Comic

Irrfahrt eines Androiden

Der französische Comicautor Winshluss hat Pinocchio auf kongeniale Weise ins 21. Jahrhundert übertragen und zahlreiche Comicpreise gewonnen. Lange war der Kultband vergriffen, nun endlich gibt es eine neue Auflage.

Es gibt Autoren, die jahrelang als heimlicher Favorit für Buch- und Literaturpreise gelten und sie doch nie bekommen. Der französische Comicautor Vincent Paronnaud alias Winshluss war lange d e r Geheimtipp unter den Comiclesern. Schon mit seinen ersten Arbeiten stand er auf den wichtigen Comicfestivals im Mittelpunkt. Im französischen Angoulême wurden mit »Smart Monkey« (2004), »Wizz and Buzz« (2007), »Pinocchio« (2009) und »In God We Trust« (2014) vier von sechs seiner Werke nominiert. Gemeinsam mit Marjane Satrapi verfilmte er ihre autobiografischen Erfolgscomics »Persepolis« und »Huhn mit Pflaumen«.

Vielleicht muss man dies wissen, um die Vorstellung von Winshluss’ neuem Band »Pinocchio« beim Internationalen Comicfestival in Angoulême anno 2009 zu verstehen. Alles andere als bescheiden präsentierten Autor und Herausgeber die knapp 200 Seiten in einem festen, vergoldeten Einband, den Titel im Reliefdruck ausgeführt. Scheinbar wollten die Verleger von Anfang an keinen Zweifel aufkommen lassen, dass in diesem Jahr der Franzose den Preis für den besten Comic erhalten müsse. Und tatsächlich kam die Jury an dem Prachtband nicht vorbei. Winshluss’ »Pinocchio« wurde in jenem Frühjahr als bestes Album ausgezeichnet und gewann damit einen der wichtigsten internationalen Comicpreise. 

Im Jahr darauf erhielt die nicht minder prächtige deutsche Ausgabe des avant verlags beim Comicsalon in Erlangen den Max und Moritz-Preis als »Bester Comic – International«. Nachdem der Comic viele Jahre vergriffen war, erscheint nun endlich eine neue Ausgabe – statt Hardcover mit Flexicover ausgestattet.

Winshluss: Pinocchio. Aus dem Französischen von Kai Wilksen. avant verlag 2022. 208 Seiten. 30,- Euro. Hier bestellen.

In dem preisgekrönten Werk verlegt Winshluss die alte Geschichte der populären Holzmarionette in eine kalte, hässliche und abstoßende Moderne. Mord und Totschlag, Fanatismus, Pornografie und die atomare Umweltverschmutzung sind nur einige der modernen Phänomene, die Winshluss in seiner Pinocchio-Version kongenial verarbeitet. Dabei ist es ihm gelungen, Aufbau und innere Struktur des Volksmärchens in eine zeitgemäße Geschichte zu übertragen, ohne dabei in langweilige Analogien zu verfallen. Zwar hat er sich für seine Personen und Handlungsmuster kräftig aus der Originalvorlage von Carlo Collodi bedient, diese aber in eine völlig neue und vielschichtige Erzählung umgewandelt.

Vor Winshluss gab es bereits einige Autoren, die sich an den Pinocchio-Stoff herangewagt und versucht haben, diese alte Geschichte neu zu erzählen. Aber der Franzose ist der erste, dem dies wirklich gelungen ist. Fügen sich bisherige Pinocchio-Varianten, wie Tolstois »Burratino« oder Bierbaums »Zäpfel Kerns Abenteuer«, harmonisch wie eine zweite und dritte Stimme zu Collodis Originalvorlage, erscheint Winshluss’ Version wie eine nach den Prinzipien der Zwölftonmusik abgewandelte Fassung. Sie klingt schrecklich schaurig und scheint gar nicht zu der ursprünglichen Kindergeschichte zu passen – und doch erkennt man sie in ihrem provokanten Spiel mit dem Klischee wieder. Wenn Robert Zemeckis Disney-Produktion im Herbst und die cineastische Stop-Motion-Netflix-Version von Guillermo del Toro und Mark Gustafson Ende des Jahres herauskommt, erhält vielleicht auch Winshluss modernes Märchen noch einmal Aufmerksamkeit.

