Der Romancier und Musiker Frank Witzel legt mit seinem Romankoloss »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« eine rasante Achterbahnfahrt durch die Traumata der Bundesrepublik und das verwinkelte Erinnerungsgebäude seines ambivalenten Erzählers vor.
Frank Witzels Erzähler weiß, was niemand weiß, nämlich dass die Rote Armee Fraktion ursprünglich einen anderen Namen tragen sollte. Die »Tupamaros von Biebrich« klang seiner Schülerbande dann aber doch zu provinziell, so dass sie sich anders entschied. Als gleichsam juvenile und naive Trittbrettfahrer wollen sie den Baaders und Ensslins nacheifern, die erst ein Jahr später unter dem Deckel der gleichnamigen Terrorgruppe berühmter werden sollten, als es die Beatles damals noch waren.
Terror und Musik drücken dem Sommer 1969 (und diesem aus der hessischen Provinz in die BRD ausstrahlenden Roman) ihren Stempel auf, denn während sich Teile des Love-and-Peace-Hippietums in eine gewaltbereite Terrorgruppe verwandelten, wurde die Beatmusik vom Rock’n’Roll abgelöst. Wo vorher die Beatles in katholischer Frömmigkeit regierten, triumphierte nun die luziferische Musik von Mick Jagger und Co. Dieser Wandel in der Popkultur ist für den Erzähler in dieser unerschrocken irrwitzigen Achterbahnfahrt durch die bundesrepublikanischen Traumata eine Katastrophe, da er sich an die Beatles klammert wie andere an die heilige römische Kirche. Er gleicht die Songtexte der britischen Popband mit seiner Lebenswirklichkeit ab, sucht das eigene Sein im Bewusstsein seiner Lieblingsband und findet bei einer größenwahnsinnigst-kühnen Analyse von Rubber Soul, der sechsten Platte der Beatles, wahre Schätze des Glaubens. Allein für die großartige (literarisch beabsichtigte) Fehldeutung dieser Platte lohnt sich die Lektüre, denn der Erzähler erfährt dort, dass Rubber Soul »eine konsequente Teufelsaustreibung und Befreiung von den Mächten des Bösen in 14 Schritten [ist]. 14 ist die Zahl der Stationen des Kreuzwegs und auch die Zahl der 14 Nothelfer.«
Die Teufelsaustreibung spielt in der Form der Austreibung der autoritären Ideologie der Kirche in Witzels bundesrepublikanischer Geschichtsschreibung eine beachtliche Rolle, denn sie steckt in der DNA der Nachkriegsgesellschaft wie das Erbe des Nationalsozialismus. Als dem Erzähler die Beteiligung am Überfall auf den »Zeitschriften- und Tabakwarenladen von Frau Maurer« mit Wasserpistole und Beatlesperücke (auf dem Buchcover zu sehen) vorgeworfen und er eines verzweifelten Versuchs der Republikflucht unter umgekehrten Vorzeichen überführt wird, muss er in ein katholisches Konvikt und dort Buße tun. Es ist »die Frau von der Caritas«, die dies anordnet und die sich überdies um seine kranke Mutter und seinen vernachlässigten Vater, »den Fabrikanten«, kümmert. Der Fabrikant selbst kümmert sich wenig bis gar nicht um seinen Sohn, sondern muss als verlorener Moses der Neuzeit, zweifelhafter Leichenpräparator und »vom Kapital verbrannte Marionette« selbst seinen Platz in der Geschichte finden.
