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Dicke Klötze: Sachbuch-Schwergewichte der Saison

Historische Studien und monumentale Biografien bestimmen das Feld der zwanzig voluminösesten Titel im Bereich Sachbuch. Von der Ernst-Jünger-Gesamtausgabe über die Schriften zur Literatur von Gutenberg-Preisträger Jan Philipp Reemtsma sowie zahlreiche historische Studien bis hin zur in Frankreich gefeierten Barthes-Biografie. Ein Überblick über die faktenreichen Schwergewichte des Herbstes. 

Ernst Jünger gehört zu den wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts, sein in die Abgründe der Kriege abtauchendes Werk ist ebenso bedeutend wie umstritten. Seine Tagebücher und Feldpostbriefe von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs lassen angesichts der Eindringlichkeit und Verbitterung auch heute noch das Blut in den Adern gefrieren. Jahre später wandelte er auf den Marmorklippen, in denen kein geringerer als Thomas Mann »das Renommierbuch« und zugleich das Problembuch der nationalsozialistischen Zeit erkannte.

Klett Cotta. 11.700 Seiten. 449,- Euro.
Klett Cotta. 11.700 Seiten. 449,- Euro.

Nachdem im vergangenen Jahr die erste kritisch-historische Ausgabe seiner aufwühlenden Darstellung der entsetzlichen Erfahrungswirklichkeit des Ersten Weltkriegs In Stahlgewittern erschienen ist, gibt Klett-Cotta nun erstmals sein Gesamtwerk als 22-bändige Taschenbuchausgabe heraus. Jünger faszinierte und polarisierte in seinem sich gegenüber schonungslosen Wandeln zwischen den Welten. Der Mann, der sich am ersten Kriegstag im August 1914 freiwillig zum Kriegsdienst meldete und anschließend durch die Hölle ging, wurde sieben Jahrzehnte später zur Versöhnungsfeier von Verdun eingeladen; weil er neben der Verführung und der Ästhetik der Macht auch niemals ihre Abgründe und Schrecklichkeiten verschwieg. So wurde aus dem Kriegsfreiwilligen ein engagierter Patriot. Ein streitbarer und wandelbarer Geist, ein literarisches Chamäleon, heißt es in der Ankündigung des Verlags: Ernst Jünger hat eindringlich Zeugnis über seine Zeit abgegeben. Thomas Assheuer bezeichnete ihn einstmals als »Ästhet des Schreckens«, dessen Literatur das Entsetzen buchstabiert: Der Krieg als Jüngers Initialkatastrophe bildet für ihn das Archaische im Herzen der Moderne. »Was bleibt, ist bunter Staub.«

Verlag C.H.Beck. 1.200 Seiten. 98,- Euro.
Verlag C.H.Beck. 1.200 Seiten. 98,- Euro.

Ohne Zweifel wäre die intellektuelle Landkarte Deutschlands ohne das Wirken des Mäzens, Publizisten, Philosophen, Gewaltforschers und Literaturwissenschaftlers Jan Philipp Reemtsma deutlich kleiner. Der Hamburger ist ähnlich wie Herfried Münkler, Heribert Prantl oder Harald Welzer qua Expertise zu einem der wichtigsten »public intellectuals« Deutschlands geworden. Als Stifter und Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung sowie als Mitbegründer der Arno-Schmidt-Stiftung ist er nah an den gesellschaftspolitischen und kulturellen Debatten dran. Vor allem aber ist Reemtsma ein herausragender Buchmacher sowie ein glänzender Leser und Interpret literarischer Texte. Nicht zufällig hat er den diesjährigen Gutenberg-Preis erhalten. In der Laudatio wurden die von ihm verantworteten Editionen von Christoph Martin Wieland, Arno Schmidt, Theodor W. Adorno, Jean Améry, Walter Benjamin oder Immanuel Kant herausgestellt, sie » erfüllen in hohem Maße grafische, typografische und buchästhetische Ansprüche«. Weiter hieß es dort, dass sich der Schriftsteller und Herausgeber Jan Philipp Reemtsma »immer wieder verantwortlich zu gesellschaftlichen, juristischen und literarischen Fragen der Gegenwart geäußert [habe]: Im Zentrum seiner Vorschläge und Handlungen stehen dabei Fragen, die ihren Angelpunkt in Ereignissen des deutschen Jahrhunderts haben«. Die nun erscheinende dreibändige Ausgabe seiner Schriften zur Literatur enthält Überlegungen zu Homer und Shakespeare, Lessing und Wieland, Ernst Jünger und Arno Schmidt, Imre Kertesz und Stephen King, darüber hinaus Texte zu Grundfragen der Literaturtheorie. Die Texte seien »nicht nur eine reich gefüllte Schatztruhe der Weltliteratur, sondern auch eine hohe Schule des Lesens«, heißt es beim Verlag. Reemtsmas Schriften zur Literatur kommen in drei Leinenbänden daher, in denen man zweifellos vieles über das Vermächtnis von Literatur und Literaturkritik erfahren kann.

