Allgemein, Literatur, Roman

Die Geometrie der Liebe

© Thomas Hummitzsch

In Fabian Sauls Roman »Die Trauer der Tangente« stirbt ein Freund, Wirklichkeit und Erinnerungen beginnen zu verschwimmen. Mit seinem psalmodierenden Textgebäude verbeugt sich der in Berlin lebende Autor und Chefredakteur des Flaneur Magazine vor Walter Benjamins »Passagenwerk« und vermisst die verborgenen Winkel der Erinnerung.

»Wenn ich von diesen Erinnerungen spreche, dann erinnere ich mich nicht an die Verbindungen, sie sind uns abhanden gekommen, vielleicht weil immer schon der eine Ort im anderen Ort lag: das Café Andalusia in Fez, das Café Gibraltar in Tanger, Lagos in Lagos – und Trocadéro in Paris.«

So klingt es, wenn sich der namenlose Ich-Erzähler dieser Geschichte schmerzhaft-schön von seinem Freund verabschiedet, der mit 37 Jahren viel zu früh in einem Berliner Hospiz starb. Zwölf Tage lang folgt Fabian Sauls Roman »Die Trauer der Tangente« seinem Klagelied, in dem Erinnerungen an bereiste Orte, geführte Gespräche und gelebte Momente zusammenfließen mit dem Nachdenken über eine konfliktgeladene Gegenwart. Es ist auch »die Geschichte eines Menschen, der auf ein Tinder-Date geht und in die Wohnung kommt, in der er früher gelebt hatte«, wie es an anderer Stelle heißt. Eine Erzählung, die alle Anfänge versammelt, die ohne Ende geblieben sind, und so ein ganzes Universum an neuen Zukünften eröffnet.

Fabian Saul: Die Trauer der Tangente. Matthes & Seitz 2024. 320 Seiten. 26,- Euro. Hier bestellen https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/die-trauer-der-tangente.html
Fabian Saul: Die Trauer der Tangente. Matthes & Seitz 2024. 320 Seiten. 26,- Euro. Hier bestellen.

»Man könnte sagen, dass es eine unsichtbare Geometrie der Welt, ein verborgenes Verhältnis der Dinge gibt«, heißt es im Roman. Fabian Saul spürt diesem Geheimnis nach, indem er die Gleichzeitigkeit der Dinge ins Verhältnis bringt. Der Ewigkeit des Todes steht die Dringlichkeit des Lebens, der Melodie der Poesie die Brutalität des Kolonialismus, der Zärtlichkeit gemeinsamer Momente die Gewalt von Rassismus und Homophobie gegenüber.

Dabei setzt er auf die besonderen Antennen, die im Moment des Verlusts auf Empfang stellen. »In der Trauer hast du gesagt, seien alle Sinne entzündet zu höchster Empfindsamkeit, in der Trauer rücken die Dinge in Konstellationen, zeigen sich am Abgrund der Bedeutungen, nur eine Zeit lang; dann werden sie wieder vergessen.«

Die Erzählung führt vom melancholischen Jazz Nina Simones zur klaren Analyse Frantz Fanons, verbindet Leonard Cohen, Audre Lorde, Clarice Lispector, Friederike Mayröcker und Edward Said, sucht gedankliche Parallelen zwischen den Todesstunden von Jean Genet, Walter Benjamin und Nelly Sachs, zwischen der französischen Theorie und der Harlem Renaissance. Er erkundet die geografischen Parallelen vom Luna Park in Coney Island, dem Moskauer Boulevard Ring (ein gleichnamiges Buch von Saul liegt seit 2018 vor) oder der Museumsinsel in Berlin und zieht cineastische Linien von Federico Fellinis »La Dolce Vita« über Luca Guadagninos »Call Me By Your Name« bis hin zu Chris Markers Dokumentarfilm »Sans Soleil«. Dazwischen Zigaretten, Alkohol und Delirium. Dieser Roman ist der Versuch, einen poetischen Teppich zu knüpfen, in dem sich Orte, Momente und Emotionen überlagern. Ein Teppich mit Knicken und Verwerfungen, aus denen Erinnerungen und Bilder aufsteigen, in denen die Liebe und der Schmerz sitzt.

