Comic

Eine Familie im Krieg

Tobi Dahmen: Columbusstraße | © Thomas Hummitzsch

Wie erzählt man von den physischen und psychischen Verheerungen des Krieges? Und wie schleichen sich Schuld und Traumata in Familienlinien ein? Der deutsche Comiczeichner Tobi Dahmen geht diesen Fragen in seinem monumentalen Comic »Columbusstraße« am Beispiel der eigenen Familie nach.

Wie ein Ziegelstein liegt dieses Album auf dem Schreibtisch, das schon in seiner physischen Form deutlich macht, dass es sich hier um eine gewichtige Lektüre handelt. Auf über 500 Seiten rollt der 1971 in Frankfurt/Main geborene Zeichner Tobi Dahmens die weit verzweigte Geschichte seiner Familie aus, deren Dokumentation ihren Anfang auf einer Zugfahrt nahm, bei der der in Utrecht lebende Zeichner seinen Vater zu seinen Kindheitserlebnissen im Krieg befragte. Die Aufnahme diente Dahmen nach dem Tod seines Vaters als Ausgangspunkt, den verschiedenen Geschichten seiner Ahnen nachzugehen. Briefe, Fotos und andere familiäre Hinterlassenschaften sind in seine akribische Recherche ebenso eingeflossen wie historisches Material – Zeitungsartikel, Dokumente und Berichte.

Tobi Dahmen: Columbusstraße. Carlsen Verlag 2024. 528 Seiten. 40,- Euro. Hier bestellen.

Dahmen ist vor allem für sein zunächst als Webcomic und später in Buchform veröffentlichte Coming-of-Age-Geschichte »Fahrradmod« bekannt, in dem er seinen eigenen Erinnerungen auf den Grund ging und das Porträt einer Generation zeichnete. Für seine neue Arbeit griff er auf eine Schachtel mit Unterlagen zurück, die er im Nachlass seines Vaters gefunden hat. Darin fand er Dokumente aus dem Ersten Weltkrieg, Briefe seiner Onkel von der Ostfront, Fotos und Erinnerungen seines Großvaters. Von dieser Sammlung aus machte er sich auf eine jahrelange Reise in die Vergangenheit seiner Familie, die er nun facettenreich und detailliert in seinem neuen Comic entfaltet.

Erzählerischer Ausgangs- und Fixpunkt der für den Max- und Moritz-Preis 2024 nominierten Geschichte ist das Elternhaus seines Vaters in der Düsseldorfer Columbusstraße, die dem Album nun ihren Namen gibt. Sein Großvater, der gläubige Katholik Karl Dahmen, arbeitet Anfang der dreißiger Jahre als Rechtsanwalt in Düsseldorf und übernimmt so manches Mandat, das man angesichts des aufziehenden Faschismus als politisch bezeichnen könnte. Aus diesen Mandaten politisches Engagement herauszulesen wäre zugleich aber auch zu viel gedacht, die bürgerliche Oberschicht beobachtet die gesellschaftlichen Umwälzungen mit Distanz. Statt sich einzumischen geht man wandern und philosophiert rechtsgelehrt über das, was um einen herum geschieht. Erst als die jüdischen Nachbarn ins Visier der Nazis geraten, die eigenen Söhne erst in die Kasernen und dann an die Front gerufen werden und die Alliierten die ersten Luftangriffe auf Düsseldorf und andere Städte fliegen, wird der Ernst der Lage auch für die nüchternen Juristen greifbar.

Auszug aus »Columbusstraße«

Da hat sich die Geschichte von Dahmens Familie aber schon über hunderte Seiten vor unserem Auge entfaltet. Wir haben den anderen Zweig der Familie im Osten des Reiches kennengelernt, der dort unter den Druck der Nazi-Herrschaft gerät. Wir sind den Onkeln von Dahmens Vater an die Fronten im Süden, Osten und Westen gefolgt und Zeuge der Kriegsgräuel geworden, die sie in ihren Briefen dann wiederum verharmlosen oder aussparen. Und wir erleben Dahmens Vater und seine Geschwister abseits der Kriegsgeschehen, weil sie im Zuge der Kinderlandverschickungen die Zeit der Bombardierungen in der Obhut eines friedensseligen Organisten und seiner Frau in Süddeutschland verbringen.

Die Vielzähligkeit der Perspektiven machen dieses mitreißende Album auch inhaltlich zu einer gewichtigen Lektüre. Vor allem, weil Dahmen den Blick durch Zeit und Raum schweifen lässt, so dass nicht nur die unterschiedlichen Lebensumstände zur Geltung kommen, sondern auch, wie diese den Blick auf die Ereignisse prägen. So entwickelt sich aus der politischen Distanz, die Karl Dahmen zum Naziregime anfangs einnahm, ein bürgerlicher Pragmatismus, der aus Wegschauen ein Tolerieren und dann ein Akzeptieren macht. 1935 tritt Karl Dahmen in die NSDAP ein.

Mods, Skinheads, Scooterboys – die britische Subkultur erreicht auch die Kleinstadt Wesel, in der Tobi in den Achtziger- und Neunzigerjahren aufwächst. Er wird Mod, übernimmt deren angesagten Style, hört Ska-Musik und sucht nach Anerkennung. Die Bewegung wird ihn nicht mehr loslassen, doch die Übergänge zu anderen Subkulturen sind fließend – und gefährlich. 

Tobi Dahmen: Fahrradmod. Carlsen Verlag 2024. 480 Seiten. 20,- Euro. Hier bestellen.

