Die internationale Anthologie für zeitgenössische Akt-Fotografie »The Opéra« feiert seinen zehnjährigen Geburtstag. Die Jubiläumsausgabe schmückt erstmals ein Male-Model und versammelt einmal mehr aufregende künstlerische Standpunkte.
Wenn es Drag-Art auf den Titel eines internationalen Jahresmagazins für Fotografie schafft, dann ist das alles andere als gewöhnlich. Kenny Lemes ist das mit seiner provokant-warmherzigen Bilderserie »Venus Perversa« aber gelungen. Das Bild zeigt einen femininen nackten Mann mit Blüten im Haar, der auf einem zerwühlten Bett sitzt und einen Schluck Wasser trinkt. Er blickt uns aus der Fotografie heraus an, als wären wir der Liebhaber, mit dem er sich gerade in den Kissen gewälzt hat.
»Venus Perversa« ist 2018 entstanden und das Ergebnis des langjährigen Versuchs, festgelegte Schönheitsdogmen zurückzufordern und umzugestalten. So zumindest beschreibt es der in Buenos Aires lebende Fotograf in einem Interview, das er dem argentinischen Kulturblog LaLaLista gegeben hat. Es ging ihm darum, »unterschiedliche Wahrnehmungen der menschlichen Erscheinung, die von der Gesellschaft oft systematisch marginalisiert werden« ins Bild zu setzen. »Dabei geht es nicht nur um körperliche Vorstellungen, sondern auch um andere Merkmale wie Geschlecht und Liebe. Ich finde es sehr wichtig, mich in meiner Arbeit auch mit Geschlecht und Liebe auseinanderzusetzen und sie durch die Kunst zu dekonstruieren.«

Für Matthias Straub, Herausgeber von »The Opéra«, Grund genug, ein Motiv aus der Arbeit des Kubaners auf den Titel der zehnten Ausgabe seiner in Fachkreisen längst renommierten Jahrespublikation für zeitgenössische Akt-Fotografie zu heben. Die versammelt einmal mehr drei Dutzend internationale junge Fotograf:innen, die mit ihren Arbeiten den Blick auf Körper verändern.
Mit der neuen Ausgabe ruft Straub nach »zehn Jahren voller Erfahrungen und schöner Begegnungen« in seinem Vorwort das »Jahrzehnt neuen Bewusstseins« aus, in dem es darum gehe, das Lernen und Kennenlernen »der eigenen Person, des eigenen Körpers und der der anderen« neu zu erproben. Einmal mehr wolle er mit seiner Anthologie zeigen, »dass nackt nicht gleich nackt ist« und »wahre Schönheit im Auge des Betrachters und im tiefsten Inneren des Lebens« liegt.

In der zeitgenössischen Aktfotografie nehmen die feministisch-emanzipativen Perspektiven zunehmend mehr Raum ein. Die klassische Draufsicht auf männliche und weibliche ist abgelöst worden von Bildstudien, die die Körper als Repräsentant:innen beseelter Menschen betrachten. Es sind Geschichten, die die hier versammelten Bilder allesamt erzählen, Geschichten, die nicht auf Sex und Erotik zielen, sondern auf das Leben in all seiner (queeren) Vielfalt. Mal verspielt und provokant, dann wieder nachdenklich und sensibel bilden die hier versammelten Bilder Mut, Anmut und Demut des menschlichen Daseins ab.
Besonders aufregend und spektakulär sind neben der Serie »Venus Perversa« zweifellos der liegende Trans-Akt aus der Serie »Fragments & The Last Taboo« der polnischen Fotografin Justyna Neryng oder die aufwühlenden Hautaufnahmen der Berliner Fotografin Henny de la Motte. Aber auch die Serie »Portraits Of A Future Book« des Ukrainers Maxim Vakhovskiy, die einige der beeindruckenden PoC-Porträts des Vogue-Fotografen versammelt, die zerbrechlich-schönen Aufnahmen des Franzosen Remi Rebillard, die David-Bowie-Hommage »The Girl Who Fell To Earth« des britisch-französischen Duos Gordon Spooner und Louise Rocard sowie die ästhetisch an Adina Pintilies Berlinale-Gewinnerfilm »Touch Me Not« erinnernden Serien »Alpha & Eternal Moments« des Rumänen Marius Budu ragen aus dieser Ausgabe heraus.

Die Bilderserien des Kanadiers Horst Herget, des Japaners Shinichi Maruyama oder des Briten Tobias Slater-Hunt muten dabei geradezu klassisch an, die mit Körperinszenierung, Bildmanipulation und perspektivischen Verzerrungen arbeitenden Serien der Italienerin Sara Mautone, des deutsch-spanischen Duos Red Rubber Road, des Schweizers Roger Weiss oder des Franzosen Christophe Boussamba (aus dessen Serie Sang Mêlé schon das Coverbild für Volume VIII stammte) experimentell. Die Berlinerin Lina Zangers bewegt sich mit ihren spielerisch übermalten Aktaufnahmen zwischen diesen beiden Polen.
Einmal mehr beweist »The Opéra«, dass es seinem Anspruch, die künstlerische Vielfalt der zeitgenössischen Aktfotografie abzubilden, eindrucksvoll nachkommt. Die Perspektiven und Standpunkte, die dabei zur Geltung kommen, sind dabei nicht nur ein Spiegel fotokünstlerischer Trends, sondern in all ihrer Vielfalt und Tiefe ein Abbild unserer Zeit, ohne sich dabei an den Zeitgeist anzupassen.

[…] »Understanding that nude is not naked« […]