Der kanadische Journalist und Autor Omar El Akkad hat mit »Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein« eine leidenschaftliche Antwort auf den Krieg Israels in Gaza verfasst, in der er die Doppelmoral des Westens anklagt. Dass nicht jedes seiner Argumente das Ziel trifft, beweist der Blick in Bob Woodwards »Krieg«.
Der in Ägypten geborene und in den USA lebende Journalist und Autor Omar El Akkad hat vor dem Hintergrund des Zerstörungskriegs der einen Abgesang auf den westlichen Liberalismus verfasst, dessen Regeln, Konventionen, Ethik und Moral nur so lange existierten, wie sie «zur Erhaltung der Macht notwendig ist». Seine Streitschrift «Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein» ist ein Rant auf die Selbstgerechtigkeit des Westens, der auch nach mehr als 50.000 Toten im Gazastreifen in weiten Teilen immer noch an der Seite der rechtsextremen israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu steht.

Die jüngste Eskalation des Nahost-Konflikts, in den die Trump-Administration massiv eingegriffen hat, lieferte weitere Belege für die doppelten Standards. Die völkerrechtswidrigen, angeblich chirurgischen Angriffe der Israelis, bei denen hunderte iranische Zivilisten ums Leben kamen, rechtfertigte ein Bundeskanzler Friedrich Merz als »Drecksarbeit«, für die man dankbar sein sollte. Das allgemeine Gewaltverbot im Völkerrecht hat keine Bedeutung mehr. Angriffe auf Krankenhäuser, für die westliche Regierungen bei Israels Gaza-Krieg bis heute Verständnis zeigen, weil sich darunter Infrastruktur der Hamas befände, wurden bei Irans Gegenangriff aufs Schärfste verurteilt. Warum findet diese Verurteilung von Angriffen auf zivile Infrastruktur und medizinische Versorgungseinrichtungen nicht in gleichem Maße statt? Der Abschuss von Raketen aus Wohngegenden, den man bei der Hamas zurecht verurteilte, war für Israel bei der Auseinandersetzung mit dem Iran wiederum kein Problem. Das könnte man noch lange fortsetzen, allein der Ausschnitt bestätigt El Akkads Eindruck, der moderne Liberalismus sei aufgrund seiner Bigotterie am Ende.
El Akkad ist preisgekrönter Romanautor – 2021 erhielt er für seinen Roman »Stranger Than Paradise« den renommierten Giller Prize – und Kriegsreporter, für kanadische und US-amerikanische Medien berichtete er aus zahlreichen arabischen Ländern und Krisenregionen. Die Erfahrungen und Enttäuschungen, die er in Abu Ghuraib oder Guantanamo gesammelt hat, sind in seine in deutlichen Worten und drastischen Bildern formulierte Chronik eines Erkenntnisprozesses eingeflossen, der auch ein Bericht über das von ihm erwartete Ende des westlichen Liberalismus ist:
»Was geschehen ist, trotz all des Bluts, das deswegen noch vergossen werden wird«, schreibt El Akkad, »wird in Erinnerung bleiben als jener Moment, in dem Millionen Menschen auf den Westen, auf die regelbasierte Ordnung, auf die leere Hülle des modernen Liberalismus und der kapitalistischen Sache, der er dient, schauten und sagten: Ich will damit nichts zu tun haben.« Unzählige Menschen, die bislang den Liberalismus westlicher Prägung unterstützt hätten, würden absehbar beschließen, dass das westliche Wertesystem »die Beschädigung der eigenen Seele« nicht wert ist.
El Akkads Buch ist für alle, die nicht mehr unwidersprochen hinnehmen wollen, was ihnen im Westen aufgetischt wird. Es ist eine Art Ästhetik des Widerstands aus postkolonialer Perspektive. Ausgangspunkt der Überlegungen des Kanadiers ist sein Platz am Rechner im heimischen Oregon. Zahlreiche Tabs sind geöffnet, auf denen sich »ein blutiger Karneval der schlimmsten Kriegsverbrechen, die jemals live gestreamt wurden« offenbart.
Gemeint sind nicht Aufnahmen des grausamen Überfalls der Hamas, sondern Live-Bilder der tödlichen Militäroffensive der Israelis im Gazastreifen, von Kinderleichen und schwerstverletzten Menschen, von überfüllten Krankenhäusern und notdürftigen Flüchtlingslagern, von hungernden Menschen inmitten einer zerbombten Landschaft, in deren Trümmern der Tod wohnt. Entsprechende Szenen eröffnen jedes der zehn Kapitel, in denen El Akkad seine Desillusionierung stellvertretend für Millionen Menschen im globalen Süden beziehungsweise mit biografischen Wurzeln in jenen Regionen nachzeichnet.
Omar El Akkad im Original



