Literatur, Roman

Unvoreingenommenes Denken

Buchpreisträger Frank Witzel konfrontiert sich in seinen beiden neuesten Büchern ganz mit sich und seinen Assoziationen. Fast magisch entsteht dabei eine Philosophie des Scheiterns und ein Sittengemälde der jungen Bundesrepublik.

»Kitsch ist deshalb Kitsch, weil etwas vom Ende her erzählt wird, womit die Erzählung als solche überflüssig wird“« schreibt Frank Witzel in seinem neuen Roman. Es mag daher verwundern, dass dieser wenige Wochen nach dem Tod seines Vaters einsetzt und damit von einem Ende her erzählt. Allerdings ist dieses Ende hier Ausgangspunkt einer Reise, die ihn erst zu den Hinterlassenschaften (in) der elterlichen Wohnung und von dort zu den familienbiografischen Erinnerungssplittern führen.

Der Tod des Vaters ist also doch der Anfang einer Geschichte und nicht ihr Ende, der sich Witzels schreibend-erzählendes Alter Ego hier stellt. Und so schmerzhaft der Verlust auch sei, soll er nicht den Blick des Schriftstellers auf das trüben, was er nun schreibend ergründen möchte. Gemeint ist die Familiengeschichte, festgehalten in Briefen, Tagebüchern, Schulheften, Familienalben und Fotografien, auf die der Erzähler in den Wochen nach dem Tod des Vaters beim Beräumen der elterlichen Wohnung stößt. Doch je tiefer er in den Memorabilien versinkt, desto mehr verschwimmen Wirklichkeit und Imagination.

Bei seinem Stöbern stößt der Erzähler-Witzel auf verschiedene Familiengeheimnisse, die bis zu den Großeltern zurückführen. So war der Großvater väterlicherseits als strenggläubiger Katholik im Dritten Reich in der Kirche aktiv. Ist das schon Widerstand, fragt sich der Erzähler, während er zugleich darauf stößt, dass sowohl seine Großmutter als auch noch seine Mutter die Elternfibel der Nationalsozialisten besessen und möglicherweise konsultiert hat. Er stößt auch auf die Tage- und Notizbücher seines Vaters Karl Witzel, in denen die Geschehnisse in den »einfachen Worten eines schlichten, jungen, bedeutungslosen Menschen« festgehalten sind. Darin findet sich auch der seltsame Briefwechsel mit einem rätselhaften Mann aus einer Nervenheilanstalt sowie eine Art autobiografischer Lebensabriss, den der Vater nicht etwa am Ende seines Lebens verfasst hat, sondern kurz nach Kriegsende, zur Stunde Null, um dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Neuanfang nachzukommen.

Frank Witzel: Inniger Schiffbruch. Matthes & Seitz 2020. 355 Seiten. 24 Euro. Hier bestellen

All diese Trouvaillen bringen den Erzähler Frank Witzel dazu, das Leben seiner Eltern und Großeltern noch einmal unter neuem Licht zu betrachten. Aus den Vermutungen erwächst gemeinsam mit den haptischen Funden – den Fotografien, der Plattensammlung und den Fotoschachteln sowie der elterlichen Einliegerwohnung selbst, die über Gerüche und Raumatmosphäre Kindheits- und Jugenderinnerungen beim Erzähler evoziert – das Panorama einer aus dem Krieg hervorgehenden Gesellschaft. So ist die Souterrainwohnung der Eltern für Witzel der ultimative Beweis dafür, dass die Bundesrepublik zwanzig Jahre nach Kriegsende »die Erinnerung an Luftschutzkeller und Bunker so erfolgreich verdrängt hatte, dass sie erneut in der Realität auftauchen konnten.« In diesen lagern noch die alten vergifteten Schriften von damals mit getünchten Titeln, die Erinnerungen kleben an jedem Stück der Existenz, man muss sie nur zu lesen wissen.

Witzel kann das und muss zugleich scheitern, weil ein Wahrheitsgehalt oft gar nicht festgestellt werden kann. Seine Überlegungen sind nachgereichte Interpretationen der Fundstücke, die alle auch einen vorgegebenen Rahmen haben. So wie das Gerhard-Richter-hafte Foto von Farbstreifen, dass er in der Fotoschachtel der Eltern findet. Auf dem Rücken steht »Die Queen auf dem Weg nach Wiesbaden«, zu sehen ist offenbar der vorbeirasende Zug. Ob das so ist, lässt sich nicht überprüfen, man muss es annehmen. Man kann dieses Bild als Allegorie auf die rauschende Erinnerung des Erzählers lesen, deren Wahrheitsgehalt ebenso wenig festgestellt werden kann. Man muss sie voraussetzen, sonst funktioniert es nicht.

