Sechs Jahre nach seinem letzten Roman legt Haruki Murakami ein dunkel leuchtendes Alterswerk vor. Pünktlich zu seinem 75. Geburtstag erscheint heute sein neuer verblüffender Roman »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer«.
»Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt«, soll der argentinische Meister der Fantastik Jorge Luis Borges einmal gesagt haben. Folgerichtig spielen Bibliotheken in seinem Werk eine zentrale Rolle. »Die Bibliothek von Babel« ist nicht nur eine seiner berühmtesten Erzählungen (und Teil des »Fiktionen«-Bandes), sondern auch der Titel einer von ihm herausgegebenen und in der Edition Büchergilde erschienenen Buchreihe fantastischer Literatur.
Leider ist nicht übermittelt, ob der 1986 in Genf verstorbene Argentinier in seinen letzten Lebensjahren Notiz von einem jungen japanischen Autor namens Haruki Murakami genommen hat. Wenn doch, wäre es interessant zu erfahren, ob Borges damals schon eine Ahnung hatte, dass sich im fernen Japan einer aufmacht, seine Nachfolge anzutreten.
Dieser Anspruch wird in Murakamis neuem Roman »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer«, der pünktlich zum 75. Geburtstag des Japaners in deutscher Übersetzung vorliegt, einmal mehr sichtbar. Die Handlung der in drei Teilen erzählten Geschichte führt in eine geheimnisvolle Bibliothek, in der nicht das Wissen der Welt, sondern menschliche Träume aufbewahrt werden. Um diese zu interpretieren, braucht es einen Traumleser, der sich voll und ganz in den Dienst dieses Archivs in einer mystischen Stadt stellt.
Der erste Teil des Romans basiert auf einer frühen Kurzgeschichte, die Murakami 1980 in einer japanischen Literaturzeitschrift, aber nie als Buch publiziert hat. »Aus verschiedenen Gründen hatte ich das Gefühl, sie vorzeitig in die Welt gesetzt zu haben«, räumt Murakami in seinem Nachwort zum Roman ein. Mitte der Achtziger wollte er den Text schon einmal überarbeiten, herausgekommen ist mit dem fantastischen und für damalige Verhältnisse absolut visionären Cyberkrieg-Roman »Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt« aber etwas ganz anderes, süchtig machendes, wie kein geringerer als Büchnerpreisträger Clemens J. Setz einmal einräumte. Nun, vierzig Jahre später, hat er sich die alte Kurzgeschichte noch einmal vorgenommen und zu einem Alterswerk umgeschrieben, in dem noch einmal alles zum Leuchten gebracht wird, was Murakamis Literatur ausmacht.
Die Trilogie der Ratte
Haruki Murakami debütierte 1979 im Alter von 30 Jahren mit dem preisgekrönten Roman »Wenn der Wind singt«. Innerhalb von drei Jahren folgten die Romane »Pinball 1973« und »Wilde Schafsjagd«, die, benannt nach einem Freund des Erzählers, die »Trilogie der Ratte« bilden. Auch wenn sich Murakami von seinen ersten beiden Romanen lange Zeit distanzierte und Übersetzungen verhinderte (erst 2015 erschienen sie als Doppelroman in der Übertragung aus dem Japanischen von Ursula Gräfe), waren seine Texte schon von dieser faszinierenden Mischung aus Surrealismus, Mystizismus und Universalismus durchzogen.
Romane, die Murakami zum Literaturstar machten
Es folgten Bücher wie eben »Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt«, »Naokos Lächeln«, »Die Chroniken des Aufziehvogels« oder »Kafka am Strand«, die den ehemaligen Jazz-Bar-Betreiber zum national wie international erfolgreichsten Autor seines Landes machten. Mit einem Mix aus japanischer Tradition und westlicher Moderne, Musik (Jazz spielt auch im neuen Roman eine herausgehobene Rolle) und Literatur, magischem Realismus und existenzieller Philosophie hat er sich eine weltweite Fangemeinde geschaffen.
