Literatur, Roman

Manische Suche nach Antworten

Nachdem Ottessa Moshfegh Leser:innen ihres letzten Romans in ein bittersüßes Delirium gestürzt hat, spielt sie diesmal mit den Elementen eines klassischen Krimis, um der Einsamkeit einer alten Frau auf den Grund zu gehen.

»Wenn ich irgendetwas von Agatha Christie gelernt hatte, dann dass der Schuldige oft direkt vor der eigenen Nase zu suchen ist«, sagt sich die Vesta Guhl, die Hauptfigur in Ottessa Moshfeghs neuem Roman »Der Tod in Ihren Händen«. Den Titel darf man nicht wörtlich nehmen, das Cover in seiner klassischen Optik schon. Denn der neue Roman der in Boston geborenen Autorin ist nichts anderes als eine Spielerei mit dem Krimi-Genre. Im Kern aber nimmt sie sich hier eines Themas an, das schon im letzten Roman aufschien – der Auseinandersetzung mit dem Ich in Zeiten der Einsamkeit.

Im deutschsprachigen Raum ist »Der Tod in ihren Händen« der fünfte Titel, der von der US-Amerikanerin erscheint. Er folgt auf ihre packenden Erzählungen »Heimweh nach einer anderen Welt« und ihre Romane »McGlue«, »Eileen« und den für den Booker-Prize nominierten Roman einer Betäubung »Mein Jahr der Ruhe und Entspannung«. Für den deutschsprachigen Markt entdeckt wurde Moshfegh vom empfehlenswerten Münchener Liebeskind-Verlag, ihr neues Buch nun erscheint bei Hanser Berlin. Es ist, wie schon die Vorgänger, übersetzt von Anke Caroline Burger, die die Spiele ihrer Autorin mit den Perspektiven und Ebenen perfekt kennt und übertragen hat.

Die Geschichte handelt von Vesta Ghul, die sich nach dem Tod ihres Mannes Walter ein Häuschen mit Seeblick in der amerikanischen Pampa gekauft hat und dort zurückgezogen mit ihrem Hund lebt. Ihr verstorbener Mann ist dabei ein ständiger Begleiter, der gleichermaßen an- wie abwesend ist. »Von ihm war nur noch die Asche da, die im Obergeschoss in einer Bronzeurne auf dem Nachttisch stand.«

Ottessa Moshfegh: Der Tod in ihren Händen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Anke Caroline Burger. Hanser Berlin 2021. 256 Seiten. 22 Euro. Hier bestellen.

Beim Spazierengehen entdeckt sie eines Tages eine geheimnisvolle Notiz, aus der hervorgeht, dass eine junge Frau namens Magda ums Leben gekommen sein soll. Mehr nicht. Wer hat den Zettel dort platziert? Zu welchem Zweck? Sucht hier ein Zeuge Hilfe oder offenbart ein Mörder seine Tat? Aber wofür? Fragen wie diese stellen sich ein und die 72-Jährige versucht in Agatha-Christie-Manier – durch Recherche, Ableitung, Ausschluss und Mutmaßung – herauszufinden, was mit Magda passiert sein könnte. Und je mehr sie sich in die Geschichte vertieft, desto mehr geraten ihre Gedanken ins Kreisen.

Vor allem, weil es außer Andeutungen und Mutmaßungen kaum Hinweise auf irgendeine Tat oder einen Täter gibt. Einzig hilfreich scheint zu sein, dass der oder die Autor:in der Zettel, die Vesta findet, ein Freund der Lyrik zu sein scheint und sich selbst Blake nennt. In der örtlichen Bibliothek sucht die Rentnerin nach Hinweisen und stößt auf William Blake. »William Blake: Gesammelte Werke. Blake. Blake. Wie vom Donner gerührt stand ich mindestens eine Minute da, das Buch in der Hand. Was um alles in der Welt war hier los? Wie eine Reliquie, wie einen magischen Gegenstand hielt ich das Buch in der Hand und betrachtete den abgenutzten, roten Leineneinband.«

