Comic

20 Jahre »Persepolis«

Die Exiliranerin Marjane Satrapi hat in ihrer autobiografischen Erzählung ihre Kindheit und Jugend in Teheran und Wien verarbeitet. Ihre Comicgeschichte machte dem eingeschränkten Blick auf den Iran und seine Menschen ein Ende und berührt auch noch zwanzig Jahre nach ihrem Erscheinen.

»Persepolis« ist das, was man gemeinhin einen Bestseller nennt. Weltweit hat sich die Kinderheits- und Jugendgeschichte von Marjane Satrapi über eine Million mal verkauft. Die Adaption als Animationsfilm schlug hierzulande nicht so ein wie in Frankreich, wo sie bei den Filmfestspielen in Cannes den Preis der Jury erhielt, oder in den USA, wo der Film bei der 80. Oscarverleihung in der Kategorie »Bester Animationsfilm« ins Rennen ging.

Die im deutschsprachigen Raum vor zwanzig Jahren in zwei Bänden erstmals veröffentlichte Erfolgsgeschichte erzählt in schlichten Schwarz-Weiß-Bildern vom Heranwachsen und Reifen der Autorin. Satrapis Feder entsprang jedoch sehr viel mehr als nur ein persönliches Resümee der eigenen Entwicklung. Ihr gelang es, das Bild einer Gesellschaft zu zeichnen, die gleichermaßen auf der Suche nach und der Flucht vor sich selbst ist. Dabei lässt sie die meist westlichen Lesenden tief in das Innere der iranischen Seele blicken und öffnet ihren von Vorurteilen verstellten Blick für das Iran hinter dem politischen Vorhang. Der Iran würde »aufgrund der Fehler einer extremistischen Minderheit« pauschal verurteilt, schrieb Satrapi schon damals in ihrem Vorwort zu ihrem ersten Band. Die jahrtausendealte Zivilisation der Meder und Perser, die Anlass zu Stolz auf diese Kultur gebe, würde oft vergessen. Diesen historischen Bezug macht schon der Titel deutlich, der den Namen der Hauptstadt des antiken Persien anführt, deren Ruinen heute zum Unesco-Weltkulturerbe zählen.

Satrapi geht es neben der Dokumentation ihrer persönlichen Geschichte auch um ein Geraderücken des schiefen Bildes einer unkritischen und schweigenden Masse in Schwarz, dass in der westlichen Welt von der iranischen Bevölkerung bis heute vorzuherrschen scheint. Dabei gelingt es ihr auf eindrucksvolle Weise, die innere Zerrissenheit zwischen Revolte und persönlicher Sicherheit, Selbstverwirklichung und zwanghafter Unterordnung, Aufbegehren und Gehorsam, Wut und Verzweiflung junger Menschen im Iran deutlich zu machen. Die schlichten Schwarz-Weiß-Bilder, in denen beide Comic-Bände gezeichnet sind, repräsentieren dabei sowohl den Kultur- und Werteverfall, der mit den Ereignissen und Zuständen des Iran seit der Revolution 1979 einhergegangen ist, als auch das voreilige Urteil von Gut und Böse, das über die Menschen im Iran immer wieder getroffen wird.

Der erste Band ihrer Erinnerungen widmet sich der »Kindheit im Iran« und schildert das Aufwachsen der Autorin während der iranischen Umbrüche in den ausgehenden siebziger Jahren. Er schildert eine Zeit, die trotz der alltäglichen Verfolgungen und Repressionen, erst durch das Schah-Regime und dann durch die Revolutionswächter, bei der kleinen Marji von faszinierender Lebensfreude und unschuldiger kindlicher Neugier geprägt ist.

Mit der Kindern eigenen, zuweilen naiven Empörung berichtet die zehnjährige Satrapi von den Vergehen und Verbrechen der beiden iranischen Regime vor und nach 1979, die bis in den unschuldigen Gedankenkreis eines zehn- bis vierzehnjährigen Mädchens vordringen (müssen). So bereitet die Lektüre ein Wellenbad der Gefühle, die den Leser zwischen den Höhen des Amüsements und den Tiefen der Wut und des Zorns schwanken lassen. So ist es mehr als beglückend zu sehen, mit welch erleichternder Frechheit die aufgeweckte Ich-Erzählerin den kindlich-pragmatischen Umgang mit den allgegenwärtigen Verpflichtungen und Verboten schildert. Nicht selten haben sich Marji und ihre Freundinnen einen Jux aus der abstrusen Regelungswut der Revolutionswächter gemacht. Auch das mit der Pubertät einsetzende Aufbegehren gegen die gesellschaftlichen Normen – begleitet von regen Debatten über die politischen und gesellschaftlichen Zustände mit ihren liberalen Eltern – von der ersten verbotenen Zigarette über das heimliche Kaufen von amerikanischer Pop-Musik auf dem Schwarzmarkt bis hin zu den absichtlichen Verstößen gegen die schulische Kleiderordnung befreien die Lesenden aus der schwarz-weißen Tristesse der naiven Zeichnungen.

