Renald Luzier alias Luz blickt noch einmal auf seine Zeit bei »Charlie Hebdo« zurück. Fünf Jahre nach dem Anschlag auf die Redaktion erinnert er sich an seine Freund:innen und Kolleg:innen, an Recherchen und Diskussionen und vor allem an die besondere Verbundenheit der Macher des französischen Satireblattes.
Ist es ein Traum oder ein Alptraum? Die Frage stellt sich Luz’ Alter Ego zu Beginn seines bewundernswerten Erinnerungsbuches »Wir waren Charlie«, in dem er auf über 300 Seiten seine Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Cabu, Charb, Bernard, Honoré, Wolinski, Riss und später Catérine Meurisse auf Papier bringt. Denn in seinem Traum kommt er in die Redaktion und alle sind da. Es herrscht munteres Treiben, doch ihn scheint niemand zu registrieren. Kein Wort kann er mit ihnen wechseln, keinen Gedanken austauschen, seine Sprechblasen bleiben leer. Nach und nach gehen alle, am Ende sein Freund und Vertrauter Cabu, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Es sind nur wenige Zeichnungen, aber sie machen die anhaltende Verzweiflung des in Paris lebenden Karikaturisten über den Verlust seiner Freunde und Vertrauten sichtbar.
Schweißgebadet wacht er auf und was nun vor ihm liegt ist eine Nacht voller Erinnerungen. Mit einem kühlen Bier setzt er sich aufs Sofa und lässt dem Gedankenstrom freien Lauf. So erfahren wir, wie er 1991 Cabu auf der Straße in Paris ansprach und ihm seine Zeichnungen zeigte. Der aufgrund seiner Fernsehauftritte in ganz Frankreich bekannte Karikaturist war ein Idol für den jungen Luz. Von dessen Zeichnungen war er sofort angetan und nahm ihn mit zum Redaktionstreffen der Satirezeitschrift »La Grosse Bertha«, bei der schon mehrere der späteren »Charlie Hebdo«-Gründer aktiv waren. Dort lernt er viele seiner Weggefährten kennen, an die er sich auf den folgenden Seiten erinnert. Da ist Spaßvogel Charb, mit dem Luz seine Leidenschaft für Matt Groenings »Simpsons« teilt. In zahlreichen liebevollen Anekdoten zeigt Luz, wie sein Freund mit ihm und allen anderen in der Redaktionen seinen Schabernack trieb. Oder Redaktionschef Cabu, der sich nur allzu gern von den Witzen seiner Kolleg:innen ablenken ließ und von dem Luz vergeblich zu lernen versuchte, wie man Skizzen in der eigenen Jackentasche zeichnet. Oder Altmeister Gébé, der 2004 starb, von dem Luz aber lernte, dass Zeichnungen eine Wirkung entfalten. »Wenn nur ein Leser oder eine Leserin sich eine deiner Zeichnungen zu eigen macht, um die Welt zu verändern, dann bist Du es, der die Welt verändert«, sagte er ihm am Rande einer Demonstration zugunsten der Rechte von Migranten, auf der eine der Zeichnungen von Luz zur Schau getragen wurde.
Diese politische Sensibilisierung war es auch, die ihn dazu veranlasste, sich für Charlie Hebdo ins Wahlkampfteam von Jacques Chirac einzuschmuggeln und eine Reportage aus dem Zentrum der Macht zu verfassen. Oder einige befreundete Musiker auf eine Friedenstournee nach Jugoslawien zu begleiten, als dort der Krieg tobte. Aus Langeweile zeichnete er damals ein Militärgefängnis, wurde festgenommen und von einem Militärrichter befragt, der – sein Glück – seine Zeichnungen mochte. Oder an eine Reportage aus der Banlieue, wo er plötzlich von einer Horde Halbstarker umzingelt wurde und sich nur mit Porträtzeichnungen aus der Bredouille befreien konnte. »Zeichnen kann einen aus heiklen Situationen retten aber auch in welche hineinmanövrieren«, resümiert er. Peinlich war es auch zuweilen, etwa als er bei einem Abend der Hilfsorganisation »Humanité« seine Signatur auf einem Penis hinterließ.