Ängste und Begierden
Schreibend beweist sich Murakami seit Jahrzehnten als Meister des Unbewussten, sprachlich seziert er die menschliche Psyche. In Romanen wie »Tanz mit dem Schafsmann«, »Afterdark« oder »Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki« legt er die Ängste und Begierden seiner Figuren frei. Immer wieder setzt er sich aber auch mit der Rätselhaftigkeit der Welt auseinander, etwa in den historischen »Chroniken des Aufziehvogels«, der spekulativen Dystopie »IQ84«oder dem Künstlerroman »Die Ermordung des Commendatore«. Einsamkeit, Verlust und Isolation spielen in seinen meist in Japan angesiedelten Geschichten eine zentrale Rolle. Dabei entwickeln sie in ihrer oft labyrinthischen Struktur einen Sog, dem man sich schwer entziehen kann.
Einsamkeit, Verlust und Isolation
Murakami-Geschichten beginnen oft mit ganz alltäglichen Szenen. »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer« setzt mit dem Spaziergang zweier Teenager ein, die sich über »die Stadt« und ihre Beschaffenheit unterhalten. »Schulter an Schulter sitzen wir im schwindenden Licht des Sommerabends und blicken auf die Stadt«, erinnert sich der namenslose Erzähler. Schon hier weiß man nicht, ob da von einer echten Stadt oder einem Wolkenkuckucksheim die Rede ist. Als ihm seine Angebetete eröffnet, dass ihr »wahres Ich« in der Stadt mit den hohen Mauern leben und in der Bibliothek arbeiten würde, während das Wesen an seiner Seite nur der »wandernde Schatten« ihrer selbst sei, fallen die Regeln realistischen Erzählens in sich zusammen. Hier beginnt das Vexierspiel um die Frage, wer hier eigentlich Ich und Du sagen darf und wen damit meint.
Der unwirklichen Welt der Stadt steht eine wirkliche Welt gegenüber, in der der 17-jährige Erzähler und seine Freundin an zwei verschiedenen Orten leben. Seit einem Schreibwettbewerb stehen sie im Briefkontakt. Nach einigen vieldeutigen Briefwechseln bleiben die Antworten auf seine Briefe aus. Also macht er sich auf die Suche nach seiner Geliebten. Seine Reise führt in ihn die seltsame Stadt, die von einer undurchdringlichen und zugleich beweglichen Mauer umgeben ist. Um in die Stadt zu gelangen, muss sich Murakamis tragischer Held von seinem Schatten trennen und eine Stelle als Traumleser in der Bibliothek antreten – eine existenzielle Entscheidung, wie sich im Laufe der Erzählung herausstellen wird.
Murakamis erfolgreichster Roman
Ende der 90er erschien erstmals Murakamis Roman über den Tagträumer Toru Okada, der nach seiner Kündigung bei einer Kanzlei erst Katze, dann Frau und schließlich den Boden unter den Füßen verliert. Damals basierte der Text der deutschen Ausgabe auf der gekürzten amerikanischen Ausgabe. Nun hat die deutsche Murakami-Instanz Ursula Gräfe erstmals das Original übertragen. Das Resultat ist in jedem Sinne berauschend. Sage und schreibe 300 Seiten länger ist ihre Fassung, sprachlich glatter und um einiges eleganter, so dass die japanische Kultur jetzt erst richtig zur Geltung kommt. Egal ob es um die Feinheiten der Perückenindustrie, um das Abtauchen Sexfantasien oder die Schilderung grausamer Kriegsverbrechen geht, man kann sich dieser schwindelerregenden Geschichte grandios neu übersetzt keine einzige Seite lang entziehen.
Spätestens seit Murakamis erfolgreichstem Roman »Die Chroniken des Aufziehvogels« wissen Murakami-Leser, dass Mauern für den Japaner Grenzen zwischen Welten darstellen. Mauern und Schatten sind wiederkehrende Motive in Murakamis Welten. Während die »ungewissen Mauern« die (durchlässigen) Grenzen zwischen unterschiedlichen Daseinsebenen markieren, symbolisieren Schatten die dunkle Seite der Seele. Das Neben- und Ineinander von echter Welt und fiktiver Stadt betonen die Gleichzeitigkeit von Körper und Seele, Außen und Innen, Bewusstem und Unbewusstem. »Licht, das keine Schatten erzeugt, ist kein richtiges Licht«, erklärte Murakami, als er 2016 den dänischen Hans-Christian-Andersen-Literaturpreis erhielt.