Hart und schnell landet Satrapi jedoch auf dem Boden der Tatsachen, mit dem auch die Lesenden in nur wenigen Bildern konfrontiert wird. Es sind die menschenverachtenden Grausamkeiten der iranischen Revolutionsgarden, die hier einen herben, aber nötigen Aufschlag verursachen. Oder die bitteren Folgen des Krieges gegen den Irak, der in der Region nichts als Leid und Elend gesät hat.

»Der Krieg trifft einen immer unvorbereitet«, kommentiert Satrapi in ihrer grafischen Biografie das Geschehen, das sie vorher auf vielen Seiten ausbreitet: das sinnlose Schleifen der iranischen Männer im Krieg, das massenhafte Verbrennen iranischer Kindersoldaten in den irakischen Minenfelder, die Indoktrinierung der Mullahs, das Anziehen der religiösen Schraube und die Zerstörung der großen Städte auf beiden Seiten.

Um Marji ihr ein Leben zu ermöglichen, in dem ihr ihre Offenheit und jugendliche Rebellion nicht zum Verhängnis werden, schicken sie ihre liberalen Eltern 1984 nach Österreich. Hier setzt der zweite Band »Jugendjahre« ein. 14-jährig und mit den Erinnerungen an die existenziellen Kämpfe im Iran im Kopf lehnt sie anfänglich die westliche Dekadenz ab, verfällt jedoch zunehmend den alltäglichen Verlockungen. Ihr Freundeskreis besteht aus alternativen und linken Bekannten, die die sozialistischen Theorien umwälzen und dabei das wahre Leben, die großen und die kleinen Tragödien der Welt, völlig aus den Augen verlieren. Verstört findet sich Satrapi in einer Welt wieder, die mit ihrem bisherigen, tatsächlich existenziellen Dasein wenig zu tun hat.

Die schmerzhafte Erfahrung, dass ihre geliebte und verlassene Heimat in den westlichen Medien das Schlechte an sich repräsentiert, führt dazu, dass sie den Nachrichten aus dem Iran bewusst aus dem Weg geht. Die Entfremdung von der eigenen Heimat nimmt ihren Lauf. Die vielen Drogenexzesse, die Satrapi aus ihrer Wiener Zeit schildert, repräsentieren letztlich nur die verzweifelte Flucht vor der eigenen Geschichte. Die innere Zerrissenheit zwischen dem Willen zur Anpassung an das Leben ihrer Freunde und der fortbestehenden tiefen Verbundenheit mit dem Land ihrer Eltern wird in Wien zum ständigen Begleiter. Die enttäuschenden Erfahrungen oberflächlicher Freundschaften und der Ernüchterungen der Adoleszenz sowie der alltägliche Fremdenhass treiben sie in die Depression. So wird die junge Frau von einer inneren Einsamkeit gepackt, die das tatsächliche Exil weit in den Schatten stellte.

Nach vier Jahren in Wien, wo sie zuletzt auf der Straße gelebt hat, kehrt Satrapi nach Teheran zurück. Dort wartet ein vom Krieg zerstörtes Land auf sie, in dem die Straßen nach Märtyrern benannt sind und die Mütter mit Stolz dem sinnlosen Tod ihrer Söhne entgegensehen. Und wieder ist die junge Iranerin in ein Leben geworfen, dass mit den vergangenen Jahren wenig gemein hat. Sie leidet nun unter der Belastung, dass die in Wien erfahrene Zurücksetzung nicht mit den Kriegserfahrungen der Eltern und Bekannten mithalten kann. Und wieder fühlt sie sich außen vor. »Sicher, sie hatten mehr vom Krieg erlebt als ich, aber sie waren im Kreis ihrer Lieben, sie wussten nicht, was es heißt, eine Dritt-Weltlerin zu sein. Sie hatten immer ein Zuhause.«

Nur langsam findet sie einen Weg zurück in den Alltag. Erst die nahezu grenzenlose Liebe und Fürsorge ihrer Eltern, ihr Freund Reza und das Vorhaben, im Iran eine Universität zu besuchen, haben der jungen Frau wieder Lebensmut gegeben. Die größte Hürde für die Aufnahme in die Universität ist der dafür notwendige »Ideologietest«. Innerlich gefestigt und von den eigenen Ansichten überzeugt, stellt sie sich dieser Werteprüfung. Der Frage, ob sie denn auch während ihrer Zeit in Österreich das Kopftuch getragen hätte, entgegnet sie: »Nein, ich habe immer geglaubt, dass Gott uns kahl geschaffen hätte, wenn das Haar der Frau so ein großes Problem wäre.« Diese Ehrlichkeit hat ihr einen Platz an der Kunstakademie der Universität Teherans gesichert – fast zu schön, um wahr zu sein.

