Es braucht kein Jubiläum, um Shakespeare zu lesen, eher eine Stimmung, ein Gefühl, eine Lust, für die sich allemal Spiegelungen im Werk des Dichters finden. Der 450. Geburtstag des Dramaticus ist allerdings ein willkommener Anlass, dem Leserpublikum neue Sichtweisen und Erkenntnisse, auch alte im neuen Gewand, vorzustellen.
Im C.H.Beck-Verlag ist Neil McGregors Shakespeares ruhelose Welt bereits in zweiter Auflage erschienen, Hans-Dieter Gelfert konnte beim selben Verlag jetzt mit William Shakespeare in seiner Zeit sein zweites Buch über den Dichter veröffentlichen. Beide versprechen keine neuen biographischen Erkenntnisse – was bei der vorhandenen Quellenlage allerdings eine Sensation wäre -, sondern wollen den Leser mitnehmen in die Welt des Will Shakespeare und sie tun das auf durchaus unterschiedliche Weise.
MacGregor, Direktor des British Museum und Autor der Geschichte der Welt in 100 Objekten, nimmt in bewährter Form die Dinge zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen, sichtbare Zeugnisse der unsichtbaren Vergangenheit, und erzählt ihre wahren oder denkbaren Geschichten. »Es liegt eine merkwürdige Kraft in Dingen: Sie können, einmal von uns hergestellt, unser Leben verändern.«
Gehen wir ins Museum, können wir sie betrachten: einen Kelch zum Beispiel, einen Dolch, eine Eisengabel, ein Porträt oder eine Reliquie. Wir staunen über diese Dinge, die die Zeit überdauert haben, blicken ehrfürchtiger fast auf die weniger gut erhaltenen, denn was mögen sie erlebt, gesehen haben, welche Geschichten können sie erzählen?
MacGregor erzählt sie uns und vermag auf eine derart lebendige und sinnliche Weise zu fesseln, dass man in diese vergangene Welt beim Lesen buchstäblich eintauchen und der eigenen für kurze Zeit abhanden kommen kann. Vermittelt durch ihren Erzähler können »Objekte leisten, was Textkritik nicht erreichen kann«. Ausgehend vom schlichten, silbernen Stratford-Kelch spannt der Autor in einem einzigen Kapitel einen schlüssigen Bogen über gängige Trinkrituale, Angst und politischen Gehorsam, den protestantischen Gottesdienst, Shakespeares Geburt und Kindheit, erste Begegnungen mit dem Theater bis hin zu jenem Kelch, der Hamlet den Tod bringen sollte.
Zwanzig Kapitel, zwanzig Objekte, zwanzig Reisen zurück in Shakespeares ruhelose Welt, die auf der Straße und die auf der Bühne. Sie war vor allem geprägt durch die Regentschaft Elisabeths I., die unglaubliche 45 Jahre andauerte, eine Zeit des Wandels, der zum großen Teil gewaltsam herbeigeführt wurde, des unablässigen Kampfes um Macht und Einflussbereiche – in England selbst, in Europa und zunehmend in der ganzen Welt. Das Leben war gefährlich, nicht nur für die Königin, sondern auch für deren Günstlinge und den Lehrling auf der Straße.
Und Shakespeares Theater The Globe wurde durch seine Dramen zur Bühne dieser Welt. »Alle, die Eintritt bezahlt hatten, hofften, in den Stücken Menschen agieren zu sehen, die waren wie sie selbst. Darum … treten im englischen Drama alle möglichen Menschen auf: Träger und Totengräber, Wachsoldaten auf ihren Posten, Kerle, die einfach auf den Straßen herumlungern. Solche Gestalten waren im Publikum. Sie waren auf der Bühne.«
Vieles, was dort gespielt und erlebt wurde, kommt uns auch heute bekannt vor: die Zukunftsängste angesichts unüberschaubarer realer oder scheinbarer Bedrohungen – Kriege, Krankheiten, Verschwörungen, Religionen und alles Fremde. Der Autor wagt immer wieder diesen modernen Blick, holt den Leser von heute gleichsam aus seiner Welt ab, um ihn in diese gar nicht so fremde Vergangenheit zu führen.
MacGregor erzählt mit beeindruckender sprachlicher Leichtigkeit und ist ebenso zu lesen. Seine spürbare Lust zu erzählen, zu imaginieren und zu ergründen ist mit Genauigkeit im historischen Detail verbunden. Durchgängig kommen Experten zu Wort – vom Historiker bis zur Fechtmeisterin des National Theatre. Vor allem aber spürt er in den Dramen Shakespeares all die weltlichen Dramen auf, hält immer die Verbindung zwischen Objekt, Zeit und Werk.