Das Motiv labyrinthischer Parallelwelten prägt einige Murakami-Romane. Man denke nur an die erschütternden Szenen in »Die Chroniken des Aufziehvogels«, in denen der Erzähler auf dem trockenen Grund eines Brunnens auf Erlösung wartet und sich in andere Welten flieht. Ein anderes Beispiel liefert Murakamis vertrackter Roman »Kafka am Meer«, in dem ein skurriler Mann im Frauenkörper Murakamis Vielweltentheorie folgendermaßen erklärt: »Neben der Welt, in der wir leben, existiert stets noch eine andere, die wir bis zu einem gewissen Punkt betreten, und aus der wir dennoch wieder heil zurückgelangen können. Doch wenn eine gewisse Grenze überschritten ist, gibt es kein Zurück mehr.« Die Schwierigkeit, in die echte Welt zurückzukehren, erfährt auch der namenlose Erzähler in diesem Roman.
Labyrinthische Parallelwelten
Vieles an der Stadt ist rätselhaft und ungewiss. Während außerhalb der Stadt die normale Welt existiert, grasen innerhalb der Stadtmauern Einhörner auf den Wiesen. Im Zentrum thront ein Uhrturm ohne Zeiger, »die wahre Zeit der Stadt liegt andernorts«, heißt es lapidar. Die Stadt ist das Kopfkino zweier Menschen, deren Körper nicht zueinander finden. Sie erträumen sich eine alternative Wirklichkeit, um beieinander sein zu können. Ob sich in diesem Reich der Imagination wirklich die wahrhaftigen Seelen zweier Menschen treffen oder nicht doch eher idealisierte, schattenlose Illusionen ihrer selbst, sei dahingestellt.
Dieser Teil ist nichts anderes als eine fantasievolle Allegorie auf die Liebe, wie sie nur große Autoren schreiben können. Frei von Kitsch zeichnet Murakami einen Sehnsuchtsort, an dem Liebende nicht sie selbst bleiben, sondern andere werden. »Derjenige, der aus dem Sandsturm kommt, ist nicht mehr derjenige, der durch ihn durchgegangen ist«, schrieb der Japaner die pantha-rhei-Formel in »Kafka am Strand« um. Aber was sind Gefühle ohne Körper, die sie fühlen? Und was Körper ohne Gefühle? Was wird aus Emotionen, wenn wir sie unterdrücken, und woher kommen sie, wenn sie uns unvermittelt einholen? Es sind solch existenzielle Fragen, die sich bei der Lektüre von Murakamis neuestem Roman einstellen.
Clemens J. Setz, der schon die Lobrede auf Murakami anlässlich der Verleihung des Welt-Literatzurpreises hielt, schrieb in seiner jüngsten Eloge auf Murakami in der Zeit, dass die Helden in dessen Geschichten einfach nur ihre Ruhe wollen, sich selbst nie für Protagonisten einer Erzählung halten. Das ist sicher ein Schlüssel zum Geheimnis, warum die Romane des Japaners beim Publikum so einschlagen. Murakamis Helden sind Figuren wie Du und ich, sie haben Alltagssorgen und sind von den Herausforderungen des Lebens gern schnell überfordert. Das gilt auch für seinen Erzähler im neuen Roman, der es im zweiten Teil auf mysteriöse Weise aus der seltsamen Stadt wieder in die wirkliche Welt schafft. Dort kündigt er seinen Job und verlässt Tokio, um in einem kleinen Ort in den Bergen eine lokale Stadtbücherei zu leiten.
