Literatur, Roman

Dissidentisches Kopfkino

Rote Armee Fraktion im Roman | © Thomas Hummitzsch

Stephanie Bart begibt sich für ihren bedrückenden Roman »Erzählung zur Sache« in die Gedankenwelt von Gudrun Ensslin. Dabei macht sie die Radikalisierung der RAF aus dem Inneren heraus verständlich, ohne die Taten zu rechtfertigen. In dem Versuch, dem dissidentischen Weltgeist eine Stimme zu geben, lassen sich Parallelen sowohl zu Klassikern wie Peter Weiss »Ästhetik des Widerstands« als auch zu Gegenwartsromanen wie Frank Witzels »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« oder Antoine Volodines »Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher« ziehen.

Wahnsinn droht, wenn man niemanden hat, der einem zuhört, Größenwahn hingegen, wenn einem alle zuhören. So ähnlich steht es in Frank Witzels Roman »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969«, der 2015 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Bis vor kurzem war Witzels Roman der letzte gelungene Versuch, die bleierne Zeit zwischen Summer of Love und deutschem Herbst literarisch zu durchdringen.

Nun hat die Berliner Schriftstellerin Stephanie Bart einen RAF-Roman vorgelegt, der sich an Witzels Achterbahnfahrt durch die Traumata der jungen Bundesrepublik messen lassen kann. Während sich Witzel allerdings spielerisch aus popkultureller Perspektive den ideologischen Grabenkämpfen der Zeit näherte, hat sich Bart für ihre »Erzählung zur Sache« mit in den Graben gelegt. Ihr Roman ist ein außergewöhnlich dichter, akribisch recherchierter und konsequenter Frontbericht, der den Versuch anstellt, in den Kopf einer Gudrun Ensslin zu schauen. Er spiegelt die Wahrnehmung einer jungen Frau »mit einem intakten Gewissen«, die die »faschistische Kontinuität der Bundesrepublik« nicht hinnehmen will.

Stephanie Bart: Erzählung zur Sache. Secession Verlag 2023. 679 Seiten, 28,- Euro. Hier bestellen.

Stephanie Bart wurde 1965 in Esslingen am Neckar geboren. Eine halbe Stunde von ihrem Geburtsort entfernt liegt Stammheim, wo 1975 der RAF-Prozess gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe eröffnet wurde. Eine räumliche Nähe zum Thema war so von Anfang an gegeben. Seit 2001 lebt Bart in Berlin. Vor knapp zehn Jahren machte sie mit dem Roman »Deutscher Meister« über den Sinto-Boxer Johann »Rukeli« Trollmann auf sich aufmerksam. Sie wurde mit dem Rheingau Literatur Preis ausgezeichnet, der bei Preisträgern wie Clemens Meyer, Ursula Krechel, Clemens J. Setz, Saša Stanišić oder Antje Rávik Strubel auch als Steigbügelhalter für die großen Buchpreise gelten kann.

Dass Bart mit ihrem neuen Roman nicht einmal für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, grenzt an einen Skandal, den die Auswahl in die Endrunde beim Bayerischen Buchpreis nicht ausgleichen kann. Sie erzählt dieses Stück deutsche Geschichte, das wie kaum ein anderer Zeitabschnitt medial dokumentiert und künstlerisch verarbeitet worden ist, auf verblüffende Weise neu, indem sie sich – ähnlich wie Christian Geissler in seiner im Verbrecher Verlag vorliegenden Widerstandstrilogie – für eine ungewöhnliche Perspektive entscheidet. Sie schreibt über die bleierne Zeit konsequent aus der Sicht des Linksextremismus. Dafür begibt sie sich auf Basis von Briefen, Aufzeichnungen, Interviews und Gerichtsakten tief in die antikapitalistischen und antiimperialen Echokammern der link(sextrem)en Gedankengebäude, ohne vor deren dunklen Kammern zurückzuschrecken. 

Christian Geisslers »Trilogie des Widerstands«

Zugleich gibt Bart ihrer Erzählung in der Figur Gudrun (tatsächlich wird nie ein Nachname genannt) ein menschliches Antlitz und schafft Anknüpfungspunkte für Empathie und Menschlichkeit. Den politisch-ideologischen Kampf der RAF verschränkt sie mit Ensslins existenziellem Ringen in Isolationshaft, das die Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen nur verstärkt und den Widerstand ihrer Figur legitimiert. Hier greift das Nebeneinander von Wahnsinn und Größenwahn, von dem auch Frank Witzel schrieb, denn so wie Kontaktverbot und Hungerstreik in den in Traumsequenzen aufgegriffenen Wahnsinn führen, wird die Zerschlagung »des imperialistischen Schweinesystems« zum unverrückbaren Minimalziel.