Die ersten Teile seiner Pinocchio-Schauerversion gab Winshluss vor Jahren in der selbst gegründeten Zeitschrift »Ferraille illustré« heraus. Dreh- und Angelpunkt seiner Neuerzählung ist eine Pinocchio-Figur in der Gestalt eines unzerstörbaren Androiden, den der Erfinder Gepetto als Allzweckwaffe an das Militär verkaufen will. Doch während er seine Pläne in der Kommandantur vorlegt, kommt es zu einem Unfall, und Pinocchio verlässt Gepettos Haus. Die Odyssee durch eine lebensfeindliche und zynische Welt beginnt. Auf seiner Irrfahrt begegnen Pinocchio zahlreiche dubiose Gestalten, von denen dem Leser einige aus dem Original bekannt sein werden. 

Kater und Fuchs kommen in Winshluss Version als hintertriebenes Gaunerpaar daher. Theaterdirektor Feuerfresser ist als skrupelloser Industrieller realisiert, der Kinder entführt und diese dann in Sklavenhaltermanier für sich malochen lässt. Kerzendocht, der beste Freund von Pinocchio, taucht als vernachlässigtes Straßenkind auf und verführt Pinocchio (wie in der Originalvorlage) dazu, ihn ins Land der Spielereien zu begleiten. In Winshluss’ Fassung werden die Kinder dort nicht in Esel, sondern in blutrünstige Bestien verwandelt. Mit jeder umgeblätterten Seite wird die Welt düsterer. 

Pinocchios mehr oder weniger chronologisch nachgezeichnetes Schicksal wird immer wieder von zahlreichen anekdotischen Nebenerzählungen unterbrochen, durch die die Handlung in Zeit und Raum hin und her geworfen wird. Diese scheinbar autarken Handlungsstränge werden von Winshluss später wieder zusammengeführt und verbinden sich geradezu magisch mit den beiden Grundmotiven der klassischen Version – der Suche des Vaters nach dem verlorenen Sohn sowie den unglaublichen Missgeschicken und Schicksalsschlägen Pinocchios. Auf diese Weise hat Winshluss in genialer Weise die parallele Erzählstruktur von Collodis Original aufgelöst und zu einer komplexeren Geschichte weiterentwickelt. 

Winshluss kommt in seiner Neuinterpretation nahezu gänzlich ohne Text aus. Einzig die kurzen Episoden von Jiminy Wanze, einer schmarotzenden und selbstgefälligen Reinkarnation der Sprechenden Grille, sind mit Texten versehen. So schreibt er mit diesem Album die Erfolgsgeschichte der wortfreien Comics fort und knüpft damit an die Erfolge von Lewis Trondheim, Guy Delisle oder Shaun Tan an. Deren Comics erzählen ebenfalls ohne Worte tiefsinnige Geschichten. 

Die Faszination dieser vom Text befreiten Bildgeschichten liegt in der Reduktion auf das Wesentliche, wodurch vielschichtigere Aussagen über Charaktere und Situationen möglich werden. Zugleich erfordert die textfreie Gestaltung aber auch eine gewissenhafte grafische Umsetzung, um dem Leser die Aufnahme der subtilen und unterschwelligen Stimmungen zu ermöglichen. 

Winshluss ist ein Meister der Zeichenkunst, der sich immer wieder neu sucht und findet. Sein »Pinocchio« ist ein großer Stilmix, in dem er einmal mehr seine Vielseitigkeit belegt. Kontrastreiche Schwarz-Weiß-Bilder wechseln sich mit sepia- und mehrfarbigen Panelfolgen sowie ganzseitigen, weich gezeichneten Gemälden ab. Der naive Strich, in dem das Werk in weiten Teilen gezeichnet ist, erinnert an eine Mischung aus Robert Crumb und Art Spiegelman. Unverkennbar zitiert er in den Nebenhandlungen Comicgrößen wie Walt Disney und Will Eisner, spielerisch verweist er auf die Abgründe des menschlichen Miteinanders. Seine Bilder sind offensiv, zuweilen aggressiv, spielen aber auch mit der niedlichen Optik von Disneys Kindergeschichten. In ihrer Kombination haben sie eine erschlagende Wirkung. 

Winshluss’ »Pinocchio« ist ebenso trashig, wie es sozialkritisch ist und alle gängigen Klischees werden hier aufgelöst und neu erfunden. Dieser Comic war 2009 in vielerlei Hinsicht das Album des Jahres und hat nichts von seiner Kraft verloren. Wie jede Zuspitzung bringt es die Gegenwart heute fast noch besser auf den Punkt als zum Zeitpunkt seines ersten Erscheinens. Und beweist, dass Pinocchio im 21. Jahrhundert definitiv keine Kindergeschichte mehr ist.