Noch zu erwähnen ist, dass dieses Buch, wie sein Vorgänger Geschichte der Welt in 100 Objekten, prächtig gestaltet ist. Zahlreiche Abbildungen der Objekte, Karten, Gemälde, Fotografien verlocken zum Blättern und Hineinlesen.
Will man die gerade auf sehr unterhaltsame Weise gewonnenen Erkenntnisse und Eindrücke vertiefen, kann man zu Hans-Dieter Gelferts William Shakespeare in seiner Welt greifen. Der Anglist und ausgewiesene Kenner der Shakespeare-Forschung erklärt zwar in seinem Vorwort, dass er von »Theorieüberfrachtung abgeschreckte Leser« zurückgewinnen möchte, indem er »das Innere des Dichters« in den Mittelpunkt rückt. Doch bietet er zunächst genau das: eine Fundgrube für vorgebildete Leser, die sich weitergehende sachliche Information wünschen.
Anders als MacGregor, der diese Frage nur am Rande streift, sucht Gelfert gleich zu Beginn die Zweifel an der Autorschaft Shakespeares auszuräumen. Die Debatte – obschon mindestens 150 Jahre alt und durch die Forschung längst obsolet – wird immer wieder gern entfacht, zuletzt für ein Massenpublikum durch Roland Emmerichs Kinofilm Anonymus (2011). Gelfert umreißt den Diskurs und geht auf die »großen Irrtümer« über den Dichter ein, wie zum Beispiel die vermeintlich mangelnde Bildung des Jungen vom Lande. Überzeugen können dabei eher die historischen Tatsachen als pikante Anekdoten oder der unzureichende stilistische Vergleich mit den wichtigsten potenziellen Kandidaten Christopher Marlowe und Edward de Vere.
Es folgen ein allgemein historischer sowie ein kulturgeschichtlicher Abriss der Shakespearezeit – von der Philosophie über Musik, die Naturwissenschaften bis hin zur (Garten-)Kunst. Ausführliche Kapitel beschreiben das Theater und damalige London sowie das elisabethanische Weltbild.
Gelferts Ausführungen über die englische Renaissance sind nicht uninteressant. Jedoch stehen zu viele Namen, Daten, Fakten meist völlig ohne Bezug zum Leben und Werk Shakespeares oder wirken eher bemüht, etwa wenn er schreibt: »… bei Shakespeare ist von Gartenfrüchten und -blumen oft die Rede.«
Das ändert sich erst im dritten Abschnitt des Buches. Es ist naheliegend, dass Gelfert in den Sonetten einen »Schlüssel zu Shakespeares Herz«sucht, denn es gibt keine persönlichen Zeugnisse, Briefe, Tagebücher o. a., die Auskunft über sein Innenleben geben könnten. Shakespeares Sonette gehören zum sprachlich Schönsten, was die abendländische Literatur zu bieten hat, sind voller Leidenschaft, Kraft und Schmerz.
Davon kann sich der Leser selbst überzeugen, denn Gelfert präsentiert eine eigene Auswahl von 30 der insgesamt 154 Sonette, das Original neben seiner eigenen, sehr gelungenen Übersetzung. Wem diese nicht gefällt, kann aus einer Vielzahl von Übertragungen wählen – allein die Nummer 18 ist fast zweihundert Mal ins Deutsche übersetzt worden. Das zeugt wohl gleichermaßen von dem Bemühen wie auch der Schwierigkeit, den Versen Shakespeares in der Übertragung gerecht zu werden, aber auch von ihrer zeitlosen Wirkmächtigkeit.
In einem weiteren Kapitel werden sämtliche Dramen – die Historien, Tragödien, Komödien und Romanzen – in Kürze vorgestellt und interpretiert, darüber hinaus ihre Entstehungs- und Rezeptionsgeschichten beleuchtet.
1623, sieben Jahre nach seinem Tod, gaben Shakespeares Freunde und Schauspielerkollegen John Heminges und Henry Condell eine erste Gesamtausgabe seiner Dramen heraus, das sogenannte First Folio. In einem Brief wandten sie sich direkt an die Leser in der Hoffnung, »dass ihr genügend finden werdet, was euch sowohl anzieht als auch fesselt: … Darum lest ihn, lest ihn wieder und wieder.« Ich kann mich nur anschließen.
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