Allgemein

Durstige Kapitalisten

Lilith Stangenberg als Fräulein Octavia mit ihrem treuen Assistenten Jacob, gespielt von Alexander Herbst, in »Blutsauger« von Julian Radlmeier | © Grandfilm

In Julian Radlmaiers marxistischer Vampirkomödie werden politische Mythen kongenial als grotesk dekonstruiert. Grundlage des Films ist ein Schelmenroman des russischen Avantgardisten Ilja Ehrenburg. Lilith Stangenberg glänzt in der Rolle einer vom süßen Leben müden Frau von Welt.

Kapitalismus und Film sind offenbar en vogue. Anders kann sich das deutsche Feuilletin den erneuten Erfolg des schwedischen Regisseurs Ruben Östlund in Cannes nicht erklären. Sein Film »Triangle of Sadness«, mit dem Östlund nach der Auszeichnung seiner Kunstsatire »The Square« 2017 erneut die Goldene Palme gewonnen hat, erzählt die Geschichte von zwei Models, die auf eine Luxus-Kreuzfahrt in die Südsee eingeladen werden. Dort kippt die Milliardärssause, in der Iris Berben neben Woody Harrelson spielt, im wahrsten Sinne des Wortes und die Selbstgefälligkeit des Kapitals wird in seiner ekeligsten Form vorgeführt.

Um Östluns Film in deutschen Kinos zu sehen, muss man sich noch bis zum Oktober gedulden. Bis dahin kann man sich die Zeit bestens mit Julian Radlmaiers Vampirkomödie »Blutsauger« vertreiben, in der Ekel keine herausgehobene Rolle spielt. Vielmehr geht es um eine spielerische Dekonstruktion der gegenwärtigen Verhältnisse zu Zeiten der Weimarer Republik. Im Sommer 1928 ereignen sich in einem nicht näher benannten Ostseebad seltsame Dinge. Während Gerüchte um einen marodierenden Vampir die Runde machen, taucht ein verschwiegener Mann auf, der sich als russischer Baron auf der Durchreise nach Hollywood ausgibt. Das weckt das Interesse der flamboyanten Fabrikantentochter Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenberg), die den Mann in ihrer Villa aufnimmt. Doch schnell entpuppt sich der reisende Russe als Lügenbaron, dessen Geschichte einem Münchhausen alle Ehre machen würde.

Lilith Stangenberg als Fabrikantentochter Octavia Flambow-Jansen, ihr treuer Assistent Jacob und gespielt von Alexander Herbst und Pseudobaron Ljuwoschka (Alexandre Koberidze) in »Blutsauger« von Julian Radlmaier | © Grandfilm
Lilith Stangenberg als Fabrikantentochter Octavia Flambow-Jansen, ihr treuer Assistent Jacob und gespielt von Alexander Herbst und Pseudobaron Ljuwoschka (Alexandre Koberidze) in »Blutsauger« von Julian Radlmaier | © Grandfilm

Im noblen Aufzug steckt nämlich der sowjetische Arbeiter Ljowuschka – gespielt von Filmemacher und Radlmaier-Kommilitone Alexandre Koberidze, der zuletzt mit dem georgischen Märchen »Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?« beeindruckte –, der es über fantastisch verschlungene Pfade aus einer Metallfabrik bis ans Set von Sergej Eisenstein geschafft hat, um in dessen Film über die Oktoberrevolution als Trotzki-Darsteller mitzuwirken. Kurz vor der Premiere taucht jedoch Stalin auf, bei dem der Revolutionär der ersten Stunde in Ungnade gefallen ist. Stalin lässt alle Trotzki-Szenen aus dem Film schneiden und Ljowuschka tritt die Flucht in den Westen an.

Fräulein Octavia ist vollkommen eingenommen von diesem »Mann des vorletzten Jahrhunderts«, dessen aristokratisch-großbürgerliche Erscheinung sie aus ihren Proust-Lektüren kennt. Sie lässt sich von seiner schier unglaublichen Geschichte, die Radlmaier an Ilja Ehrenburgs Schelmenroman »Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz« angelehnt hat, anstecken. Sie beschließt, den gemütlichen und arbeitsscheuen Sowjet bei seinen Filmaufnahmen zu unterstützen, mit denen er sich angeblich in Hollywood bewerben will. Gemeinsam mit ihrem dienstbeflissenen Assistenten Jacob (Alexander Herbst) und einem pfiffigen Chinesen drehen sie einen grotesken Film über die Jagd auf einen blutdurstigen Vampir.