Der Roman setzt im Mai 1972 im frühsommerlichen Heidelberg ein. »Ostwind kommt auf mit dem Tag«, heißt es da, und keine Wolke steht am Himmel. »Aus dem roten Sand auf dem Appellplatz der Campbell Barracks verdunstet der Tau, die Kaserne liegt in der Südstadt, der Sand trocknet, Schritte beginnen zu knirschen.« Mit Poesie lockt Stephanie Bart in ihren Roman, der nicht der Idylle des einziehenden Sommers, sondern den knirschenden Schritten eines amerikanischen Soldaten folgt. Sein Weg führt ins Innere des Hauptquartiers der US-Truppen in Europa, der Text in seinen Kopf.

Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Suhrkamp Verlag 2016. 1.199 Seiten. 38,- Euro. Hier bestellen.

»Ab sofort überall Bomben drauf, mehr Bomben drauf, noch mehr Bomben drauf, noch mehr Bomben drauf als in den letzten sieben Wochen, in denen wir bereits dreimal mehr Bomben auf Vietnam geworfen haben, als im Zweiten Weltkrieg auf Japan und Deutschland zusammen, wir wissen, wie es geht, die Knarre löst die Starre nur, erst die Bombe löst den Rest, auch in Heidelberg, und so ist unser Anschlag auf das Heidelberger Hauptquartier die Antwort auf die Ansage der amerikanischen Luftwaffe, und so ist die Wirkung unseres Anschlags zugleich seine Botschaft: einfach, hell und klar wie die Sonne am Himmel.«

Dieser unmarkierte Wechsel der Erzählperspektive vom kollektiven Wir der US-Luftwaffe zum Wir der RAF liest sich wie ein Fehler in der Matrix, wird aber kurz darauf zum literarischen Prinzip erklärt. »Ich bin Nachrichtentechniker, aber ich kann jeder sagen und daher immer ein anderer sein. Ich kann immer eine andere sein«, heißt es da. Die andere, um die verschiedene Ichs kreisen, ist eben Gudrun Ensslin, Pfarrerstochter und RAF-Gründungsmitglied. Die Jeanne d’Arc des linken Widerstands und ihr Blick auf die Welt stehen im Zentrum des Romans, selbst wenn Polizisten, Juristen, Journalisten, Minenarbeiter oder der »Chor der Geschichte« das Wort ergreifen. Deren Stimmen bilden ein erzählerisches Kollektiv, in dem jeder für sich spricht und dennoch vielsagend zur Sache beiträgt. Ein ungewöhnlicher, aber kongenialer Zug für einen Roman, der die radikale Linke formal, inhaltlich, konkret und atmosphärisch zu greifen versucht.

In sieben Kapiteln greift die Handlung die Geschichte der ersten RAF-Generation auf. Die Anfänge in der Studentenbewegung in Berlin werden ebenso gestreift wie Ensslins Verhaftung in einem Hamburger Modehaus oder die Befreiung von Andreas Baader in Berlin. Herzstück des Romans ist ein 400 Seiten langes Kapitel zum Stammheim-Prozess, der als von oben verordnetes, provinzielles »Schmierentheater der faschistischen Klassenjustiz« zur Aufführung gebracht wird.

Christopher Roths »Baader« – Ab Mai wieder in den Kinos

Baader ist eine Figur, die sich nach mythischer Größe streckt und bei der Imitation von Kinovorbildern landet. Deshalb darf es auch kein Pathos geben. »Den Sprung von Ulrike Meinhof aus dem Fenster – bei der Gefangenenbefreiung im Institut für Sozialforschung – zur ‘Geburtsstunde der RAF’ zu erklären, das fand ich immer ein bisschen eigenartig«, erzählt Christopher Roth, »das hat etwas wahnsinnig Pathetisches. Bei den Dreharbeiten haben wir mit Birge Schade, die Ulrike Meinhof spielt, besprochen, sie soll einfach so dreinschauen, als würde sie überlegen, ob sie schon Milch eingekauft hätte«. Im Vergleich mit den anderen deutschen Terroristenfilmen der letzten Zeit bleibt »Baader« eigenwillig – entschieden in der Ablehnung psychologischer, soziologischer oder sonstiger Erklärungen.