Die im Titel aufgeführte RAF und ihre Mitglieder finden hier nur am Rande einen Platz. In kurzen, quasireligiösen Gleichnissen widmet sich Witzels Erzähler satirisch ihren Biografien und Lebensverläufen. Derlei Einschübe gibt es zahlreiche, die sich mal den Schicksalen der Nebenfiguren, historischen Kapriolen oder den Abgründen der (Kollektiv-)Psychose der bundesrepublikanischen Gesellschaft stellen. Gegen den selbstgefälligen Rückzug auf diese rebellierten der Erzähler und seine Generation. Erzählt Philipp Felsch in seinem Sachbuch Der lange Sommer der Theorie die Geschichte einer Revolte vom Sofa aus, berichtet Witzels Erzähler in knapp einhundert Kapiteln direkt aus der Kampfzone sowie von den Ursachen und Folgen der dort geschlagenen Gefechte. Auf jeder einzelnen Seite wendet sich die Erzählung gegen »das Weiß, das entsteht, wenn die Erinnerung reißt«, das die bedrückende Kontinuität der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung nach dem 8. Mai 1945 erst möglich gemacht hat. »Natürlich sind die Nazis an allem Schuld« ist das Kapitel überschrieben, in dem Witzel der vermeintlichen Normalität dieses Zustands die grinsende Guy-Fawkes-Maske vom Gesicht reißt und andere historische Zäsuren zeigt, die die Abwesenheit von Nullstunden und historischen Gräben in der deutschen Geschichte sichtbar machen.
Die linksextremistische Revolution wandte sich aber auch gegen das in der Bundesrepublik beharrlich weiterregierende Triumvirat aus Staat, Familie und Kirche und die von eben jenem Dreigestirn herbeigerufene Ausbeutung der Arbeiterklasse durch das Kapital, die ihren Niederschlag im westdeutschen Klinker-Biedermeier gefunden haben. Witzels schon im Arbeitsstadium mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichneter Roman macht den Echoraum sichtbar, in dem dieser Protest bis heute – etwa in dem linken Schlachtruf »Kein Gott! Kein Staat! Kein Patriarchat!« – nachhallt.
Kadavergehorsam und Verdrängung (»Wir haben doch nichts gewusst!«) bildeten den Zeitgeist der Kriegsgeneration, deren lethargisch-schuldabweisendes Schweigen die Nachkommen in den Wahnsinn und auf die Barrikaden getrieben hat. Diese Barrikaden werden von Witzels diffusem und aufgrund seiner psychiatrischen Behandlung nur schwer als zuverlässig einzuordnendem Erzähler aus verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Zeiten reflektiert. Mal spricht der manisch-depressive Teenager zum Leser, dann wohnt man Befragungen und Verhören des erwachsenen Erzählers bei oder folgt dessen innerem Bekenntnismonolog kurz vor dem Tod. Da liest man dann Sätze wie: »Ist nicht gerade im Wahn die Historie aufgehoben, oder anders gesagt: Rebellieren Körper und Geist im Wahn nicht gegen die Demütigung des Menschen, nur ein Leben leben zu können und dieses Leben, welche Wendungen man ihm auch geben mag, doch nur immer linear nach vorn abspulen zu müssen, um erst im Nachhinein und über Generationen hinweg, wenn überhaupt verstehen zu können, was man getan hat?«
Wahrscheinlich ist es so, aber man sollte diesen Wahn nicht allzu schnell abtun, denn »man ist ja nicht immer wahnsinnig, sondern man ist wahnsinnig und dann wieder nicht, so wie man liebt und dann wieder nicht«, wie es im Roman heißt. Diese Diskrepanz macht Witzel in seinem Roman auf jeder Seite sichtbar, er widerspricht der irreführenden Annahme, die Wirklichkeit sei eine Ansammlung von Entitäten à la ‘Es gibt die eine Liebe, den einen Wahn, den einen Terror’, die immer wieder repetiert wird. »Und erlöse uns von unseren Gedanken und Meinungen und dem Versuch, Geschichte zu rekonstruieren und immer gleiche Gedanken in Wiederholungen zu perpetuieren und damit das kardiovaskuläre System langsam nach unten zu fahren«, bramarbasiert Witzels Erzähler. Das Aufheben der linearen und chronologischen Erzählweise ist dabei nicht erzählerisches Mittel zum Zweck, sondern Ausdruck dieser »frei in der Zeit flottierenden Geschichtsschreibung«, mit der sich der Roman gegen die herkömmliche Deutung der Geschichtsschreibung und Interpretation wendet.