Tobi Dahmen gelingt mit seiner autobiografischen Coming-of-Age-Graphic Novel eine eindringliche Erzählung über die Liebe zur Musik, Jugendkultur und die Gefahr auf den falschen Weg zu geraten. Sein bewegendes Werk liegt nun erstmalig in einer wertigen Softcoverausgabe vor.

Es wäre ein leichtes, hier in moralische Urteile zu verfallen, aber Dahmen verzichtet darauf vollends. Statt zu urteilen zeichnet er so genau es geht das nach, was gewesen war und gewesen sein könnte. Auf der Bildebene ist das Ausmaß von Antisemitismus und Ausbeutung genau zu sehen: zerstörte Geschäfte, brennende Synagogen, ausgemergelte Zwangsarbeiter:innen. Tobi Dahmens Großvater und seine Zeitgenossen wussten, was um sie herum geschieht. Der pauschalen Ausrede, »Wir haben doch nichts gewusst.« schiebt der Zeichner mit klarem Strich unmissverständlich einen Riegel vor.

Überhaupt ist beeindruckend, mit welcher Akkuratesse und Detailreichtum der Zeichner Landschaften, Atmosphären und Wirklichkeit ins Bild gesetzt hat. Den Straßenlandschaften und Architekturen liegen historische Karten und Fotografien zugrunde, die bedrückende Atmosphäre spiegelt sich in Seitenarchitektur und Strich, die Wirklichkeit greift er in der halbrealistischen Abbildung von Briefen, Dokumenten und Gesetzestexten auf. Im Anhang findet sich ein seitenlanges Glossar, in dem der Zeichner historische Genauigkeit herstellt, Zusammenhänge aufzeigt und Hintergründe offenlegt.

Stilistisch lehnen sich die halbrealistischen Zeichnungen an die Tradition der franko-belgischen Schule und deren Fortentwicklung durch Zeichner wie Chester Brown, Joe Matt oder Seth an. Die Szenen in den Gräben lassen an Jacques Tardi erinnern, andere Bilder an Manu Larcenets »Zwischen den Fronten«. Dahmen kennt die Klassiker und beweist immer wieder seine Kunstfertigkeit.

Es ist nicht so schwarzweiß, wie wir uns das immer gerne vorstellen wollen. Diese Zeit besteht aus sehr vielen, meist sehr dunklen Grautönen.

Tobi Dahmen
Doppelseite aus »Columbusstraße«, die eher an Manu Larcenet als an Jacques Tardi erinnert

So entsteht ein historisches Panoptikum, das die Verfolgung durch das Nazi-Regime ebenso thematisiert wie das Mitläufertum des Bürgertums. Die brutalen Erlebnisse der Wehrmachtssoldaten an der Front greift Dahmen ebenso auf wie die Bombardierung der deutschen Großstädte durch die Alliierten. Die Kriegseuphorie der Massen steht neben den Traumata der Opfer. Bei aller notwendiger Differenzierung in den Details will Dahmen hinsichtlich der persönlichen Verantwortung der Mitglieder seiner Familie gar keine Missverständnisse aufkommen lassen, wie auch im Begleitinterview des Verlags zum Album deutlich wird.

»Ich musste aber auch tatsächlich einige Familienerzählungen an die Wirklichkeit angleichen, es ist nicht schön, was man in den Briefen liest, abgesehen von der Liebe für die Familie. War mein Großvater zwar ein Regimegegner, was vor allem mit seinem katholischen Glauben zu tun hatte, so war er aber auch wie so vie­le andere Nationalist und hatte Ressentiments gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Es schmerzt natürlich, sowas zu lesen. Er ist damit aber eben leider auch ein typischer Vertreter des katholischen Milieus dieser Zeit. Es ist nicht so schwarzweiß, wie wir uns das immer gerne vorstellen wollen. Diese Zeit besteht aus sehr vielen, meist sehr dunklen Grautönen. Die Brie­fe meiner Onkels sprechen ebenfalls eine deut­liche Sprache. Sie haben Schreckliches erlebt und sie hätten sicherlich lieber was anderes mit ihrem Leben angefangen, aber gleichzeitig sind sie beide nach Jahren der Indoktrination freiwillig in einen Vernichtungskrieg gezogen, in dem Millionen Menschen umgebracht wur­den. Und daran haben sie mitgewirkt, genauso wie die Menschen, die dieses System zuhause unterstützt haben, einem System, dem es immer nur um den Krieg und Vernichtung ging.«

Der Stammbaum gibt eine Übersicht, dennoch würde der komplexen Geschichte eine klarere Struktur für die verschiedenen Figuren gut tun.

Manchmal wünschte man sich in dieser mäandernden, von Schauplatz zu Schauplatz und Figur zur Figur schweifenden Erzählung eine klarere Regie. Zwar hält der Comic einen Stammbaum mit den handelnden Figuren vor, aber in der in Grautönen gehaltenen bräuchte es klarere visuelle Anker, um zu verstehen, in welcher Familienlinie man sich gerade befindet. Aber das ist erlässlich angesichts der Grundsätzlichkeit, mit der Dahmen aufzeigt, wie sich Krieg, Ideologie und Traumata in eine Familie fressen und sich dort wie eine Krankheit ausbreiten. Tobi Dahmens Familienalbum ist eine eindrucksvolle Chronik der deutschen Kriegsjahre, deren Erkenntnisgewinn enorm ist.