In der minutiösen Nachzeichnung der Wortgefechte, die sich Richter Theodor Prinzing (gegen den die Anwälte Otto Schily, Hans-Christian Ströbele, Kurt Groenewold und Klaus Croissant 85 Befangenheitsanträge einreichten) und die Angeklagten in der Verhandlung am 28. Oktober 1975 lieferten, veranschaulicht Bart nicht nur den verbissenen Kampf zwischen Staat und RAF, sondern zeigt auch die politische Dimension des Prozesses auf. Vor allem aber verschränkt sie hier »das unaufhörliche verbale Kettensägenmassaker« des Prozesses mit der sinnlichen Erfahrung von Isolation und Hungerstreik: die »Zellengymnastik«, das »Schlüsselgeschepper« und »das Aufbäumen in die Riemen« während der Zwangsernährung. »Die Wahrheit ist immer konkret«, heißt es an einer Stelle. Aus der konkreten Perspektive von Ensslin ist sie vor allem von brachialer Gewalt.

Ingeborg Gleichauf: Wem die Fragen nicht brennen. Das Leben der Gudrun Ensslin. Aviva Verlag 2024. 350 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen.

Wer hofft, dabei noch auf unentdeckte biografische Fakten zur realen Gudrun Ensslin zu stoßen, wird enttäuscht sein. Bart geht es nicht darum, Unbekanntes zu enthüllen, sondern sie ordnet Bekanntes neu an und spitzt dabei zu. Wer an der Person Gudrun Ensslin und dem Nebeneinander von Intellekt und Extremismus interessiert ist, der sollte besser zu Ingeborg Gleichaufs Biografie »Wem die Fragen nicht brennen. Das Leben der Gudrun Ensslin« greifen, die im Frühjahr als überarbeitete Neuauflage ihrer bereits 2017 veröffentlichten Ensslin-Biografie »Poesie und Gewalt« im Aviva-Verlag erscheint.

Im Stammheim-Prozess wollten die Angeklagten aus einer knapp 200 Schreibmaschinenseiten umfassenden »Erklärung zur Sache« vortragen (hier online zu finden). Aus ihr leiten sich auch Titel und Gerüst des Romans ab. Stephanie Bart liefert quasi die Erzählung zur Erklärung zur Sache. Dabei führt sie tief hinein in ein in sich geschlossenes und von innen betrachtet auch vollkommen schlüssiges Weltbild, in dem Imperialismus und Ausbeutung, Faschismus und Kapitalismus, die unterdrückten Massen und die Revolution untrennbar miteinander verwoben sind und unausweichlich in die Radikalität führen. Berlin, Frankfurt, München, Saigon, Stockholm, Entebbe und Mogadischu stehen dabei ebenso in einer Linie wie Karl Marx, Wladimir Iljitsch Lenin, Rosa Luxemburg, Antonio Gramsci, Frantz Fanon und Jean-Paul Sartre. Ironisch aufgebrochen werden diese Linien durch Schulaufgaben à la »die Begriffe Eigentum, und Besitz erklären, ihre historische Entstehung rekonstruieren«.

Literarische Bezüge und Querverweise

Einfach zu lesen ist das nicht, alles muss hier erarbeitet werden. In seitenlangen Satzketten ahmt Bart die verwinkelte »Ästhetik des Widerstands« wortgewaltig nach. Peter Weiss’ gleichnamiger Roman scheint als Referenz nicht nur im Text auf, sondern ist auch im roten Leineneinband aufgegriffen. Das ständige Drehen am Rad der Perspektive erfordert eine genaue Lektüre. Aber genau darin liegt auch der Reiz dieses Romans, der den weltumgreifenden Gestus des Widerstands in die Gegenwart trägt. Denn Bart verbindet ihre Erzählung mit der Jetztzeit, führt den Text bis in Kongos Koltanminen und von dort in die chinesischen Produktionshallen von Chip-Hersteller Foxconn. So handelt »Erzählung zur Sache« auch von der Kontinuität der Ausbeutung von Mensch und Natur, die linke Aktivist:innen bis heute radikalisiert.