Der aufbegehrende Erzähler spult dafür das Tape der Geschichte vor und wieder zurück, er drückt den Pausenknopf und wechselt die Kassette, oder aber er überspielt alte Aufnahmen mit neuen Versionen von Wünschen und Träumen. Dabei verändert sich auch die Tonart ständig. Das klingt zwar hilfreich, der Leser ist dennoch unablässig gefordert, um dem Erzähler und seinen Kapriolen zu folgen. Er reimt und singt wie Peter Wawerzinek, psalmodiert wie die alten Griechen, paraphrasiert und philosophiert im Stil von David Foster Wallace. Und nicht zuletzt analysiert und schwadroniert er, wie man sich das bei einem manisch-depressiven, aber belesenen Kerl vorstellt. Dabei kommt die philosophische Auseinandersetzung mit der Historie nicht zu kurz, von Nietzsche geht es über Marx, Heidegger, Foucault und Warburg bis hin zu den Literaten Mann, Böll und Handke. Insofern ist es ratsam, statt Stefan Austs Baader-Meinhof-Komplex besser Philipp Felschs bereits erwähnte Geschichte der Theorie als Wahrheitsanspruch und Weltanschauung in greifbarer Nähe liegen zu haben.
Frank Witzels berauschender Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 ist mit 800 eng bedruckten Seiten umfangreich, keine Frage. Sein tatsächliches Gewicht aber erhält dieser Koloss, weil er in einer tiefernsten und zugleich spielerisch leichten Art die Geschichte der alten Bundesrepublik erzählt, ohne dabei auf Daten und Fakten zurückgreifen zu müssen. Die Erzählung ist, wie im Titel erwähnt, eine Erfindung; ein Thema, das in verschiedener Weise im Roman immer wieder aufgegriffen wird. Da ist von der »Erfindung der Freundlichkeit« ebenso die Rede wie von der »Erfindung des Nationalsozialismus«. So fängt dieser Erzähler auf magische Art und Weise die beklemmende Atmosphäre einer in Vergessenheit geratenen Zeit ein. Er erzählt von Landesheften und Erbsensuppe, von »Gregor von Nazi-anz« und dem »Erzengel RAF-ael«, bürgerlichem Biedermeier und linker Revolution. Dass dabei kaum das Reaktionäre, sondern nahezu ausschließlich das Revolutionäre unter Verdacht stand, gehört zu diesem Sittengemälde der Bundesrepublik dazu, in dem jeder einzelne Bestandteil des erzählerischen Titels eine eigene Ebene und Wirklichkeit erhält.
Die Kapitel, deren oft aufschlussreiche Titel man meist erst nach dem Register zum Roman findet, tragen dann Titel wie »Die Verbindung von den Fleckentfernern der Nachkriegszeit zur historischen Figur des Judas«, »Ein Fragebogen (Binary Choice)« oder »Rede des erwachsenen Teenagers vom Weltgebäude der Spezialambulanz für Persönlichkeitsstörungen des Universitätsklinikums Eppendorf herab«.
»Die Erfindung der Freundlichkeit« lautet der Titel eines Traktats, das in mehreren Teilen in diesen Roman gestreut ist und eine Art Vermächtnis des Erzählers darstellt. Im letzten Teil »dieser überholten und nochmal aufgequirlten Bekenntnisprosa« heißt es: »Kommt die offizielle Geschichtsschreibung abhanden, so besteht die einzige Möglichkeit darin, dem Vergangenen die eigene Geschichte zu geben.« Dies könnte man nicht größer, genialer und irrwitziger machen, als der Erzähler dieses unmöglichen Romans, der noch seinesgleichen in diesem Bücherfrühjahr sucht. Sollten Sie nur ein einziges gutes Buch in diesem Bücherfrühjahr lesen wollen, dann nehmen Sie dieses!
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