Abends sitzt Vesta wieder in ihrem Haus und ihre Gedanken drehen sich um die Frage, was mit Magda ist und was der Fall Magda eigentlich mit ihr zu tun hat. Ihr Leben, ihre zum Teil leidvollen Erfahrungen und ihre eigene Einsamkeit rücken mehr und mehr ins Zentrum der Erzählung, zumal irgendwann ihr Hund verschwindet und sie nun wirklich ganz allein ist. In der Schilderung dieser uferlosen Einsamkeit, in der Vesta nicht nur ihren Ängsten und Befürchtungen in der Dunkelheit der Nacht ausgeliefert ist, erhält dieser Roman echte Thrill-Elemente, ohne trashig zu werden.

Man könnte auch sagen, dass Ottessa Moshfegh nicht nur ihre Agatha Christie, sondern auch ihren David Lynch gut kennt. Geschickt wendet sie die klassischen Mittel von Suspense und Täuschung an, um das Hineinsteigern ihrer Hauptfigur in ein geradezu körperliches Bedrohungs- und Einsamkeitsgefühl zu schildern. Eine Bedrohung, die mutmaßlich weniger für die konkrete Situation als vielmehr für die existenzialistische Herausforderung des Alleinseins nach Jahrzehnten der – wenngleich auch nicht immer rosigen – Gemeinsamkeit steht. Und vor allem für die Frage, wie man Antworten auf Fragen findet, die man niemandem mehr stellen kann. Denn die Ehe mit Walter war alles andere als ein harmonischer Selbstläufer, wie sich herausstellt.

Ottessa Moshfegh: Mein Jahr der Ruhe und Entspannung. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Anke Caroline Burger. 320 Seiten. 12,00 Euro. Hier bestellen

Die Figuren in Moshfeghs Literatur sind so wie der Titel einer ihrer Kurzgeschichten: durchgeknallt. Sie sind oft radikal in all ihren Zügen, radikal offen, radikal in sich gekehrt, radikal eigen. So auch Vesta Guhl, die ihrer Welt nicht nur mit Misstrauen und Defätismus begegnet, sondern auch in jedem Zug deutlich macht, dass sie niemanden braucht. In dieser selbst gewählten Einsamkeit verliert sie mehr und mehr den Bezug zur Realität.

Man könnte sagen, »Der Tod in ihren Händen« ist ein ähnlicher Trip in eine Parallelwelt, wie es schon »Mein Jahr der Ruhe und Erinnerung« war, dieser Roman einer Frau, die aus der medialen Dauerbeschallung aussteigt und Winterschlaf hält. Mit diesem, ihrem dritten Roman, der – passend zur Corona-Krise – die Konsequenzen der (Selbst)Isolation einer Frau beschreibt und nun auch im Paperback erschienen ist, stieg Moshfegh endgültig zu einer der aufregendsten US-amerikanischen Stimmen auf. Betäubt von Pillen und Trash-TV döst die Heldin in diesem Roman ein Jahr vor sich hin, um in dieser Betäubung zu den eigenen Traumata zu finden.

Im Laufe des Romans geraten ein junger Mann und seine burschikose Mutter, die Bibliothekarin, die Kassiererin im Supermarkt, die zugegeben etwas seltsamen Nachbarn von Vesta Guhl und ein Priester mit Sendungsbewusstsein in das Visier der Hobby-Kriminologin – schließlich vermutet sie den Mörder ja im direkten Umfeld. Dabei werden Wahrheit und Einbildung mehr und mehr in den Strudel ihres Wahns gezogen, so dass man bald nur noch mittaumeln und sich den wilden Theorien der Vesta Guhl in diesem Mordfall ohne Leiche hingeben kann. In den Fragen, die sie an diesen Fall stellt, findet sie Antworten über sich selbst, nach denen sie nicht verlangt hat. Ottessa Moshfeghs Roman »Der Tod in ihren Händen« ist ein kluges Vexierspiel ohne Lösung. Aber zumindest der Hund ist am Ende wieder da.