Anliegen mit, von dem niemand weiß. Von Rumpel ist schwer krebskrank, er hofft auf die magische Wirkung des Steins, wenn er in seinem Besitz ist.

Die Erzählstränge dieser vier Personen – Daniel LeBlanc wird von deutschen Soldaten verhaftet und in ein Arbeitslager ins Elsass verlegt – schneidet Doerr in Blitzlichtern gegeneinander, so dass der Leser zwischen den Erlebnissen und Erfahrungen der wichtigsten Protagonisten hin- und hergeworfen wird. Dabei durchbricht Doerr in übergeordneten Kapiteln immer wieder die Chronologie, springt aus dem Jahr 1944 zurück ins Jahr 1934, dann wieder vor in den Sommer 44, um dann wieder zurückzublicken zu den Ereignissen 1940 und so weiter. Stilistisch klingt dieses Vorgehen komplizierter als es sich schlussendlich liest. Diese etwas artifizielle Komposition ist mutmaßlich Konsequenz von Doerr literarischer Heimat, die in der kurzen Erzählung liegt. Sein Erzählungsband Der Muschelsammler oder die im Frühjahr erscheinenden Novelle Memory Wall (im Original bereits 2010 in einer gleichnamigen Textsammlung erschienen) belegen dies eindrucksvoll. Und auch sein Roman liest sich wie eine Sammlung zusammengestellter Szenen, die von der übergreifenden Abenteuergeschichte der Jagd nach dem goldenen Fließ in Form des mythenumrankten Edelsteins zusammengehalten werden.

Der Roman setzt in der nordfranzösischen Küstenstadt Saint Malo ein (das Titelbild zeigt nicht Saint Malo, sondern Saint-Servan, Umschlagplatz und Fischhafen der Kommunen Saint-Malo, Paramé, Saint-Servan im Jahr 1944), als sich dort der Krieg im August 1944 zuspitzt. Die Stadt wird von den deutschen Bombern stark zerstört werden. Während Marie-Laure den Bombenhagel allein im Haus ihres inzwischen verschwundenen Onkels erlebt, irren Werner und Feldwebel von Rumpel auf der Suche nach dem Diamanten durch die zerbombten Straßen. Was folgt sind die erwähnten Vor- und Zurückblenden inklusive Ortswechsel, bei denen die lineare Erzählung vollständig in ihre Bestandteile aufgelöst und das Chaos des Krieges auf die Erzählstruktur übertragen wird.

Dabei schafft Doerr Platz, um in Miniaturen seine Figuren und ihr Innenleben zu beschreiben und beispielsweise erklärt, was die Erblindung für das junge Mädchen ganz unabhängig vom heranrückenden Krieg bedeutet. »Was ist Blindheit? Wo eine Mauer sein sollte, greifen ihre Hände ins Leere. Wo nichts sein sollte, läuft sie gegen einen Tisch. Autos brummen durch die Straßen, Blättern flüstern am Himmel, Blut rauscht durchs Innenohr.« Die Beschränkung der Erzählperspektive der Marie-Laure-Kapitel auf die sinnliche Wahrnehmung, die Übernahme dieser Beschränkung durch den allwissenden Erzähler, gibt diesem Roman eine besondere erzählerische Kraft.

Anthony Doerr: Der Muschelsammler. Aus dem Amerikanischen von Barbara Rojahn-Deyk. btb Verlag. 256 Seiten. 9,99 Euro. Hier bestellen

Diese sinnlichen Ausführungen überträgt Doerr auch auf die Handlung rund um Werner, der mit seiner Schwester als Waisenkind in einem Kinderheim des Zeche Zollvereins aufwächst und dort Zeuge der keimenden »Blut und Boden«-Ideologie der Nationalsozialisten wird. Auch hier arbeitet er ausführlich mit zahlreichen akustischen, sensorischen und olfaktorische Signalen, die in konventionellen Romanen oft ausbleiben. Die Bilder, die dabei entstehen, sind jedoch nicht immer überzeugend. »Aus den Lautsprechern überall auf dem Gelände der Zeche Zollverein wächst die Stakkatostimme des Reichs wie ein unerschütterlicher Baum, und die Untertanen beugen sich zu seinen Ästen hin, als wären es die Lippen Gottes.« Wer beugt sich schon zu Ästen, um Lippen zu küssen?

Faszinierend ist aber, mit welcher Leichtigkeit Doerr diese Erzählung auch in der Dunkelheit des Krieges zum Leuchten bringt. Dies gelingt ihm auch deshalb, weil er im Gegensatz zu vielen anderen Romanen, die im Krieg verortet sind, das normale Leben inmitten des tobenden Krieges nicht vergisst. Denn es sind die stillen, unspektakulären Momente, in denen die anfangs gestellte Frage nach der Bedeutung des Lebens aufkommt. Inmitten des Krieges brennt sich in Werners Gedächtnis ein Bild ein, das er bis zum Schluss nicht vergessen wird. Es ist das eines schaukelnden Mädchens, dessen Anblick »ein Ventil in Werners Seele« öffnet. »Das ist das Leben, denkt er, das ist es, warum wir leben, an einem Tag wie diesem, wenn der Winter seinen Griff lockert, so zu spielen.«

