Literatur

Mit Frankenstein ins All

Durs Grünbein und Ines Geipel im Gespräch im Pfefferberg-Theater Berlin | Foto: Thomas Hummitzsch

Die Schriftstellerin Ines Geipel macht sich immer wieder auf die Suche nach den Opfern der DDR-Diktatur. In »Schöner Neuer Himmel« geht es um die Biopolitik in der Weltraumforschung der DDR. In Berlin sprach sie mit dem Lyriker Durs Grünbein über mögliche Menschenexperimente im Wettlauf um die Vormacht im All und das Wegrutschen der Geschichte.

»Ich stand auf dem Vorplatz des Dresdner Hauptbahnhofs. Ein Auto kam. Wir fuhren eine knappe Stunde. Wir stiegen aus, und ich verbrachte die nächsten zehn Wochen in einem Zimmer neben Sigmund Jähn«, erinnerte sich Jacob, ein ehemaliger Zirkusakrobat und Radrennfahrer an eine Begebenheit in den Siebzigern, als er Ines Geipel Anfang 2018 traf. Damals war die in Dresden geborene Publizistin noch Vorsitzende der Doping-Opfer-Hilfe und traf regelmäßig Opfer des systematischen Dopings im DDR-Spitzensport. Auch Jacob scheint so ein Opfer zu sein, fraglich nur, welchem System er zum Opfer gefallen ist. Sigmund Jähn ist nämlich kein Spitzensportler aus der DDR, sondern war der erste Deutsche im All. Sein Name zählt neben dem von Juri Gagarin und dem von Walentina Wladimirowna Tereschkowa zu jenen, mit denen die Erforschung des Kosmos im Ostblock als Heldengeschichte erzählt wird.

Den populären »Kosmoskitsch« hinterfragt Geipel in ihrem neuen Buch, in dem sie gewissermaßen ihre Forschungen zur Geschichte des Eingriffs in den menschlichen Körper vom Spitzensport auf das Feld des militärisch-industriellen Komplexes verlagert. Nach Jacobs Geschichte vermutet sie da Parallelen und Berührungspunkte. Jacob bat sie, seinem Fall nachzugehen, von dem es allerdings keine Unterlagen gibt. Es gibt nur das Schweigen der Archive und diesen Mann, dem man die Folgen der Experimente ansah: an seinem Körper gab es kein einziges Haar mehr, er selbst sei dürr wie ein Spargel gewesen und litt unter körperlichen Beschwerden, wird er im Buch beschrieben.

Ines Geipel: Schöner Neuer Himmel. Aus dem Militärlabor des Ostens. Klett Cotta Verlag 2022. 288 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen.

Was dem Gespräch folgte, nennt Geipel selbst »den Kampf gegen das Nichts«, um das stille Leiden des ehemaligen Sportlers aus der Anonymität zu holen. In insgesamt sechs Archiven machte sie sich auf die Suche nach Antworten auf die Frage nach dem, was Jacob und mutmaßlich vielen anderen im Namen der Eroberung des Alls widerfahren ist.

Es sei die permanente »Suche nach historischer Gerechtigkeit«, die Geipel umtreibt, sagte der Lyriker Durs Grünbein gestern Abend bei der Buchpremiere in Berlin. Dabei betrachte sie immer wieder Aspekte, die nicht im Fokus der Aufmerksamkeit liegen und dann doch den Zahn der Zeit treffen. Das war bei ihrem sehr persönlichen Buch »Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass«, der zu einem Bestseller avancierte ebenso wie bei ihrer Erkundung des Dopings in »No Limit«, in das auch ihre persönlichen Erfahrungen als Spitzensportlerin in der DDR eingeflossen sind.

Grünbein ist ein spannender Gesprächspartner, zuletzt sorgte vor allem sein berüchtigtes Gespräch mit Uwe Tellkamp zur Meinungsfreiheit in der Demokratie für Furore, bei dem sich Tellkamp rechtspopulistisch äußerte. Den Bodyhorror, dem sich die ehemalige Leistungssportlerin Geipel aus eigener Erfahrung immer wieder nähert, kennt Grünbein aus seinen literarischen Arbeiten. Als er 1995 als 33-jähriger Lyriker den Georg-Büchner-Preis erhielt, stellte er seine Dankesrede unter die Überschrift »Den Körper zerbrechen«, um zu zeigen, wie Büchner den »Körper zur letzten Instanz« erklärt und zu einem Dichter wurde, »der seine Prinzipien der Physiologie abgewinnt wie andere vor ihm der Religion oder der Ethik«.

Der Körper war auch in der Weltraumforschung eine letzte Instanz. In der Diktatur wird er als Kampfzone politisch-ideologisch aufgeladen, zum verlängerten Arm der Machtpolitik des politischen Regimes und seiner Ziele. Das Interkosmos-Programm der Sowjetunion sah vor, die gesellschaftspolitischen Ambitionen des Sowjet-Imperiums in außerirdische Sphären zu tragen. Dafür brauchte es aber nicht nur technische Fähigkeiten, sondern auch menschliches Material, das höchst belastbar war. Weil »unsere Erdenkörper da oben im All einen systematischen Schlag wegkriegen« und der Kommunismus hinter der Sonne als Lichtfigur ruhmreich erstrahlen sollte.