Gregor Schöllgen: Gerhard Schröder – Die Biographie. Siedler Verlag 2015. 1.024 Seiten. 34,99 Euro
Deutsche Verlagsanstalt. 1.024 Seiten. 34,99 Euro.

Altkanzler Gerhard Schröder polarisiert, auch noch ein Jahrzehnt nach seiner Abwahl. Das war aber offenbar schon immer der Fall, wie Gregor Schöllgen in seiner monumentalen Kanzlerbiografie zu zeigen beabsichtigt. Ob er als Juso-Vorsitzender die eigene Truppe aufmischte, als junger Bundestagsabgeordneter den politischen Gegner in Wallung brachte, als Rechtsanwalt Außenseiter verteidigte oder als Ministerpräsident den Alleingang zur Perfektion entwickelte – der vorwärtstürmende Aufsteiger aus randständigem Milieu habe immer provoziert. Als Bundeskanzler verweigert er 2001 den USA die willfährige Gefolgschaft im Irakkrieg und riskierte damit das langjährige Vertrauen beider Staaten ineinander. Mit seiner Agenda-2010 bildete er die Grundlage für die wirtschaftliche Erholung Deutschlands unter Kanzlerin Angela Merkel, verspielte aber das Vertrauen der eigenen Anhänger und damit auch die Kanzlerschaft. Vollends zur Reizfigur wurde er mit seiner Rolle bei den Verträgen zur Ostseepipeline der Nord Stream AG, bei der er nach seiner Kanzlerschaft einen Posten im Aufsichtsrat annahm und seinem persönlichen Freund Wladimir Putin trotzt er aller Kritik die Treue hielt. Nach Max Weber und Willy Brandt hat der Historiker und FAZ-Journalist Gregor Schöllgen nun Gerhard Schröder »die erste große und Maßstab setzende Biographie dieser ungewöhnlichen Politikerpersönlichkeit« geschrieben«. Sie wird eine Dekade nach seinem Abgang ohne Zweifel für rege Diskussionen im Blätterwald sorgen.

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Propylän Verlag. 1.056 Seiten. 39,- Euro.

Johannes Fried ist nur Experten bekannt, dann aber gleich im internationalen Maßstab. Bis 2009 hatte er den Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt inne und dort den Ruf eines der renommiertesten Mediävisten erlangt. Seine Biografie von Karl dem Großen oder seine Zusammenstellungen zu Kultur, Geschichte und Erinnerungsorten des Mittelalters fanden viele Leser über die Geschichtswissenschaften hinaus. Fried hat sich vor allem auf dem Gebiet der Verbindung von Hirn- und Geschichtswissenschaft verdient gemacht, im Mai erhielt er die Carl-Friedrich-Gauß-Medaille für seine »wegweisenden Arbeiten zur Umformung menschlicher Gedächtnisleistungen und ihres Niederschlags in historischen Quellen«. In seiner Darstellung Die Anfänge der Deutschen. Der Weg in die Geschichte entwirft er ein Panorama der Epoche zwischen dem 6. und dem 11. Jahrhundert, als mit der Herausbildung des karolingischen Reiches die Wurzeln für das spätere Deutschland gelegt wurden. Fragen wie »Wer waren die Menschen, die Deutschland schufen? Woher kamen sie, was prägte sie, was wollten sie? Welche Sprache sprachen sie, wie lebten sie, was dachten sie? Strebten sie nach staatlicher Einheit, oder war ihnen ihre Stammeszugehörigkeit genug?« stehen dabei im Mittelpunkt. »Eindringlich und fesselnd schildert Fried die Anfänge der Deutschen in der Mitte Europas, ihre vielfältigen Wurzeln in Ost und West und ihren mühsamen Weg zu sprachlicher und kultureller Einheit. Geschichtsschreibung, wie man sie sich wünscht«, schreibt sein Verlag. Seine Leser werden es zu schätzen wissen.