Wie leidenschaftlich Satrapi ihre Meinung vertritt, machte sie bei einer Belehrungsstunde der Revolutionswächter deutlich. Dort kritisiert sie die religiöse Kleiderordnung, unter der hauptsächlich Frauen zu leiden haben: »Sie sagen, dass unsere Kopftücher kurz sind, unsere Hosen unanständig, dass wir uns schminken, etc… Als Kunststudentin verbringe ich einen großen Teil meiner Zeit im Atelier. Ich muss mich bewegen können, um zu zeichnen. Ein längeres Kopftuch macht das noch schwieriger. Was unsere Hosen betrifft, sie sagen, sie seien zu weit, obwohl sie unsere Formen wirksam verbergen. Nun sind solche Hosen gerade modern und deshalb frage ich: Verteidigt die Religion unsere körperliche Unversehrtheit oder ist sie einfach nur gegen die Mode? Sie zögern nicht, uns zu kritisieren, aber unsere Brüder hier zeigen ihre Formen und die unterschiedlichsten Frisuren. Manchmal tragen sie sogar enge Bekleidung, dass man sogar die Unterwäsche sieht. Wie kommt es, dass ich als Frau nichts empfinden soll beim Anblick wohlgeformter Männerkörper, während sie in Erregung geraten, wenn mein Kopftuch fünf Zentimeter kürzer ist?« Das selbst dieser Vorstoß der jungen Iranerin ohne negative Folgen bleibt, ist angesichts der religiösen Dogmen im Iran kaum zu fassen.

Ihre Beziehung kann und will sie jedoch nicht weiter geheim halten. Der Druck der Religiösen und die rigiden Strafen gegen uneheliche Paare veranlasst sie schließlich, Reza überstürzt zu heiraten. Sie muss aber schon bald einsehen, dass sie sich in ihm und er sich in ihr getäuscht hat. Beide trennen sich. Die gescheiterte Ehe ist letztlich nur der Gipfel des surrealen Daseins in einer kaputten Gesellschaft, in der die persönliche Freiheit und die allgemeine Toleranz keine Fürsprecher mehr haben. Als Satrapi im Alter von 21 Jahren ihr Land ein zweites Mal verlässt, um nach Frankreich zu gehen, endet ihre Erzählung.

Marjane Satrapi: Persepolis. Aus dem Französischen von Stephan Pörtner. Edition Moderne 2021. 356 Seiten. 25,00 Euro. Hier bestellen

Satrapis grafische Erzählung zeigt auf außergewöhnliche Art und Weise die familiären und persönlichen Herausforderungen, die die gesellschaftlichen Prozesse der iranischen Revolution mit sich brachten. Die persönlichen Schicksale und Geschichten – die sie in ihren beiden hervorragenden Comics »Sticheleien« (leider vergriffen) und »Huhn mit Pflaume« in den Jahren nach »Persepolis« vertiefte und erweiterte – repräsentieren in fabel-hafter Manier die iranische Tragödie als solche.

Die schlichten und einfachen Bilder führen den Leser in den Mittelpunkt des Geschehens. Die alltägliche Bedrückung des iranischen Lebens rückt einem im schlichten schwarz-weiß nahezu auf die Haut. Grafische Ausgestaltungen und Spielereien vermeidet Satrapi geschickt und bewahrt so den deprimierenden Eindruck eines innerlich wie äußerlich zerstörten Landes.

Und dennoch oder vielleicht erst recht macht sie deutlich, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten auch Momente des Stolzes, des Glücks und der Erfüllung gibt, weil es ohne diese Momente keine Kraft gäbe, diese Zeiten durchzustehen. Als Betrachter muss man nur bereit sein, sie zu sehen und wahrzunehmen. Dies hat gewiss nicht nur Marjane Satrapi getan, sondern auch Filmemacher wie Ashgar Farhadi, Jafar Panahi, Mohammad Rasoulof oder Mani Haghighi oder Autoren wie Mahmud Doulatabadi oder Amir Hassan Cheheltan. Marjane Satrapi aber ist die einzige, die dies auf so eindrucksvolle, bewegende und anrührende Art und Weise in Comicform getan hat. Dies ist nun ziemlich genau 20 Jahre her. Dass ihre Zeichnungen noch heute berühren, zeigt, wie universell und zeitlos ihre Geschichte ist, die nun in einer prächtigen Jubiläumsausgabe noch einmal in neuem Glanz erscheint.

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