Durs Grünbein und Ines Geipel im Gespräch im Pfefferberg-Theater Berlin | Foto: Thomas Hummitzsch
Durs Grünbein und Ines Geipel im Gespräch im Pfefferberg-Theater Berlin | Foto: Thomas Hummitzsch

Wie im Sport sei es darum gegangen, den menschlichen Körper unter allen Umständen zu optimieren. Während im All die Biosputniks kreisten, fanden auf Erden »chronische Bodenexperimente« statt, bei denen militärische und zivile Forschungen ineinandergriffen und ethische Grenzen überschritten worden seien, ist sich Geipel sicher. »Wenn man Weltklasse sein will, muss man alle Skrupel ablegen«, weiß sie aus ihren Recherchen zum systematischen Doping im DDR-Leistungssport. Kaderathleten seien die perfekten Forschungskandidaten für Extremsituationen gewesen, eine Verlängerung der Forschungen im Leistungssport in den militärischen Bereich sei nur naheliegend, so Geipel.

Dass sie dieses Vorgehen in der DDR-Weltraumforschung nicht zweifelsfrei nachweisen kann, liege an der Vertuschungsstrategie, die sie aus den Akten herauslese. Da ist von der Überwindung des »organbezogenen Denkens« die Rede, von Cyborg-ähnlichen Mensch-Maschinen-Systemen und der »Beherrschung des extraterrestrischen Raumes« durch den Menschen – codierte Formulierungen, die wenig bis nichts darüber aussagten, was Jacob und anderen da eigentlich widerfahren ist. Hinter solch technischem Kauderwelsch verberge sich der politische Größenwahn und emotionale Kälte, mit der in den militärischen Frankenstein-Laboren des Ostblocks am neuen Übermenschen gearbeitet worden sei. Wie weit das ging, lässt sich am Beispiel Sigmund Jähns exemplifizieren. Der habe, so Geipel bei der Buchvorstellung, im besterforschtesten Körper der DDR gesteckt.

Geipel versucht, das beredte Schweigen der Akten durch Analogien, Übertragungen und Ableitungen aus ihrem reichen Erfahrungswissen aus der DDR-Diktatur zu brechen. Mit literarischen Mitteln bricht sie das essayistische Sachbuch auf, gibt der Figur Jacob in den Akten eine Wirklichkeit und sucht interpretierend nach Antworten. Ihrer persönlichen Suchbewegung folgend schafft sie einen offenen Denk- und (wenn man will) Erkenntnisraum, dem sich nicht wenige verweigern. Der Spiegel fragte jüngst, ob sich die jetzige Professorin für Verskunst mit dieser gewagten Methode nicht zurecht den Vorwurf der Hochstapelei anhören müsse.

Für die alten und immer noch funktionierenden Stasi-Netzwerke sind solche skandalumwitterten Beiträge natürlich Wasser auf die Mühlen ihrer revisionistischen Aktivitäten. Ihnen ist Geipels Wühlen in den Archiven seit Jahren ein Dorn im Auge, immer wieder erreichen die Publizistin Drohmails. »Na, Schätzchen bist Du schon nervös? Keine Sorge, wir haben Dich nicht vergessen«, schreiben ihr Unbekannte vieldeutig aus der Anonymität heraus, legt sie in ihrem Buch offen. Als »unknown soldier« geistern diese ewiggestrigen Kader, die in diesen Tagen den russischen Vernichtungskrieg in der Ukraine verteidigen, durch Geipels neues Buch. Nichts hilft deren geschichtsverfälschender Propaganda mehr als das öffentliche Anzweifeln kritischer Fragen. Dabei stellt sich Geipel nicht hin und ruft laut, dass sie die Funktionalität der Biopolitik im militär-industriellen Komplex des Ostblocks lückenlos aufgedeckt oder verstanden hätte. Sie findet anhand von über 500 Quellen aber Indizien, denen die Geschichtswissenschaft nun nachgehen könnte und sollte, wie Geipel selbst im Gespräch mit Grünbein betonte.

DDR-Sammelmarke

Insgesamt drei Millionen Menschen sind juristisch als Opfer des DDR-Unrechtsstaats anerkannt – neben den in Gefängnissen, Lagern und Heimen Weggesperrten sind das auch politisch verfolgte Schüler:innen, Opfer von Zwangsadoptionen, Zwangsdoping und Zwangsaussiedlungen. Ihnen gilt Geipels Interesse, weil auch 30 Jahre nach Ende der DDR kaum jemand von ihnen spricht. »Die Geschichte rutscht weg«, sagt sie, und mit ihr nicht nur juristische Tatsachen, sondern auch die Geschichten der Opfer der DDR-Diktatur, die sich nun zunehmend den Angriffen der alten Stasi-Recken ausgesetzt sehen. Wohin das führen kann, demonstriert Geipel an ihrer Jacob-Figur. Die verschwindet im Laufe des Buches einfach, wie so viele andere Opfer.

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