Natürlich kann es bei dieser Schönheit des Moments nicht bleiben, das Leben wird auch in dieser Situation jäh aus seinen Angeln gerissen und der Junge hineingeschleudert in den apokalyptischen Reigen des Nationalsozialismus. Das Schicksal spült ihn aus dem Kinderheim direkt in die Arme der Napola, für deren Drill Doerr eindrucksvolle Metaphern findet. »Sie alle sind ein Haufen Ton, und der Töpfer, der füllige Anstaltsleiter mit dem glänzenden Gesicht, formt daraus vierhundert identische Gefäße.« In diese Gefäße schüttet der Nazistaat Drill, Gehorsam und Ideologie, bis sie überschwappen, zu stumpfen Kampfmaschinen werden und »in einem Geist [agieren], der sie benommen macht und blendet: Als wollten sie eine mächtige, alles erfassende Flutwelle des Zorns abwenden, indem sie sich fortwährend an Härte, Drill und glänzendem Stiefelleder berauschen.« Werner steht diesem Kadavergehorsam kritisch gegenüber, längst hat er begriffen, dass er und seine Kameraden nicht mehr sind als notwendiges Kanonenfutter für den Führer sind. Sie sind diejenigen, »die ans Förderband treten und hinaufsteigen«, den Todesfall für seinen Wahn zahlen.

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Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. C. H. Beck 2015. 528 Seiten. 19,95 Euro. Hier bestellen

Auch wenn nicht alle Sprachbilder überzeugen (hier finden Sie eine auf dem Original basierende Rezension des Buches von unserer Autorin Dr. Sabine Blackmore), finden sich einige starke Metaphern in dem Roman. Etwa wenn Werner die Züge nach Osten an der Erziehungsanstalt vorbeifahren hört und es dann heißt, »die Katapulte der Geschichte poltern vorbei«. Oder wenn Marie-Laures Onkel Étienne ihr nahezubringen versucht, dass er sich nicht im Widerstand engagieren will, weil dieser das Morden nur fortsetze und der zweite Weltkrieg schon zu viele Opfer gekostet habe. »Wenn all die Toten in einer Reihe gingen, würden sie elf Tage und elf Nächte lang an unserer Tür vorbeigehen.«

Doerr lässt in seinem Roman aber auch den Keim Hoffnung, den es braucht, um diese Dunkelheit zu ertragen. Dieser kommt auf den leisen Sohlen der Weltliteratur daher, die Marie-Laure mit den Büchern von Jules Verne oder Alexandre Dumas verschlingt. Diese Geschichten tragen sie hinaus aus der Enge dieses Krieges und hinein in eine weite Welt, in der es noch Luft zu atmen und Entdeckungen zu machen gibt. Und wo sich das blinde Mädchen in die Weltliteratur flieht, sucht Werner Zerstreuung in den Radiohörspielen, die er als Kind mit Jutta auf dem selbstgebauten Kurzwellenempfänger gehört hat. Die Erinnerung an und die Suche nach diesen Geschichten geben ihm einen Rahmen, »auf dem man seine Träume weben konnte«, wie es im Roman heißt.

In diesen Hörspielen begegnet man auch erstmals der Erzählung vom »Licht, das wir nicht sehen«, die dem Buch seinen Titel gibt. Sie handelt von der Verwandlung von flüchtigen Sonnenstrahlen in gespeicherte Energie durch Pflanzen und ihrer anschließenden Carbonisierung unter dem Druck der Jahrmillionen. Diese Geschichte ist zugleich These und Antithese für das nationalsozialistische Deutschland, weil sie zum einen viel größer ist als die des tausendjährigen Reiches, zum anderen aber von der Grundlage der deutschen Kriegsindustrie handelt, mit der der Zweite Weltkrieg geführt wurde und ganze Völker in die Dunkelheit stürzten. So faszinierend schön dieser Schnipsel Erdgeschichte klingt, so verheerend sind seine Konsequenzen. Anthony Doerr erzählt in einer besonderen Weise davon.

Sein Roman ist zweifellos eines der eindrucksvollsten und berührendsten Bücher, das von der Unmenschlichkeit des Krieges und dem Kampf ums Überleben auf beiden Seiten erzählt.

Diese Rezension erscheint als Teil einer Doppel-Kritik, in Erinnerung an das Autor-Leser-Konzept zur Gedichtanalyse der Lyrikerin Hilde Domin, deren Gegenstück zeitgleich auf dem Literaturblog www.litdocs.de veröffentlicht ist. Hier geht es direkt zum hervorragenden Text von Sabine Blackmore.

3 Kommentare

  1. […] Die Hauptfigur in Spruyts Album ist Ludwig, der jüngere Spross des Freiherrn von Schlitt, einem ehemaligen Kavallerieoffizier, der für den preußischen König auf einer der unzähligen Schlachten, in die er für ihn gezogen ist, ein halbes Bein gelassen hat. Seine beiden Söhne – neben dem naiv-gehorsamen Ludwig der widerspenstige Oswald – genießen deshalb eine kostenfreie Ausbildung an der königlichen Militärakademie in Köslin, während ihre Mutter ihre Depression in Davos zu kurieren sucht. Während Oswalds militärische Karriere wie erwartet seinen Lauf nimmt und er als Kavallerist in die Fußstapfen seines Vaters tritt, überrascht vor allem der sensible Ludwig mit seinem sicheren Umgang mit so ziemlich jeder Schusswaffe. Diese Figur erinnert an den technikbegeisterten Napola-Schüler Werner in Anthony Doerrs Pulitzerpreis-Roman Alles Licht das wir nicht sehen. […]

  2. […] französischen und internationalen Geistesgrößten wie Georges Dumézil, Claude Lévi-Strauss oder Ernst H. Gombrich machte er sich einen Namen, international bekannt wurde er mit einer beeindruckenden Biographie zu […]

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