Der Krieg in Gaza sei ein Krieg, den der liberale Westen nicht nur einfach so hinnehme, schreibt Akkad, sondern den er durch Waffenlieferungen, diplomatische Untätigkeit und beredtes Schweigen jeden Tag unterstütze. Die Mahnungen und Beileidsbekundungen westlicher Eliten sind für ihn nur hohle Phrasen. »Es kann nicht beides gleichzeitig sein, rhetorische Dringlichkeit und politische Ohnmacht.«
El Akkads Text ist extrem laut und zugespitzt, was die Gefahr birgt, seine Intervention allzu schnell als provokante Polemik abzutun. Etwa wenn er schreibt, dass die Menschen aus dem Westen Urteile über Leben und Tod fällen, während es die Aufgabe aller anderen sei, zu sterben. Die binäre Logik »der Westen« auf der einen Seite und »die anderen« auf der anderen ist schwer polemisch, Jens Balzer hatte das in seinem Essay »After Woke« deutlich kritisiert. Dieser eindimensional-postkoloniale Blick führt El Akkads berechtigte Einwände unnötig weg von einer völkerrechtlichen Argumentation auf das umstrittene identitätspolitische Feld.
Das ist bedauerlich, denn liest man weiter, stößt man auf globale Missstände, die El Akkads zugespitzter These ein breiteres Fundament geben. Etwa die (raubtier-)kapitalistische Ausbeutung natürlicher Grundlagen oder das gleichgültige Schulterzucken der Industriestaaten über den von ihnen wesentlich verursachten Klimawandel machen das Gefälle zwischen globalem Norden und globalem Süden abseits des Nahostkonflikts deutlich. El Akkad stellt die berechtigte Frage, welche ethische Legitimität ein System hat, in welchem man darauf hoffen muss, «dass das Wohlergehen kongolesischer Kinder wichtiger ist als der Wunsch nach immer noch leistungsfähigeren Smartphones?»
Es ist vor allem der Verrat der so genannten westlichen Werte, den El Akkad in seinem leidenschaftlichen Text anklagt. Wenn Kriegsverbrechen wie die der israelischen Armee im Gazastreifen nicht benannt werden, schütze man nicht nur die Täter, sondern stelle eine »leere Leinwand« zur Verfügung, »auf die jede beliebige Fantasie projiziert werden kann. Wenn alle palästinensischen Journalist:innen getötet wurden, hat es vielleicht nie palästinensische Journalist:innen gegeben. Vielleicht sind sie alle Terrorist:innen gewesen oder Unterstützer:innen von Terrorist:innen…«.
Zugleich macht es sich der Journalist und Autor an einigen Stellen zu einfach. Neben der pauschalen Dichotomie von »Imperium« einerseits und »den Geknechteten« andererseits etwa im Umgang mit Bidens Haltung gegenüber Israel im ersten Kriegsjahr. Während El Akkad der Biden-Regierung unterstellt, Israel einen Persilschein für den Waffengang im Gazastreifen ausgestellt zu haben, kann man in Bob Woodwards letztem Buch »Krieg« gut nachvollziehen, wie die USA diplomatischen Druck ausgeübt und Biden an vielen Stellen nur zähneknirschen das Vorgehen der Netanjahu-Regierung geduldet hat.

Wenngleich diese Streitschrift an vielen Stellen zu pauschal, zu laut und zu überzogen daherkommt, bietet sie eine wichtige Perspektive sowie längst überfällige Denkanstöße zum israelischen Vorgehen im Gazastreifen. El Akkad scheut sich nicht, die Bigotterie und Heuchelei des Westens im Umgang mit dem Gazakrieg zu benennen, sich auf universelle Werte zu berufen, die aber nicht universell verteidigt werden.
Das spüre man nicht nur direkt im direkten Umgang mit Israels rechtsextremer Regierung, sondern auch im Umgang mit kritischen Stimmen aus dem kulturellen Bereich. Hier spricht der Autor die Kontroverse um Adania Shibli und die abgesagte Auszeichnung ihres Roman »Eine Nebensache« mit dem LiBeraturpreis als auch die Kritik des israelischen Regisseurs Yuval Abraham und des palästinensischen Aktivisten Basel Adra auf der Berlinale 2024 an. Beide hatten bei der Auszeichnung ihres Films »No Other Land«, der später einen Oscar gewann, das Vorgehen Israels auf der Bühne kritisiert und sich solidarisch gegenüber den Menschen in Gaza und im Westjordanland erklärt. El Akkad ordnet beide Kontroversen in eine »Kaskade institutioneller Feigheit in der Kulturwelt« ein, die er ausmacht.
Es werde der Tag kommen, an dem es kein Wegschauen mehr gebe. An dem die Wirklichkeit stärker ist als das politische Kalkül, wenn die Gerechtigkeit die Macht schlägt. An diesem Tag werden alle schon immer dagegen gewesen sein, prophezeit der Kanadier. Weil es sicher ist. Weil es keine persönlichen Nachteile mit sich bringt, die Dinge beim Namen zu nennen. Und weil es zu spät sein wird, irgendwen zur Rechenschaft zu ziehen.
Vielleicht werden dann auch deutsche Gerichte feststellen, dass Vergleiche keine Herabsetzungen sind. Und dass ein »Nie wieder!« einen Bezugspunkt braucht.