So reflektiert »Wir waren Charlie« auch den Werdegang von Luz, wie er der wurde, der er heute ist. Nach den Nullerjahren war er einer der wichtigsten und aktivsten Zeichner des französischen Satiremagazins. Er entging dem Anschlag auf die Redaktion nur, weil er zu spät zur Redaktionssitzung kam. Sein weinender Mohammed auf dem Titel der Ausgabe nach dem Anschlag ging um die ganze Welt. In seinem Bewältigungscomic »Katharsis« verarbeitete er die Zeit nach dem Anschlag, seine Trauer, seine Fassungslosigkeit und seine Abscheu, trotzig weiterzumachen. »Eines Tages ist mir das Zeichnen abhanden gekommen. Am selben Tag wie auch eine Handvoll teurer Freunde«, begann seine im Herbst 2015 erschienene Traumaverarbeitung. Es war das erste Zeugnis, in dem sich eines der überlebenden Redaktionsmitglieder dem Grauen stellte. Catherine Meurisse sollte wenig später ihr Trauma in dem Album »Die Leichtigkeit« reflektieren, Philippe Lançon schrieb sich in dem Roman »Der Fetzen« die verletzte Seele aus dem Leib.
Mit »Katharsis« hatte sich Luz schon das abhanden gekommene Zeichnen wieder angeeignet, was ihm fehlte, war die Leichtigkeit. Die ist nun in »Wir waren Charlie« wieder da. Es ist ein Vergnügen, ihm dabei zu folgen, wie er den gesammelten Überresten von Radiergummis nachspürt und die Bilder in seinem Kopf, »die wiederkommen und sich stapeln wie in einem Kopierer« sichtbar macht (einen Auszug, der das sichtbar macht, stellte jüngst der herausgebende Reprodukt-Verlag online). Denn es sind Bilder der Freude, die zeigen, was Charlie und die Arbeit in dieser Redaktion mit diesen Menschen ausgemacht hat. So groß die »Je suis Charlie«-Unterstützung vor fünf Jahren war, sie blieb symbolisch. Was es wirklich bedeutete, Charlie zu sein, macht erst dieser Band sichtbar. Er zeigt die Redaktion als einen Haufen warmherziger Nerds, deren flirrende Inspiration den Esprit des französischen Satiremagazins geprägt hat. Deren unbändige Lebensfreude stets Antrieb und Motivation war, die Ungerechtigkeiten und Gemeinheiten der Welt ironisch aufs Korn zu nehmen. Und deren Spaß am Ulk dafür sorgte, dass ihnen nie langweilig wurde. Gemeinsam hatten sie die unbändige Lust, mit einem Lachen eine bessere Welt zu fordern. Das hat sie verbunden, mehr als alles andere.
Als er Monate nach dem Anschlag ankündigte, sich aus der Redaktion zurückzuziehen, waren viele verwundert, nicht wenige enttäuscht. Dieser mit großer Leichtigkeit und Humor gezeichnete Comic erst lässt verstehen, warum ihm gar keine andere Wahl blieb. Denn Charlie, das waren für ihn die Menschen, die er am 7. Januar 2015 verlor. Charb, Cabu, Tignous, Honoré, Wolinski, Oncle Bernard, Elsa Cayat und Mustapha Ourrad. Ihnen setzt er mit diesem Album ein Denkmal, wie sie es verdienen. Voller Leidenschaft, Hingabe und Liebe.
Charlie ist für Luz mehr als nur eine Zeitschrift, es ist eine Erfahrung. Es sind die Tintenflecken an den Fingern, die Freunde in Gedanken und der Beruf des Zeichners – »ein verdammt schöner Beruf«. All das ist nicht weg. Geht nicht weg. Auch die Menschen nicht, schreibt er abschließend. All das ist – wie der französische Titel auch sagt – unauslöschlich.
[…] Leben eigentlich keine Rolle. Das sind Momente, in denen man ahnt, dass da etwas in einem arbeitet. Im Prinzip ist die Arbeit an dem Comic für mich eine klassische Katharsis. Klingt abgedroschen. Aber offensichtlich hilft mir das Schreiben, das Kapitel mit meinem Vater […]
[…] der Comic auch eine Art Hommage an Ihre ermordeten Freunde aus der Charlie-Hebdo-Redaktion?Nein, keine Hommage. Die Toten sind tot, ich kann ihnen nichts mehr sagen. Aber es gibt die […]
[…] Unauslöschlich! […]