In der Geometrie ist die Tangente eine Gerade, die ein Objekt an einem bestimmten Punkt berührt. Das heißt, diese Gerade verläuft weder durch den Körper noch an ihm vorbei. Es geht hier also um die Trauer, die in der Berührung liegt, in der Berührung eines geliebten Menschen, der nicht mehr ist. Die Erinnerung und die Imagination sind die Mittel, die bleiben, um mit dem Geliebten in Kontakt zu treten. Sie verdichtet Fabian Saul zu einem Text voller Parallelen und Querverweise, die eine ungewöhnliche Perspektive eröffnen.

Zwölf Tage lang bewegt sich der Ich-Erzähler, der in seinen Rückblicken immer wieder ins Wir kippt, durch die leere Wohnung seines verstorbenen Freundes, in der die Texte, Filme, Melodien und Stimmen der Vergangenheit von den Wänden hallen. Die Liste der zurückgebliebenen Dinge ist lang, wie das lyrische Ich nach den ersten Tagen in Trauer selbst erkennen muss:

»Dein Handy, das sich mit deinem Geburtsdatum entsperren ließ, die Karte von Rothkos Selbstporträt, ein Foto von Maya Deren, mit den Händen am Fenster, «Die Jäger im Schnee», die Rimbaud-Übersetzung von Celan, das Bild von Francesca Woodman, auf dem sie in der Ecke des Zimmers verschwindet, die Zeichnungen von Léona Delcourt, «Sternverdunkelung» von Nelly Sachs, «Schwerkraft und Gnade» von Simone Weil, von dem die Hälfte fehlte, die Gedichte von May Ayim, Fanons letztes Buch, «Poesie der Weite» von Glissant, die Alben von Kino, das Wort Kamtschatka, die Filme von Chantal Akerman, «Near to the Wild Heart» von Clarice Lispector in der Penguin Modern Classics Ausgabe, «Die blinde Eule» von Hedayat, das Album von SOPHIE, «The Essential Nina Simone Collection», «Das Buch der Unruhe» von Pessoa, «all about love» von bell hooks, «Die Ästhetik des Widerstands» von Peter Weiss, an dessen Seiten deine Notizen herausragten, dein Leonce und deine Lena.«

Allein in diesem Absatz wird schon deutlich, wie eng dieser Erinnerungsroman mit der Biografie eines wissbegierigen und offenen Kulturmenschen verbunden ist. Denn es ist mehr als namedropping, das Fabian Sauls Erzähler hier betreibt. Namen, Werke und Kulturgüter, politische, historische und geografische Positionen, Orte und Verortungen werden nicht einfach nur aufgegriffen, sondern auch miteinander und mit den Erinnerungen des Erzählers ins Verhältnis gesetzt. Es geht hier um nichts weniger als eine unsichtbare Geometrie der Welt, in der ein Ort immer schon in einem anderen liegt. Um eine Geometrie der Liebe, in der Zärtlichkeit und Begehren schon immer in jeder Berührung liegt. Und angesichts der grausamen Endgültigkeit des Todes um ein Erinnern, das von der Möglichkeit einer anderen Gegenwart und Zukunft träumt.

Die Gestaltung des Romans

Fabian Saul, Jahrgang 1986, hat Kulturwissenschaft und Philosophie studiert. Seit 2013 leitet er als Chefredakteur das Flaneur-Magazine, ein Medium, das sich in jeder Ausgabe einer anderen Straße in der Welt widmet. Hier hat mutmaßlich der formal außergewöhnliche Text seinen Ausgang gefunden, der sich auch immer wieder an der Geografie von Straßen, Orten und Gedanken ausrichtet. Dies wird auch in der Gestaltung aufgegriffen. An der Seite der kurzen Absätze, in denen uns der Stream of Consciousness des Erzählers begegnet, bietet der Text schlagwortartig Orientierung. Da folgt »Mahmoud Darwisch« der »Linienstraße, Berlin«, »Nelly Sachs« geht der »Großen Hamburger Straße, Berlin« und der »Tangente, Wien« voran. Und so weiter und so fort. Derart hängt man atemlos im Gedanken- und Erinnerungskarussell des Erzählers, das sich beständig dreht – nicht hektisch, eher stoisch-meditativ.

