Fotografie

Archivar des Absurden

03 Harald Hauswald, Fahnenflucht, 1. Mai-Demonstration, Alexanderplatz, Mitte, Berlin, 1987

In der Straßenfotografie von Harald Hauswald kann man entdecken, was die Politik verbergen will: wie weit Wunsch und Wirklichkeit auseinanderliegen. Und wie sich das Leben immer wieder durchsetzt, allen Widerständen zum Trotz.

Alexanderplatz steht auf dem Straßenschild, dass es unbedingt braucht, um dem Geschehen einen Ort zu geben. Denn Hauswald ist viel zu nah dran, als dass man irgendetwas Markantes erkennen könnte. Stattdessen ein Pulk aus Menschen und Fahnen, die durcheinander laufen. Die Unschärfe transportiert die Eile, die herrscht, bevor alle wie begossene Pudel im Regen stehen. Mit wehenden Fahnen fliehen die Demonstranten am 1. Mai 1987 vor dem Wolkenbruch. »Fahnenflucht« lautet der Titel dieser ikonischen Aufnahme, in dem schon vorweggenommen wird, was zweieinhalb Jahre später mit einem ganzen Land passiert.

Harald Hauswalds Bilder haben etwas Subversives, indem sie einem ganz eigenen Blick folgen und immer wieder Dinge ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit rücken, die der Allgemeinheit entgangen sind. Wer bleibt schon im strömenden Regen stehen und fotografiert eine sich auflösende Parade? Oder eine Gruppe Frauen, die sich abseits des Geschehens auf einer Bank ausruhen, darüber ein Plakat mit der Aufschrift »Frieden ist nicht Sein – sondern Tun!« Oder eine Pferdekutsche auf der Friedrichstraße?

Harald Hauswald, Konzert von Big Country, Radrennbahn, Weißensee, Berlin, 1988

Etliche solcher Aufnahmen finden sich in Harald Hauswalds Werkarchiv. Sie zeigen Momente, die aufgrund ihrer Alltäglichkeit, ihrer Normalität oder ihrer Winzigkeit normalerweise abseits der Wahrnehmung sind. Die wie Risse in der Leinwand kurz den Blick auf die Wirklichkeit schärfen und zeigen, was den Alltag in der DDR wirklich ausgemacht hat. Denn nichts anderes als diese Momente hat Hauswald mit seiner Kamera gejagt. Diese besonderen Momente und außergewöhnlichen Perspektiven hat er dem Alltag abgerungen, indem er ihm ständig auf der Spur blieb.

Über 7.500 Filme verschiedener Formate mit mehr als 230.000 Einzelaufnahmen hat er zwischen 1976 und 2016 belichtet. Dieser Bestand wurde vom Verein der Fotoagentur Ostkreuz, zu deren Gründungsmitgliedern Hauswald gehört, gesichert, archiviert und digitalisiert. Dieses Archiv bildet die Grundlage der Bilderschau, die im September in der C|O-Galerie eröffnet wurde und seit November zum großen Bedauern auf Besucher warten muss. Wie die Galerie mitteilte, wird die Hauswald-Ausstellung »leider kein weiteres Mal verlängert. Letzter Ausstellungstag wäre der 14. März, was aufgrund des bestehenden Lockdowns wenig Informationswert hat.«

Umso mehr lohnt es sich, an dieser Stelle über Hauswald zu sprechen. Hauswald ist das, was man gemeinhin einen Straßenfotografen nennt, mit der Einschränkung, dass der gesamte öffentliche Raum für ihn als Straße gilt. Strände, Wiesen, Jugendclubs, Fussballstadien, Züge, Spielplätze und Künstlerwohnungen zählten für ihn zum öffentlichen Raum, wie Kinder, Alte, Arbeiter, Bonzen, Intellektuelle, Sicherheitskräfte und Behinderte für ihn zur Gesellschaft gehörten. In Hauswalds Werk finden Sie alle zusammen.

Dass er ein besonderes Auge für die einfachen Leute hatte, beweist sein legendäres Foto aus der Berliner U-Bahn von 1986, auf dem drei Arbeiter zu sehen sind. Die drei Männer wirken apathisch, kraftlos, mürrisch, aber auch irgendwie alert. Als müssten sie der Welt, in der sie sich bewegen, mit Misstrauen und Griesgram begegnen. Mit dem Wissen um die Überwachung in der ehemaligen DDR scheint das nachvollziehbar. Noch viel verständlicher wirkt es, wenn man bedenkt, wie unmöglich im öffentlichen Raum Personenfotografie heute ist. Ein solches Foto wäre heute nahezu unmöglich.

