Jahrzehnte hat der US-amerikanische Autor George Saunders mit Kurzgeschichten seine Instrumente geschärft. Sein erster Roman »Lincoln im Bardo« ist eine literarische Sensation.
An dem Tag, an dem bekannt wurde, dass bei dem Sieg der Unionisten in Fort Donelson mehr Männer gefallen waren, als der Bürgerkrieg bis zu diesem Tag insgesamt gekostet hatte, wurde Willie Lincoln zu Grabe getragen. Der elfjährige Sohn von Präsident Abraham Lincoln starb am 21. Februar 1862 überraschend an einem von Typhus verursachten Fieberschub, während seine Eltern im Weißen Haus einen Staatsempfang abhielten. Vier Tage später wurde der Junge auf dem Oak Hill Cemetery in Georgetown in die marmorne Familiengruft zur Ruhe gebettet.
Abraham Lincoln soll, so verbürgen sich mehrere historische Zeugen, seinen geliebten Sohn nach der Bestattung in der Familiengrabstätte aufgesucht und dessen Nähe gesucht haben. »Lieber Junge, ich komme wieder. Das verspreche ich dir.« Mit diesen Worten wird die Rückkehr des Präsidenten ans Grab seines Sohnes in Saunders Roman angedeutet. Nächtelang soll Lincoln schließlich in der Gruft verschwunden sein, bis die Besuche von einem Tag auf den anderen aufhörten.
Was macht ein Vater bei seinem erkalteten Sohn? Welche Geister rief er an und welche kamen, ohne je gerufen worden zu sein? Was ist bei diesen Besuchen genau geschehen? All das sind Fragen, die George Saunders nie losließen und denen er nun in seinem ersten Roman nachgeht. Dafür lässt er die Toten wiederauferstehen und im Bardo – einer Art Zwischenreich, das der praktizierende Buddhist Saunders aus dem tibetanischen Buddhismus geklaut hat –den dramatischen Abschied von Vater und Sohn kommentieren.
Für diesen halb gruseligen, halb fantastischen Plot hat Saunders jahrzehntelang Details gesammelt, die Hinweise auf die mysteriösen Nächte des amerikanischen Präsidenten geben. Er habe »regalmeterweise Lincoln-Literatur gelesen, Zitate notiert, einen Zettelkasten angelegt«, schildert Frank Heibert, der bereits die Erzählungen des Amerikaners ins Deutsche übersetzt hat und nun mit dieser vielstimmigen Übertragung Großes geleistet hat, die Akribie seines Autors. Das scheint Saunders, der in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag feiert, auch etwas überfordert zu haben. Bei der Preisverleihung des Man-Booker-Preises, den er im vergangenen Jahr mit dem Roman gewann, sagte er, er hätte »lange Zeit nicht den richtigen Zugang zu diesem ernsthaften Material gehabt. Ein paar Mal habe ich es versucht, aber es hatte nie geklappt. Deshalb habe ich mir dann gesagt: Warte, bis Du genug Erfahrung im Leben hast, damit Du dem Material gerecht werden kannst.«
Erfahrungen hat Saunders inzwischen genug gesammelt. Seit Anfang der neunziger Jahre veröffentlicht er Erzählungen, unter anderem im Harper‘s Magazine oder der GQ. Für nicht wenige ist er ausgezeichnet worden. Mit seiner jüngsten Kurzgeschichtensammlung Zehnter Dezember hat er es bis ins Finale des National Book Award geschafft.
Sein umwerfendes Talent, Geschichten auf engem Raum zu erzählen, beweist er auch hier. Denn Lincoln im Bardo kommt nicht als gewöhnlicher Fließtext daher, sondern als Collage von historisch verbürgten Aussagen, dokumentierten Beobachtungen und erfundenen Kommentaren. Man könnte fast meinen, Saunders hätte seinen Zettelkasten nach seinen Recherchen in die Luft geworfen hat, um zu schauen, wie sich Zitate und Faktenschnipsel neu arrangieren. Aufdiese Weise bekommen über 160 verschiedene Figuren eine Bühne, die die Besuche des Präsidenten und das Ausharren des Sohnes kommentieren oder diesen motivieren wollen, aus der Zwischenwelt der Untoten in das ewige Reich einzuziehen.
Neugier, Empathie und die Reflektion der eigenen Situation stecken hinter der unablässigen Flut an Kommentaren der Bardo-Bewohner. Sie ziehen die Lesenden tief hinein in diese halb fantastische, halb gruselige Welt der Dunkelheit. Und das eine folgt sofort auf das andere. So heißt es etwa über Willie Lincoln nach dem ersten Besuch des Vaters: »Er war außer Atem, ihm zitterten die Hände, er hatte nach meiner Einschätzung etwa die Hälfte seines Körpergewichts verloren. Seine Wangenknochen standen vor; sein Hemdkragen hing ihm weit um den plötzlich stöckchendünnen Hals; unter seinen Augen waren Ringe erschienen, so dunkel wie Kohlstriche; all dies zusammen verlieh ihm eine sonderbare geisterhafte Erscheinung.« Beschreibung pur. Und kurz darauf das Einfühlungsvermögen und der Blick auf das eigene Schicksal im Zwischenreich: »Es ist in Ordnung, sagte Mr. Vollman freundlich. Wirklich. Wir sind da. Fahre in Frieden fort: Du hast uns reiche Hoffnungen geschenkt, von der wir viele Jahre zehren werden und die uns sehr guttut. Wir danken dir, wir wünschen dir das Beste und segnen deinen Weggang.«
Und nicht zuletzt ist dieser Roman ein vollkommen neuer Blick auf den legendären Präsidenten der Vereinigten Staaten. Lincoln ist in diesem Buch »abgezehrt, von eingegrabenen Zügen unsagbarer Traurigkeit gezeichnet, das Aussehen eines einsamen Mannes, einer Seele mit so tiefem Kummer, so tiefer Bitternis, das kein menschliches Mitgefühl je heranreichen könnte.« Diese Perspektive eröffnend ist Lincoln im Bardo ein einzigartiges Dokument des Menschlichen inmitten hochpolitischer Zeiten.
Eine kürzere Fassung dieses Textes ist in der Literaturbeilage der Galore Nr. 29 erschienen
[…] in einer neuen, postapokalyptischen Zeit spielt. Die Protagonisten befinden sich, ähnlich wie die Geister in Saunders Booker-Prize-Roman »Lincoln im Bardo«, in einer Art ewigem Limbo, aus dem es kein Entkommen gibt. Egal, ob sie sich moralisch gut oder […]
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