Flaneur-Ausgaben, deren Straßen im Roman auftauchen

Und dennoch gibt es Momente, in denen man das Buch zur Seite legen muss, bevor einem schwindelig wird. Denn »Die Trauer der Tangente« ist auch eine Irrfahrt ohne Ziel, bei der die Gedanken auch immer wieder um sich selbst kreisen. Doch wer Geduld mit diesem Text aufbringt, wird in dessen Tiefen Schichten und Geschichten entdecken, mit denen Sauls Ich-Erzähler intelligent und kritisch hinterfragt, was wir Wirklichkeit nennen.

Weniger Vorbild als vielmehr Pate ist unweigerlich Walter Benjamins »Passagenwerk«, das im Text auch selbst mehrmals Erwähnung findet. Benjamin sammelte von 1927 bis zu seinem Tod 1940 Anekdoten, Geschichten und Hintergründe über die Pariser Ladenpassagen, Straßen und Warenhäuser, aber auch über Museen und Weltausstellungen, Mode, Alltags- und Mediengeschehen sammelte, um über deren Interdependenzen in der Metropole die Entwicklung des Kapitalismus zu illustrieren. Die Frage, ob es angesichts dieses Bezugs die richtige Entscheidung war, Sauls zuweilen etwas sperrigen Text den Stempel Roman zu verpassen, sei zumindest mal in den Raum gestellt. Das mediale Echo ist im Vergleich zum formalen und ästhetischen Wagnis, das Saul eingeht, ist bislang bescheiden.

Passagenwerk vs. Trauer der Tangente

Fabian Saul: Die Trauer der Tangente. Matthes & Seitz 2024. 320 Seiten. 26,- Euro. Hier bestellen https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/die-trauer-der-tangente.html

Möglicherweise wäre »Die Trauer der Tangente« besser ohne Gattungsbezeichnung publiziert worden. Zwar setzt Saul auf erzählerische Elemente, wenn er fast einhundert Jahre nach Benjamin die Deformation der Moderne in den Blick nimmt, zentral ist aber, dass er sich hemmungslos an kulturellen, historischen und politischen Quellen bedient. Sie bilden die Koordinaten der Trauer des Erzählers, mit der hier die Gegenwart mit all ihren Widersprüchen und Verwicklungen vermessen wird.

Im Züricher Museum für Gegenwartskunst der Migros-Unternehmensgruppe ist noch bis zum 9. November 2025 eine Ausstellung zum Roman zu sehen, in der Trauer der Ankündigung zufolge nicht als private Bewältigung, sondern als »eine Methode des emphatischen, vielstimmigen Weltbezugs« verstanden werde. Die Ausstellung überträgt nach Auskunft des Museums die Suche nach Hoffnung in einen immersiven Raum, in dem Stimmen, Spuren und Geschichten in Dialog mit den Besucher*innen treten. Die Rede ist von einem hybriden Erlebnis an der Schnittstelle von Musik, Literatur, Aktivierung und kollektiver Wissensbildung. Fabian Sauls Debüt wird derart in einen medialen Raum geöffnet und begehbar. Ein aktives Gespräch wird möglich.

Walter Benjamin habe davon geträumt, seine eigenen Notizen aus dem »Passagenwerk« zu entfernen, bis die gesammelten und arrangierten Stimmen für sich stehen und sprechen. Fabian Sauls Text kommt diesem Traum nicht viel näher. Aber allein, dass er es wagt, diesen Traum zu verfolgen, macht »Die Trauer der Tangente« zu einem Ereignis in der deutschen Gegenwartsliteratur.