Blättert man durch den sehr lohnenswerten Katalog zur Ausstellung »HARALD HAUSWALD. Voll das Leben« (über Anliegen, Besonderheiten und Entstehen von Katalog und Ausstellung informiert dieses Produktionsvideo), muss man diese erste Interpretation aber in vielfacher Hinsicht korrigieren. Denn dort befinden sich Kontaktbögen, aus denen hervorgeht, dass Hauswald die drei Arbeiter 1986 nicht einfach nur einmal aus nächster Nähe fotografiert hat, sondern gleich ganze sieben Mal. Es kann sich also nicht um eine heimlich aus dem Schoß geschossene Aufnahme handeln, sondern es ist ein ganz bewusst und im Wissen aller Beteiligten aufgenommenes Foto.

Wie heimlich gemachte Aufnahmen aussehen, zeigen Ausstellung und Katalog gleich zu Beginn. Dort wird Hauswald als »beobachteter Beobachter« in den Blick genommen. Zu sehen sind nicht Fotografien von Hauswald, sondern – neben Auszüge aus den Stasi-Akten – Schnappschüsse, die Hauswald zeigen, gemacht von den auf Hauswald angesetzten Spitzeln. Diese Bilder sind unscharf, ohne Perspektive und Schwerpunkt und letztlich auch ohne Interesse an dem fotografierten Subjekt. Es sind Nicht-Fotografien aus einem Staat, der seinen Bürgern misstraute.

Fotos, wie die von Harald Hauswald, entstehen nicht aus der Hüfte, sondern mit wachem Geist und der Kamera vor dem Auge. Deshalb bestechen seine Arbeiten bis heute durch ihre Vielfalt. Man folgt seinen weiten Blicken über Parkplätze, Straßenzüge und Neubauwüsten ebenso wie den detailverliebten Porträts und Momentaufnahmen, die auch immer wieder die skurrilen Momente der Wirklichkeit abbilden. So zeigt eine Aufnahme von der Demonstration am 1. Mai 1987, wie einige Männer ein großes, auf Rädern montiertes Transparent durch die Straßen ziehen, auf dem »Lieber Genosse Honecker! Unser Glückwunsch zur Wiederwahl – Sport frei!« zu lesen ist. Wenn schon eine manipulierte Wahl, dann soll auch der Glückwunsch inszeniert sein.

Ein anderes Bild zeigt marode Häuserfronten in der Dimitroffstraße (die heutige Danziger Straße im Prenzlauer Berg) und den Schriftzug »Wohnkultur« davor. Hier prallen politische Wunschvorstellung und gelebte Wirklichkeit so unmittelbar aufeinander, dass die politische Bedeutung dieser Fotografie offensichtlich werden muss. Denn natürlich geht es hier nicht um die Abbildung von morbidem Charme, wie er der DDR-Fotografie heute oft unterstellt wird. Das Marode und Kaputte hat hier nichts Romantisches, sondern etwas Existenzielles. Und damit auch etwas Revolutionäres.

Dass seine Fotografien bei all dem Dokumentarischen diese anklagende Perspektive bekamen, lag weniger an Hauswalds Blick als vielmehr an den Verhältnissen, unter denen er sich wider allen Ärgers traute, dann auf den Auslöser zu drücken, wenn die Wirklichkeit vor seiner Kamera aufschien. Denn der das Elend des real existierenden Sozialismus entlarvende Charakter seiner Bilder entstand nicht, weil er ihn permanent gesucht hat, sondern weil er allgegenwärtig war. Hauswald erkannte das nicht nur, sondern er verstand es wie kein anderer, der Propaganda des blühenden Sozialismus – und später der versprochenen blühenden Landschaften – die Wirklichkeit entgegenzusetzen. Es war seine Art, sich an den politischen Verhältnissen zu reiben. »Ich wollte den Sozialismus so zeigen, wie er nicht gezeigt werden wollte«, zitiert Lennart Laberenz Hauswald im dem Freitag.