Aber auch diese Bibliothek birgt ihre Geschichten und Geheimnisse. Eines der größten Rätsel ist eben der ehemalige Leiter Koyasu, der selbst ein Mann ohne Schatten und damit ein Seelenverwandter der Version des Erzählers in der mysteriösen Stadt ist. Ein anderes Rätsel tut sich um einen Jungen auf, der ein Yellow-Submarine-T-Shirt trägt und für den es in der echten Welt keinen Platz zu geben scheint. Jeden Tag kommt er in die Bücherei, um sich in die Fiktionen von Ludwig Wittgenstein, Franz Kafka, Arthur Conan Doyle und Gabriel Garcia Marquez zu flüchten. Außerdem lernt der Erzähler die Inhaberin des Coffeeshops am Bahnhof kennen, für die er zärtliche Gefühle entwickelt. Diese drei Figuren werden ihn auf ihre Weise mit seinen Erinnerungen an die geheimnisvolle Stadt konfrontieren.
Murakami und die Frauen
Murakamis Kritiker monieren, die Zeichnung seiner weiblichen Figuren, sie seien oft nur kriselnde Sidekicks der männlichen Protagonisten oder würden auf die Rolle eines sexuellen Objekts reduziert. Das literarische Quartett hatte sich 2000 über die erotischen Darstellungen in dem Roman »Gefährliche Geliebte« (der Auslöser einer Kontroverse um die Übersetzung von Murakamis Werken aus den englischen Übersetzungen war und später unter dem Titel »Südlich der Grenze, westlich der Sonne« direkt aus dem Japanischen übersetzt neu aufgelegt wurde) heillos zerstritten.
Manche halten Murakamis Frauenfiguren für entscheidend, um zu erklären, warum der Japaner seit Jahren beim Nobelkomitee durchfällt. Wenn dem so ist, wird auch der neue Roman nicht zu Murakamis Entlastung beitragen. Die wenigen Frauenfiguren in dieser Geschichte tragen Züge von Depression und Trauma mit sich herum, so unvermittelt sie auftauchen, so lautlos verebben ihre Geschichten auch wieder.
»Wir Menschen brauchen Geheimnisse, um auf dieser Welt zu überleben«, erklärt der namenlose Erzähler im neuen Roman und liefert damit einen Schlüssel, warum die Romane des Japaners meist dem magischen Realismus zugeordnet werden. Murakami hat sich dem Geheimnisvollen und Rätselhaften verschrieben, seine Texte sind darum konstruiert. In ihrer Mitte tun sich Löcher auf, durch die die realistische Erzählung auf die andere Seite der Wirklichkeit rutscht. »Fakten und Wahrheit sind zwei verschiedene Dinge«, liest man folgerichtig im dritten Teil des Romans, der sich in einer borges’schen Wende wieder der Stadt und ihrer ungewissen Mauer zuwendet.
Haruki Murakami und seine Übersetzerin Ursula Gräfe
Haruki Murakami (Foto: Noriko Hayashi) und Ursula Gräfe (Foto: Fotofabrik)
Weil kleine sprachliche Verschiebungen in Murakamis Kosmos ganze Welten versetzen, ist die Übersetzung von enormer Bedeutung. Dabei ist mehr Zurückhaltung als Entschlossenheit gefragt, um die Dinge im Vagen zu halten. Sätze wie »Etwas verband sich mit etwas.« mögen zunächst nichtssagend wirken, tatsächlich legen sie den Zugang zu Murakamis labyrinthischen Multiversen frei. Man kann deshalb die grandiose Übersetzungsarbeit von Ursula Gräfe gar nicht laut genug betonen. Seit über zwanzig Jahren überträgt sie Murakamis vieldeutiges Werk behutsam und gewissenhaft direkt aus dem Japanischen ins Deutsche.
Dass hierzulande selbst die frühen Romane Murakamis einen solchen Erfolg haben, ist ganz wesentlich auf ihre Neuübersetzungen zurückzuführen, die sich im Gegensatz zu den alten Ausgaben den Umweg über die englische Erstübersetzung sparen. Der Murakami-Sound, den seine deutschen Leser:innen im Ohr haben, ist eigentlich ein Gräfe-Sound. Eine Ehrung der 68-jährigen Übersetzerin mit einem der großen Übersetzerpreise ist überfällig.
