Politik, Sachbuch

Postkoloniale Wirklichkeit

Der Journalist und Fotograf Issio Ehrich zeichnet in »Putsch. Der Aufstand gegen Europas Kolonialismus in Afrika« die jüngere (gesellschafts-)politische Entwicklung in Ländern wie Mali, Mauretanien, Senegal, Burkina Faso, Niger oder dem Tschad nach und zeigt, warum der Westen in der Region immer weniger Anhänger findet.

Issio Ehrich berichtet regelmäßig für Medien wie die ZEIT oder GEO aus der Türkei und der Sahelzone. Angesichts der immer schwierigeren Bedingungen, die für Journalisten und Korrespondenten in den zunehmend von Militärs regierten Ländern unterhalb der Sahara herrschen, leistet dieses erhellende Buch einiges.

Issio Ehrich: Putsch. Der Aufstand gegen Europas Kolonialismus in Afrika. Quadriga Verlag 2024. 288 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen https://bastei-luebbe.de/Buecher/Sachbuecher/Putsch/9783869951485
Issio Ehrich: Putsch. Der Aufstand gegen Europas Kolonialismus in Afrika. Quadriga Verlag 2024. 288 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen.

Zum einen macht Ehrich transparent, wer die jeweiligen Putschisten in den Ländern sind und vor welchem historischen Hintergrund sie sich überhaupt aufgeschwungen haben, nach der Macht zu greifen. Dabei wird deutlich, welchen Einfluss die interessengeleiteten europäischen, französischen und deutschen Irrwege in der Außen-, Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik auf diese Entwicklungen haben. Er zeigt, wie sich koloniale Haltungen und Politiken in der Ausbeutung der Böden und Meere fortschreiben und wie die kolonial belasteten Beziehungen die Staaten der Sahelzone in die Arme von Russland und China treiben, die hier keine koloniale Vorgeschichte haben.

Aber auch die vermeintlich von universalen Werten getriebene Politik führt zur Abwendung von Europa. »Die Beliebtheit Chinas rührt nicht zuletzt daher, dass Peking im Gegensatz zum Westen keine moralisierend daherkommenden Vorbedingungen für Kooperationen und Investitionen stellt«, schreibt Ehrich.

Zum anderen zeigt er anhand unzähliger Beispiele, wie politische Placebo-Maßnahmen die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort verschlimmern. Das können wirtschaftlich oder klimapolitisch motivierte Initiativen sein, aber auch völkerrechtliche Interventionen, hinter denen nicht selten ökonomische Interessen schlummerten. So habe Europa den Despoten in der Region lange Zeit die Treue gehalten, schreibt Ehrich, weil sie vermeintlich demokratisch gewählt wurden. Die Wahlmanipulationen solcher Urnengänge waren zwar weithin bekannt, wurden aber oft unter den Teppich gekehrt.

»Der Westen ist gespalten und dabei, sich im Sahel ins Abseits zu manövrieren. Die Ablehnung der europäischen und amerikanischen Politik wird immer größer. So groß, dass sich selbst der Tschad von Frankreich und den USA abzuwenden scheint. Für andere Kräfte entsteht immer mehr Raum.«

Issio Ehrich in »Putsch«

Diese Entwicklung ist aber nicht nur auf staatliches Handeln zurückzuführen, sondern auch auf die internationale Entwicklungshilfe, in die multinationale Konzerne ebenso eingebunden sind wie NGOs. Aber auch da läuft einiges schief, wie Ehrich mit Bezug auf internationale Studien und Schätzungen zeigt. Demnach seien 2010 rund 100 Milliarden US-Dollar an Entwicklungszusammenarbeit von Nord nach Süd geflossen, während das zehnfache an Geldern in die entgegengesetzte Richtung gegangen wären – durch Steuerflucht oder Abbuchungen multinationaler Unternehmen.

Ehrich zwingt in seiner Analyse zum Perspektivwechsel, indem er Menschen eine Stimme gibt, deren Sicht viel zu oft ignoriert wird. In zahlreichen Gesprächen mit Betroffenen vor Ort zeigt er, wie diese selbstgerechte Politik die Glaubwürdigkeit der europäischen Demokratien in der Region nachhaltig beschädigt hat und warum die autoritären – und oft auch islamistischen – Kräfte, die in der jüngeren Vergangenheit in der Sahelzone die Macht übernommen haben, so viel Zustimmung in der Bevölkerung haben. Der Historiker Achille Mbembe spricht hier von »Neo-Souveränismus«

»Putsch. Der Aufstand gegen Europas Kolonialismus in Afrika« versammelt die vielen problematischen und widersprüchlichen Strategien, auf die Deutschland und andere europäische Staaten sowie die Europäische Union seit Jahrzehnten im Umgang mit den afrikanischen Staaten zurückgreifen. Ehrich trägt mit diesem Buch zu einem besseren Verständnis für die Menschen in der Sahelzone und die dort herrschenden politischen Verhältnisse bei. Vor dem Hintergrund der Auslagerung der europäischen Asylpolitik in diese Regionen ist eine hochaktuelle Intervention, die insbesondere außenpolitisch Interessierte und Verantwortliche dringend lesen sollten.