Hoffmann & Campe. 1.020 Seiten. 28,- Euro.
Hoffmann & Campe. 1.020 Seiten. 28,- Euro.

Marcel Reich-Ranicki gehörte zu den gefürchtetsten und zugleich angesehensten Literaturkritikern Deutschlands. Es gab kein bedeutsames Werk der Gegenwartsliteratur, das er nicht in tiefem Ernst und zugleich vergnügt auf seine literarische Qualität und den erzählerischen Gehalt prüfte. Seine das Literarische Quartett eröffnende Aussage »Wir werden über Bücher sprechen, und zwar, wie wir immer sprechen: liebevoll und etwas gemein, gütig und vielleicht ein bisschen bösartig, aber auf jeden Fall sehr klar und deutlich. Denn die Deutlichkeit ist die Höflichkeit der Kritiker.« ist legendär. Während sein Auseinandersetzung mit der Gegenwartsliteratur immer wieder auch in einem gemeinen und zuweilen bösartigen Ton stattfand, war der polnisch-deutsche Publizist meist voll des Lobes, wenn die Rede auf die deutschen Klassiker kam. Der voluminöse Band Meine deutschen Klassiker – Kafka, Heine, Büchner, Kleist, Lessing führt die ihm wichtigsten nun zusammen. Lessing, der »Vorkämpfer und Wegbereiter der Kritik«, hatte er dabei immer im Ohr. Büchner war der »Dichter seiner Jugend« und ist immer sein Dichter geblieben, Kleists Poesie habe »die deutsche Welt, reicher, klüger und schöner gemacht«, Heines Lyrik lobte er als empfindsam, seine Prosa als »leidenschaftlich und zugleich ironisch«. Und Kafka, ja an Kafka führte auch für ihn kein Weg vorbei. Er sei einer der »größten Schriftsteller, die in deutscher Sprache geschrieben haben«, so Reich-Ranickis Urteil. Auf über eintausend Seiten sind hier Reich-Ranickis deutsche Klassiker versammelt, mit denen man noch einmal in das Schwärmen von Deutschlands größtem Kritiker eintauchen kann.

Hamburger Edition. 990 Seiten. 45,- Euro.

Im Juli 1995 ereignete sich in der bosnischen Stadt Srebrenica das schwerste Kriegsverbrechen Europas. Vor den Augen der Blauhelmsoldaten der Vereinten Nationen ermordeten bosnisch-serbische Christen mehr als 8.000 bosnische Muslime und missbrauchten Frauen und Kinder. Über 25.000 Menschen flohen vor der ethnischen Gewalt, die der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien als Völkermord einstufte. Anhand von Beweisdokumenten und Zeugenaussagen des Internationalen Strafgerichtshofs, Interviews und Erinnerungen erzählt Journalist und Autor Matthias Fink in Srebrenica. Chronologie eines Völkermords oder Was geschah mit Mirnes Osmanović die Vorgeschichte und den Ablauf der grausamen Tage von Srebrenica im Juli 1995. Zum 20. Jahrestag des Massakers zeigt der Autor in dieser bislang umfassendsten »Chronologie des Völkermords«, warum die »ethnische Säuberung« des Bezirks Srebrenica am Ende in den Völkermord geführt hat und weshalb bosnische Regierung, bosnische Truppen, die Weltgemeinschaft und die UN-­Schutztruppe den grausamen Ereignissen hilf- und tatenlos zugesehen haben. Dabei zieht sich die Geschichte des 14-­jährigen Mirnes Osmanović, der am 13. Juli zum letzten Mal lebend gesehen und dessen Gebeine 14 Jahre später in einem anonymen Massengrab wieder aufgetaucht sind, wie ein Leitmotiv durch die historischen Ereignisse. »Eindrücklich werden Aussagen der Überlebenden, aber auch der Täter und der Zuschauer dargestellt, sodass die Gewalteskalation sowie die Erfahrungswelten der Beteiligten bestechend, erschreckend und auch anrührend anschaulich werden«, heißt es in der Verlagsankündigung.

6 Kommentare

  1. […] Interpretationen der Fundstücke, die alle auch einen vorgegebenen Rahmen haben. So wie das Gerhard-Richter-hafte Foto von Farbstreifen, dass er in der Fotoschachtel der Eltern findet. Auf dem Rücken steht »Die Queen […]

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