Murakamis Literatur erfreut sich aber nicht nur unter Leser:innen großer Beleibtheit. Auch die filmischen, illustratorischen und auditiven Bearbeitungen seiner Werke sind überaus erfolgreich und nachgefragt. Werfen wir einen Blick auf das Kino, hier sprechen einige erfolgreiche Leinwandadaptionen für sich. Die Verfilmung von »Naokos Lächeln« durch den französischen Regisseur Trân Anh Hùng konkurrierte 2010 in Venedig um den Goldenen Löwen, Lee Chang-dongs »Burning«, basierend auf der Erzählung »Scheunenabbrennen«, gewann 2018 in Cannes den Kritikerpreis. Gleiches gilt für Ryusuke Hamaguchis Verfilmung der gleichnamigen Erzählung »Drive My Car« (enthalten im Band »Von Männern, die keine Frauen haben«), die im vergangenen Jahr zudem den Auslandsoscar erhielt.
Murakami-Erzählungen, illustriert von Kat Menschik
Wie bildgewaltig die Texte des Japaners sind, lässt sich auch an den illustrierten Ausgaben seiner Erzählungen und Romane dingfest machen. In Deutschland hat sich Kat Menschik als Illustratorin zahlreicher Erzählungen durchgesetzt, sie konnte den Japaner von ihren Siebdruckgrafiken überzeugen. Der taz erklärte sie vor Jahren, das Murakami jedes Artwork seiner Werke persönlich abnimmt. Murakami habe sich nach Ansicht ihrer ersten Arbeiten gewünscht, »dass er ab sofort jedes Bild von mir bekommt, sobald es fertig ist.« Auf dem englischsprachigen Markt hat sich der Kolumbianer Daniel Liévano mit seinem digitalen Mashup aus Aquarell- und Pastelltechniken als Murakami-Illustrator durchgesetzt. Die von dem Kolumbianer illustrierten Murakami-Romane, erschienen bei der Folio Society, sind prachtvole Schmuckstücke. Die Herausforderung bei dieser Arbeit bestehe darin, konnte man kürzlich von ihm in einem Porträt lesen, »eine einheitliche Bildsprache für die Murakami-Reihe beizubehalten und gleichzeitig die unterschiedlichen Stimmungen der einzelnen Bücher zu berücksichtigen.«
Daniel Liévano und Murakami
Im Bereich Hörbuch ist die Herausforderung nicht geringer. Auf der einen Seite gilt es, atmosphärische Wiedererkennbarkeit herzustellen, auf der anderen, die Unterscheidbarkeit der Geschichten und Figuren zu bewahren. Hier hat sich vor allem David Nathan hervorgetan, der in der Vergangenheit nicht nur die »Trilogie der Ratte«, sondern auch die beiden Bände von »Die Ermordung des Commendatore« sowie Murakamis den anspruchsvollen Wälzer »Die Chroniken des Aufziehvogels« fantastisch eingelesen hat. Sein sonores Timbre verankert die flirrenden Geschichten im Ohr, wie die Buchstaben sie auf den Seiten halten. Dass er nun auch den neuen Roman in gut 17 Stunden eingelesen hat, ist ein Geschenk für alle Hörbuch-Fans. Wo einem beim Lesen an mancher Stelle der Kopf raucht, schafft Nathan mit seinen Registern Klarheit.
Murakami-Hörbücher, eingelesen von David Nathan
Die Lösung eines Rätsels sei immer weniger interessant als das Rätsel selbst, heißt es bei Borges. »Rätsel haben etwas Übernatürliches und sogar Göttliches – die Lösung aber ist immer nur Handwerk.« In dem Sinne ist Murakamis quasireligiöse Literatur dem Mysterium des Lebens gewidmet, wir Leser:innen dürfen uns als Handwerker des Daseins an seiner Entschlüsselung versuchen. Dass dabei so manch ungewisse Mauer in unseren Köpfen und Herzen mindestens zum Wackeln gebracht wird, ist so sicher wie das Amen in der Kirche.