Diese komplexe, vielreferenzielle Prosa erinnert an Antoine Volodines poetisch verschlüsselten RAF-Roman »Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher«, der im Frühjahr letzten Jahres erschienen ist und seltsamerweise nur wenig mediale Aufmerksamkeit erhalten hat. Der 1950 in Frankreich geborene Autor mit russischklingendem Pseudonym hat sich bis zu diesem Roman mit Science-Fiction hervorgetan. In seinem verschachtelten Neo-Noir, in dem er mit der Untergrundaktivistin Ingrid Vogel und dem BKA-Ermittler Kurt Wellenkind in die Welt des politischen Terrorismus abtaucht, führt Volodine sein Publikum auf dünnes Eis, da man sich in der Erzählung nie sicher sein kann, wo Fakt und Fiktion einander ablösen. Er erzählt einerseits von Ingrids Flucht nach Lissabon, andererseits von einem Schlüsselroman aus Ingrids Feder – »Niemand wird ahnen, dass ich eine wahre Geschichte unserer Epoche geschrieben habe.« – und nicht zuletzt am Beispiel einer Gruppe bewaffneter Frauen von den Totalitarismen, die linksextreme Gruppen in der Nachkriegszeit angetrieben haben.

Antoine Volodine: Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Holger Fock. Edition Converso 2023. 304 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen.

Volodines Roman unterscheidet sich von Barts »Erzählung zur Sache« im Grad der Codierung. Wo die Deutsche Fakten rekombiniert und in neue Zusammenhänge stellt, verschiebt der Franzose gewissermaßen frei assoziierend die Fakten. Wo in »Erzählung zur Sache« die Dissidenz zitiert wird, erfährt sie in »Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher« syntaktische und semantische Nachahmung. Der französische Autor selbst sagt, er wolle zusammenhängende Symptome sichtbar machen. Dahinter verberge sich »ein Denken, dass sich nur sehr misstrauisch äußert, andeutungsweise, ein labyrinthisches Verteidigungssystem.«

In diesem Verteidigungssystem bedient sich Volodine zahlreicher sprachlicher Mittel – von der nüchternen Aktenprosa der Ermittlungsbehörden über die politische Kampfsprache bis hin zu magisch-realistischen Assoziationen und freischwebenden Sprachspielen. Mit ihnen greift er die »Zuckungen und Kämpfe« auf, die das 20. Jahrhundert geprägt haben. »Der Terrorismus gehört zu den Zuckungen der Geschichte des 20. Jahrhunderts, von denen ich soeben gesprochen habe. Er gehört zu den Versuchen, die Welt zu verändern, die Schiffbruch erlitten haben, gescheitert sind aufgrund der Pervertierung ihrer ursprünglichen Absichten«, so Volodine in einem Interview mit seinem Übersetzer, dem aktuellen Celan-Preisträger Holger Fock.

Die Tragödie des Menschen, immer wieder gewaltvoll daran zu scheitern, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, ist für den Franzosen »eine unerschöpfliche Quelle« seiner philosophisch-literarischen Reflexionen. Seine Romanfiguren kämpften einen einsamen, oft tragischen Kampf »gegen Maschinerien der Geschichte, die dazu dienen, sie zu zermalmen.« Indem er die unterschiedlichen Handlungsebenen dieses Kampfes – die individuellen und die kollektiven, die theoretischen und die praktischen, die lokalen wie die globalen – ständig miteinander in Beziehung setzt, verschiebt er seine historisch fundierte Geschichte in ein fantastisches Szenario, das durchaus einige Parallelen zur Wahrnehmung von Barts isolierter Heldin zulässt.

Weil auch Bart zu ständigen Perspektivwechseln greift, bleiben Meta-Kommentare wie »Ohne die Foxconn-Hölle kein Roman« nicht folgenlos. Mit solchen stilistischen Volten perforiert Bart beständig die Grenze zwischen der allwissenden Erzählinstanz und ihrer Position als Autorin. Dabei verschwimmen (sicher nicht zufällig) die Ebenen und der Eindruck entsteht, dass die Ästhetik des Widerstands auch von der Autorin Besitz ergriffen hat. Deshalb bleibt es jedem selbst überlassen, das Finale des Romans, in dem obskure Dunkelmänner Gudrun Ensslin mit einem Kabel am Gitterfenster aufhängen, als alptraumhafte Imagination der Erzählerin oder als Interpretation der Autorin auszulegen.

Stephanie Barts »Erzählung zur Sache« ist ein in jeder Hinsicht wagemutiger und unwiderstehlicher Roman, der die Konsequenz des Handelns der RAF aus dem Inneren heraus verständlich macht, ohne die Taten zu rechtfertigen. Dieser politische Roman schärft in unseren umkämpften Zeiten den Sinn fürs Wesentliche: den Menschen.