Eine illustre Runde bringt Julian Radlmaier in seiner marxistischen Vampirkomödie zusammen | © Grandfilm

Julian Radlmaier, 1984 in Nürnberg geboren, ist vielleicht der aufregendste Filmemacher seiner Generation. Er studierte Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin und anschließend Regie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie. In seinen ersten Filmen »Ein Gespenst geht um in Europa« und »Ein proletarisches Wintermärchen« ließ er immer wieder Gegenwart und Vergangenheit, Kapitalismus und Kommunismus die Klingen kreuzen. Sein Langfilmdebüt »Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes« – eine anarchistisch-burleske Komödie über das Filmemachen und den Antikapitalismus – lief in der Sektion Perspektive Deutsches Kino bei der Berlinale 2017 und wurde mit dem Preis der deutschen Filmkritik ausgezeichnet.

In seiner »marxistischen Vampirkomödie über die Sehnsucht und das Kapital« reflektiert er nun einmal mehr spielerisch-ernsthaft das Verhältnis von Arbeits- und Besitzverhältnissen aus historischer Perspektive. Denn wer genau die Blutsauger sind, die in diesem Film ihr Unwesen treiben, ist nicht ganz klar. Ist es der geheimnisvolle Fürst aus Osteuropa? Sind es die chinesischen Flöhe und damit die unhygienischen Zustände, in denen die einfachen Leute leben? Oder ist es die Fabrikantentochter, die die Leute aussagt? WO auch immer die Wahrheit liegt, klar ist, die kleinen Leute müssen bluten.

Zu Beginn diskutiert ein Marx-Lesekreis eine Passage, in der es heißt, dass die Verlängerung des Arbeitstages in die Nacht hinein nur annähernd den »Vampirdurst nach lebendigem Arbeitsblut« des Kapitalisten stillt und dass dieser Durst nicht nachlässt, »solange noch eine Sehne, ein Muskel, ein Tropfen Blut auszusaugen ist«. Zeilen wie diese bringen die Arbeiterschaft in Flambow-Jansens Fabrik in Aufruhr. Man beginnt sich, zu organisieren, ein Betriebsrat will sich gründen und die heile Welt des Großkapitals, formidabel vertreten von Corinna Harfouch und Andreas Döhler, gerät ins Wanken.

Radlmaier bleibt den demokratischen Prinzipien seiner Filmästhetik treu. Er dreht überwiegend mit Laien, ergänzt den Cast aber mit Profis wie Lilith Stangenberg (»Wild«, »Orphea«), die den Film in ihrer flirrend-souveränen Präsenz fast im Alleingang trägt. Allein die Szene, in der Fürstin Octavia noch vor der Morgentoilette ein rohes Wachtelei verspeist, ist ganz große Kunst. Ihr detailliertes Spiel ist ein Genuss, selbst der sperrigste Satz kommt leichtfüßig und selbstverständlich daher. Das ist wichtig, denn Dialoge sind bei Radlmaier aufgesetzt, um Bezüge zu markieren. Seine literarische Kunstsprache spiegelt das Wesen des Kapitalismus, des Bildungsbürgertums und der Welthaltigkeit. Entsprechend holpern die Dialoge durch die Sprache. Es geht nicht um Verstehen, sondern um Verschleiern, um ein codiertes Sprechen, an dem nur Auserwählte teilhaben können. Nicht der Mensch passt das System an, sondern das System den Menschen.

Der schweigsame Ljuwoschka, Opfer von Stalins Terror und Profiteur des Reichtums der Flambow-Jansen, träumt in »Blutsauger« von Julian Radlmeier von einem Neustart in Hollywood | © Grandfilm
Der schweigsame Ljuwoschka, Opfer von Stalins Terror und Profiteur des Reichtums der Flambow-Jansen, träumt in »Blutsauger« von Julian Radlmeier von einem Neustart in Hollywood | © Grandfilm

»Blutsauger« ist kein Historienfilm, sondern spielt mit den Elementen. Kostüme und Ambiente spiegeln die Zeit, während die Ostseekulisse die Gegenwart spiegelt. Containerschiffe ziehen am Horizont vorbei und Turbokapitalistin Flambow-Jansen düst auf einer Kawasaki durch die Landschaft. Geschichte und Gegenwart verfremden sich so gegenseitig und öffnen ein Fenster der Zeitlosigkeit. In diesem Fenster wird darüber nachgedacht, ob und wie gemütlich man es sich unter kapitalistischen Verhältnissen eigentlich machen kann, ohne sich zum verlängerten Arm der ausbeutenden Klasse zu machen.

Julian Radlmaier: BLUTSAUGER. Mit Lilith Stangenberg, Alexander Koberidze, Alexander Herbst, Corinna Harfouch, Andreas Döhler. Grandfilm 2022. 125 Minuten. Das Drehbuch (hier rechts) ist im Agust-Verlag erschienen.

Eine kürzere Fassung des Textes ist im Rolling Ston 5/2022 erschienen.