Die hohlen Phrasen der politischen Versprechungen in den jeweiligen Dekaden seines Schaffens holt er immer wieder mit ins Bild. So wird selbst den unwissenden Betrachter:innen klar, dass hier der Fotograf auch zum Archivar des Absurden wird. Etwa wenn vor dem Transparent »Durch Bürgerfleiss. Schöner unserer Städte und Gemeinden – Mach mit« kein einziger Bürger zu sehen ist. Oder bei der Bikinischau beim Fest an der Weberwiese nur die Kinder der umliegenden Wohnblocks beiwohnen. Oder wenn beim Weihnachtsfest in der Berliner Dircksenstraße Knirpse in einem Karussell Panzer fahren. Ein Höhepunkt der Gegenüberstellung von Propaganda und Wirklichkeit ist zweifellos seine Aufnahme der Menschenmenge am Palast der Republik. »Demokratie Jetzt« steht auf einem großen Transparent – es ist der Ausdruck eines Willens, einer Absicht und einer Hoffnung, dass dort, wo bislang nie Demokratie war, bald welche herrscht. Dass der ausgerechnet dieser Palast der Republik mit demokratischem Beschluss des Bundestages abgerissen wurde, ist eine Ironie der Geschichte. Und selbst die scheint in dieser Aufnahme auf.

Der Großteil von Hauswalds Werk und der in Ausstellung und Katalog versammelten Fotografien ist vor der Wende entstanden. Dass er sich auch nach der Wende nicht zu fein war, politisch widerspenstig zu sein und dort hinzusehen, wo viele nicht hinsehen wollten, beweisen seine für die Bundesrepublik unbequemen Bilder aus Rostock Lichtenhagen, aus den Fussballstadien Ostberlins oder von der Räumung der besetzten Wohnung in der Mainzer Straße. Sie bilden noch einmal die unmittelbaren Gewalteruptionen einer zerrissenen Gesellschaft ab, die sich in der Nachwendezeit selbst gesucht hat.

Felix Hoffmann (Hrsg.): Harald Hauswald. Voll das Leben. Steidl Verlag 2020. 408 Seiten. 45,- Euro. Hier bestellen

Und doch hinterlassen seine Fotografien aus der DDR auch dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer den stärksten Eindruck. Vielleicht auch, weil sie von einem Fotografen sind, der sich nicht nur auf dem Höhepunkt seiner Kunst und seines Schaffens befindet, sondern der mit sich und seiner Umwelt verschmolzen ist. Der sich identifiziert mit dem, was um ihn herum passiert. Der Empathie für die Menschen spürt und der mit seinen Bildern nicht einfach nur etwas zeigen, sondern etwas bewegen will. Als ehemaliger DDR-Bürger im vereinten Nachwende-Deutschland hatte sich zunächst kaum jemand für seine Perspektiven interessiert. Als sich das änderte, verdiente er sich seine Brötchen als Pressefotograf. Schon vorher, 1990, gründete er mit Werner Mahler, Jens Rötzsch, Sibylle Bergemann, Ute Mahler, Thomas Sandberg und Harf Zimmermann die Agentur Ostkreuz und die inzwischen renommierte gleichnamige Schule für Fotografie.

Hauswald ist dennoch kein DDR-Nostalgiker, viel zu sehr hat er unter den Repressionen des Staates gelitten. Als er 1987 gemeinsam mit dem Lyriker Lutz Rathenow im Westen das Buch »Ostberlin – die andere Seite einer Stadt« herausbringt, erhält Hauswald nicht nur Hausverbot bei einem Verlag, in dem er einige seiner Filme entwickeln kann, sondern ihm wird vom Jugendamt seine Tochter weggenommen. Hauswald muss monatelang darum kämpfen, dass sie wieder bei ihm leben kann. Dass das Buch, dass all das auslöste, im Zuge der Wende still und leise vom Piper-Verlag einkassiert wurde, ist ein anderer Skandal.

Gebraucht hat Hauswald weder dieses Buch noch all das drumherum. Die meisten der Fotografien, die im Bildband zu sehen sind, hatte er da schon gemacht.

Titelbild: 03 Harald Hauswald, Fahnenflucht, 1. Mai-Demonstration, Alexanderplatz, Mitte, Berlin, 1987

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