Der Verlag rotopolpress verlegt Comics, die eines gemeinsam haben: eine revolutionäre Bildsprache. Kürzlich sind drei Werke aus dem Haus mit dem ICOM Independent Comic Preis ausgezeichnet worden, die zwischen Space-Opera, Spinnerei und Mythologie wandeln. Die Edda-Adaption »Heimdall« von Max Baitinger kriecht mit ihren immergleichen Bildern unter die Haut.
»Ich bin Heimdall. Ich sehe alles.« Klarer und prägnanter kann man einen Comic nicht beginnen, als es Max Baitinger in seinem Debüt Heimdall macht. Denn Heimdall, der Sohn Odins und Bruder Thors, ist ein Wächtergott. Er hat die besten Augen. Seine Aufgabe besteht darin, die Sonne zu beobachten und zu warten, dass der große Wolf die Sonne frisst. Wenn das geschieht, dann muss er in sein Horn blasen, um das Ende des Weltenlaufs kundzutun.
Mythologie-Experten kennen das aus der nordischen Edda-Legende. Allerdings datiert Baitingers düstere Adaption am Anfang allen Seins und nicht am Ende, so dass der Moment, in dem der Wolf die Sonne verschlingt, noch auf sich warten lässt. Heimdalls tagesfüllende Aufgabe wäre von einer seltsamen Eintönigkeit geprägt, wenn er nicht – auf dem Dach von Walhall sitzend – seinen Blick schweifen lassen würde. Und weil ihm nichts entgeht – Heimdall ist so etwas wie der Big Brother der nordischen Mythologie – hat er auch einiges zu reflektieren und zu erzählen.
Heimdall beobachtet die tapferen Kämpfer, die Einherjer, die sich ständig im Kampf üben und irgendwann als gefallene Helden nach Walhall einkehren. Er beobachtet den Lauf der Welt, den Menschen darin – die Natur bedrohend und von ihr bedroht – und dessen göttlich eingegebene Erhebung über die Wildnis. Der Oberbayer Max Baitinger versetzt die Leser in den Kopf seines ständig grübelnden Misanthropen, dessen göttliche Position mit seinen Zweifeln ins Wanken gerät. Die düsteren Zeichnungen erinnern an die Wandmalereien der Azteken, was eine weitere göttliche Dimension eröffnet. Aufgebrochen wird diese überhöhte Himmelsstürmerei immer wieder durch naive Piktogramm-Grafiken.
Gezeigt wird dennoch immer wieder derselbe Kreislauf: »Die Einherjer werden sich im Kampf üben. Dann werden sie Walhall betreten. All ihre Wunden werden verheilen. Sie werden den Met von Heidrun trinken. Sie werden das Fleisch von Sährimnir essen. Sie werden zusammen die Schöpfung preisen. Und nach dem Mahl ruhen. Die Einherjer werden aus Walhal treten. Und Odin wird sich am Waffenspiel erfreuen.«
In der scheinbaren Ruhe dieser auf den ersten Blick simpel bebilderten Minimalsätze liegt eine erschütternde Nervosität, die aus jeder Seite dieses schmalen und grafisch anspruchsvollen Bandes emporsteigt. Zwar könnten die immer gleichen visuellen Eindrücke Heimdalls beruhigen, würden sie nicht die Bedrohung durch Veränderung vor Augen führen. Denn wenn der Wächtergott nicht sähe, dass der Wolf die Sonne verschlingt, dann würde eine Schlange ihr Gift versprühen und die Katastrophe in der Welt der Einherjer beginnen. »Dann schwimmen sie nach Walhall. Und keine ihrer Wunden verheilt. Sie trinken keinen Met von Heidrun. Sie essen kein Fleisch von Sährimnir. Sie preisen weder die Schöpfung, noch ruhen sie nach dem Mahl. Die Einherjer schwimmen aus Walhall heraus. Und Odin erfreut sich keiner Waffenspiele.« Das Katastrophenszenario ist benannt: Nur wenn Heimdall sieht, wie der Wolf die Sonne verschlingt und in sein Horn bläst, beginnt Ragnarök, der göttlich geplante Weltuntergang, an dessen Ende die Sonne alles verbrennt und Odin die Welt neu erschaffen wird.