»Inniger Schiffbruch« ist der persönlich missglückte, schriftstellerisch aber geglückte Versuch, das Leben der eigenen Eltern aus einem nüchternen Blickwinkel heraus zu fassen zu bekommen. Wo dabei Wahrheit aufhört und Fiktion beginnt, weiß selbst der unzuverlässige Erzähler nicht genau zu sagen. Aber sollte das ein Schriftsteller nicht können, zumal einer vom Rang des Deutschen Buchpreisträgers? Über diesen Zweifel an der eigenen Berufung als Schriftsteller und über das Scheitern als solches hat Witzel nicht nur vor Jahrzehnten in einem Brief nachgedacht, den er in der Wohnung der Eltern findet, sondern auch kürzlich in seinem metaphysischen Tagebuch »Uneigentliche Verzweiflung«. Es enthält Notizen, die er täglich zwischen dem 23. September und dem 23. November 2018 gemacht hat. Ein »immer weiter denkendes Schreiben«, wie es an einer Stelle heißt, das entweder immer tiefer in eine Sache hineinführt oder immer weiter von ihr weg.

Frank Witzel: Uneigentliche Verzweiflung Matthes & Seitz 2019. 295 Seiten. 22 Euro. Hier bestellen

Dieses denkende Schreiben beginnt mit einer starken Aussage, gleich am Ende des ersten Absatzes: »Man kann im Leben scheitern. Man kann im Erzählen scheitern. Aber nicht im Denken. Schließlich ist Denken ein Herausfinden, ein Prozess, der auch dann nicht gescheitert ist, wenn das Denken selbst seinen Ansatz als unbrauchbar erkennt.« Später folgt dann die Einschränkung: »Ich bin mir da nicht mehr so sicher. Aber selbst wenn es ein Scheitern im Denken gibt, so ist es nicht weiter dramatisch. Vielleicht ist das auch eine Erkenntnis.« Es geht in diesem Erkenntnisbuch um Demut und Versuchung, Furcht und Vergnügen, um Philosophie, Theologie und Pharmakologie. Luther, Kierkegaard und Heidegger stehen dabei ebenso Pate wie Franz Kafka, Simone Weil und Roland Barthes.

Aber zurück zum Schreiben und Witzels Selbstergründung. Sein eigenes Schreiben sieht er auch als ständiges Scheitern, weil »ich immer die kleine Form anstrebe, aber nie erreiche, weil ich meine, sie sei zu einfach, dabei ist sie für mich nicht zu erreichen, folglich zu schwer.« Er schlägt daher später vor, dieser kompakten Denkanordnung den Titel »Unvoreingenommenes Scheitern« zu verpassen, »weil mir damit wenigstens das Scheitern hätte gelingen können.« So aber bleibt der Zweifel und dessen überaus schöpferische Kraft. Gemeinsam machen sie die sich über Tage fortschreitenden Gedankengänge in Witzels Denktagebuch so lesenswert.

Dieser Drang nach aktivem Denken zeiht sich auch durch den »Innigen Schiffbruch« in der Auseinandersetzung mit dem Leben seiner Eltern. Seine als Roman angelegte autobiografische Erkundung ist der Beweis, dass aus dieser Verzweiflung heraus Literatur entstehen kann. Eine Literatur, die sich vor der Literatur selbst verneigt und in den Schriften von Theodor W. Adorno, Iwan Turgenjew, Franz Kafka, Ingeborg Bachmann, Joseph Roth, István Örkeny oder Marcel Proust Erklärungen und Trost sucht. Etwa wenn Witzel die verschiedenen Anfahrtswege zum Elternhaus mit den Wegen vergleicht, die Prousts Erzähler in Combray zurücklegen kann. Und er macht diese Bezug zu Prousts Jahrhundertroman noch expliziter, wenn er schreibt, seine Suche sein »nicht die Suche nach der verlorenen Zeit, sondern die nach dem verlorenen Ort, der noch schwerer zu finden ist, weil er im Gegensatz zur Zeit nicht vergeht, sondern immer weiter existiert.« Dieser verlorene Ort ist die Wohnung, die er nun räumt und der ihm immer rätselhafter erscheint, je mehr er sich von diesem treiben lässt. Treiben wie ein Schiff, dass irgendwann auf Grund laufen und Schiffbruch erleiden muss. »Da das Ende immer und ganz zwangsläufig ein Schiffbruch ist, dem man sich allein zu stellen hat, während andere ihn vom Ufer aus betrachten.«

Und so wie Witzel den Schiffbruch seiner Eltern hier post mortem betrachtet, betrachten wir Leser:innen seinen Schiffbruch, dies nüchtern zu beschreiben. Dabei entsteht ein Gesellschafts- und Sittenbild der jungen Bundesrepublik, deren Wurzeln tief in die Abgründe des 20. Jahrhunderts reichen, in der zugleich aber eine Generation (die des Autors) aufgewachsen ist, die sich mit Beat-Musik und Flowerpower diese Dunkelheit vom Leibe gehalten hat. Nach seinem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Geniestreich »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« und der unten die Haut gehenden Nachkriegsfiktion »Direkt danach und kurz davor« wirft Witzel hier erneut seine halb fiktionale, halb autobiografische Erzählmaschine an, mit der er die Genese der BRD poetisch Stück für Stück zu ergründen sucht. Sujetbedingt schnurrt sie diesmal zwar nicht ganz so harmonisch, aber intelligent, überraschend und virtuos ist dieses Buch allemal.

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